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MENSCH, DANKE, ONKEL OSKAR

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MEIN ONKEL OSKAR lebte vor vielen Jahren in Westberlin, und als ich 16 war, besuchte ich ihn zum ersten Mal. Wir gingen morgens um zehn in die Kantine des Blumengroßmarktes beim Checkpoint Charlie, und Onkel Oskar sagte:

»Was willst’n haben?«

»Kaffee«, sagte ich.

Onkel Oskar tippte mit dem Zeigefinger hinter sein rechtes Ohr, wo ein fleischfarbenes Hörgerät saß, und ich wiederholte laut: »Kaffee!«

Er nickte der Bedienung zu, die mittlerweile an unserem Tisch stand. Sie trug einen ärmellosen weißen Kittel, hatte dünne graue Locken und eine grob gefurchte, großporige Gesichtshaut. Sie notierte. Was Onkel Oskar für sich selbst wünschte, wusste sie offenbar, denn er sagte und sie fragte nichts. (Dennoch war ich sicher, dass sie eine heisere, überanstrengte Stimme hatte.) Als sie sich umdrehte, fasste Onkel Oskar, ohne sie anzusehen, rasch ihr Handgelenk und sagte zu mir:

»Willste was essen?«

Ich überlegte.

»Iss mal was!« Er sah wieder zu der Bedienung hoch und sagte: »Bringste ihm mal Eier mit Schinken!«

Dann schwiegen wir. Es war mühsam, mit Onkel Oskar zu reden, er war wirklich sehr schwerhörig. Sein Blick war oft in die Ferne gerichtet, und wenn man etwas zu ihm sagte, war es, als ob man ihn erst weckte. Immer musste man wiederholen, einmal, zweimal.

Ich betrachtete die kleinen Biere auf den Tischen nebenan und dachte, dass es nebenan in der Markthalle sicher einen Obststand gäbe, und dass Onkel Oskar dort bestimmt immer Bananen gekauft hatte, natürlich, wo denn sonst?

Mein Onkel Oskar hieß in unserer Familie »der Bananen-Onkel«. Er besuchte uns in der kleinen Stadt 200 Kilometer von Westberlin alle paar Jahre einmal, immer unverhofft und ohne jede Anmeldung. Dann stand er vor der Tür und sagte: »Tach.« Wir sagten: »Ach, Onkel Oskar«, und bekamen die Bananen mit den Worten: »Da ist was für euch, ’n paar Bananen.« Später, wenn kein Erwachsener guckte, drückte er mir immer hastig zehn Mark in die Hand und sagte: »Steck ein.«

»Mensch, danke, Onkel Oskar.«

»Steck weg!«

Wir wussten nie genau, wie er gekommen war. Es hieß oft, er sei getrampt, eine Reiseform, die auf der Skala der Unvorstellbarkeiten in unserer Familie denselben Platz einnahm wie ein Ufo-Flug.

Getrampt? Onkel Oskar war, seit ich ihn kannte, immer mindestens 75 gewesen.

Er fahre mit irgendwelchen Lastwagen von Berlin hierher, steige an der Autobahnabfahrt aus und komme dann zu uns, sagte mein Vater. Zu Fuß? Mit dem Taxi? Keine Ahnung. Er hätte auch vom Himmel heruntersteigen oder aus dem Erdboden wachsen können, und heute bin ich ziemlich sicher, dass er genau das tat.

Einmal vergaß er seine Brieftasche auf dem Küchentisch, als er aufs Klo ging, und hinterher wusste man, dass sie dick gewesen war und voller Geldscheine. Das sicherte ihm den Respekt der Erwachsenen, aber das Unverständnis für seine Schrulligkeiten vergrößerte es auch. Hätte er doch auch mit der Bahn fahren können! Am Geld konnte es nicht liegen mit der Tramperei! Woher er es wohl hatte?

»Er ist ein Filou«, sagte mein Vater. Verkaufe vielleicht Blumen an Berliner Straßenecken. Oder so was eben.

Ich besuchte Onkel Oskar in Berlin, sobald man mich allein von daheim wegfahren ließ, und ein halbes Jahr später besuchte ich ihn wieder und dann alle paar Wochen. Anfangs fuhr ich, sobald ich genug Geld gespart hatte, mit dem Interzonenzug. Später bin ich getrampt, jedenfalls auf der Rückfahrt. Onkel Oskar brachte mich zum Großmarkt, ging mit mir zu einem Lastwagenfahrer, und der nahm mich mit. Einmal sah ich, wie mein Onkel ihm hastig 20 Mark zusteckte, und hörte, wie er sagte:

»Pass bisschen auf den auf!«

Wenn er verreiste, um uns zu besuchen, war mein Onkel gut gekleidet. Er trug dicke wollene Anzüge mit Weste, schwarze, hoch geschnürte Stiefel und Krawatte. In der Westentasche hatte er eine alte Taschenuhr mit einem Deckel, der bei Knopfdruck aufsprang. Wenn er uns nicht besuchte, also fast immer, sah er anders aus: kein Anzug, keine Krawatte, statt dessen ein hellblauer, verwaschener Kittel um seinen langen, hageren Körper, ob im Garten oder in seiner Wohnung.

Nur ein paar Meter vom Großmarkt entfernt hatte er einen Kleingarten, noch näher am Checkpoint Charlie gelegen als die Markthalle, an einer Stelle mitten in Gesamtberlin, an der heute keine Gärten mehr denkbar sind. Dort stand ein hölzernes grünes Gartenhaus, in dem sogar Platz für einen Tisch und ein Sofa war, und wenn die Sonne schien, saß mein Onkel Oskar vor diesem Häuschen auf einer schmalen Holzbank und sah aus, als ob Walter Trier ihn gezeichnet hätte, der Illustrator von Erich Kästners Kinderbüchern: ein alter, weißhaariger Mann (mein Onkel, nicht Walter Trier) mit einer runden Nickelbrille und einem gelben Strohhut und einem Kittel. Ich setzte mich dann neben ihn, blinzelte in die Sonne, sah hinüber zum Großmarkt und dachte an Spiegeleier mit Schinken und an Kaffee.

Seine Wohnung lag auch in Kreuzberg, einige Straßenzüge weiter, ganz in der Nähe der Möckernbrücke. Man ging durch den Torbogen eines alten Hauses, dessen Wände grau und rissig waren, und überquerte auf einem Plattenweg einen sandigen, kahlen Hinterhof, der, ohnehin ringsum von hohen Mauern umgeben, durch eine riesige Kastanie gänzlich verschattet wurde. Da standen immer alte Fahrräder, und über eine hölzerne Treppe gelangte man in den zweiten Stock zu meinem Onkel.

Wenn ich kam, schaltete er zuerst den Fernseher ab, der tonlos lief, dann nestelte er am Ohr, um sein Hörgerät anzuknipsen. Onkel Oskar lebte zu Hause in gründlicher Schallisolierung – die Gründe dafür verstand ich erst später. (Übrigens war es dadurch kompliziert, in die Wohnung zu gelangen. Meistens hämmerte ich gegen die Tür, bis mich die Nachbarn hörten, die einen Schlüssel hatten. Sie sperrten seine Wohnung auf und ließen mich ein. Ich tippte dem Onkel dann sanft auf die Schulter. Überrascht oder erschrocken war er nie.)

Es roch in seinem Wohnzimmer, das voll war mit Sofa, Sesseln, Schränken, Tischen, immer nach Orangen. Das lag daran, dass er auf den Heizkörpern deren Schalen trocknete, dichte Schichten von Orangenschalen, die langsam in sich zusammenschnurzelten und eine fahle Färbung bekamen – weiß der Himmel, was er damit machte und wann er all diese Orangen aß. Bananenschalen sah ich nie. Ich glaube, er mochte selbst keine Bananen.

Stundenlang saß Onkel Oskar in einem Sessel und schaute an die Wand, auf einen Schrank, in die Luft. Ich nahm mir eine Zeitung von den vielen Papierstapeln, die uns umgaben. Haufen von uralten, gelben Zeitungen, deren Papier staubig und ledrig geworden war, und in denen noch von der Berlinblockade berichtet wurde, und das Anfang der Siebzigerjahre. So saßen wir und schwiegen.

Manchmal stand plötzlich eine Frau im Zimmer, Anfang 40, mit kurzen schwarzen Haaren, einer billigen Hornbrille und einem dunkelroten, weiten Umhängemantel. Stumm machte sie jedesmal einige Schritte in das Zimmer hinein, entschlossene, zielgerichtete Schritte auf meinen Onkel zu . . . dann drehte sie auf dem Absatz um und verschwand so lautlos, wie sie gekommen war. Mein Onkel beachtete sie nicht. Ich ahnte, dass es sich um seine Tochter handelte. Ich wusste, dass seine Frau seit Langem tot war, dass er aber diese Tochter hatte, die irgendwo in Berlin in einem Pflegeheim lebte, weil sie den Krieg nicht ohne Geistesverwirrung überstanden hatte. Niemand wusste genau, weshalb das so war, am wenigsten ich. Aber ich saß da im Sessel und las die alten Zeitungen und sah diese rote Frau und versank in Geschichten vom Ende des Krieges in Berlin, die mir ein Lastwagenfahrer auf der Transitautobahn erzählt hatte. Die grauenhafteste dieser Geschichten handelte von einer Nazigröße in Karlshorst, weit im Osten der Stadt: Als der Krieg fast vorbei war und die Russen den Stadtteil besetzten, hätten, so erzählte der Fahrer, jener Mann und seine Frau gemeinsam Selbstmord begehen wollen – die sowjetischen Soldaten standen schon im Treppenhaus. Zuerst habe das Ehepaar aber seine fünfzehnjährige Tochter erschossen, und dann sei es plötzlich unfähig gewesen, sich selbst zu richten. So seien die beiden, verrückt vor Angst neben der sterbenden Tochter hockend, den Soldaten in die Hände gefallen.

Irgendwann in solchen Geschichten (oder waren es Träume?) zupfte mich mein Onkel am Ärmel und sagte:

»Ick zeig’ dir mal was.« (Er war kein geborener Berliner, er hatte vom Berlinischen nur dieses »Ick« übernommen, sprach sonst klares Hochdeutsch, nur dieses »Ick« benutzte er. Kein »Wat«, kein »Gar nischt«, aber »Ick«.)

Ich legte den schon in Auflösung befindlichen »Tagesspiegel« vom Januar 1956, der auf mein Gesicht gesunken war, beiseite und folgte meinem Onkel. Er öffnete den rechten Flügel der hohen Doppeltür zum Nebenzimmer, das ich vorher nie betreten hatte. Warum auch? Ich hatte es für sein Schlafzimmer gehalten. Das war es aber nicht.

Die hohen Wände dieses Raumes waren bis unter die Decke bedeckt von dunklen Holzregalen, in denen dicht gepackt und gestapelt längliche, einzeln in Zeitungspapier gewickelte Gegenstände lagen, teilweise so lang, dass sie über die Regalbretter hinaus in den Raum ragten. In der Mitte des Zimmers befand sich ein großer, niedriger Eichentisch, vielleicht zwei mal vier Meter groß. Um diesen Tisch herum standen auf dem Boden Hunderte von roten Säckchen, solche, in denen normalerweise Orangen abgepackt werden, weiche Plastiknetze, die man mit einem Griff zerreißen kann, um an die Orangen heranzukommen.

Diese Säckchen waren nicht zerrissen, aber es waren auch keine Orangen mehr darin. Sie alle enthielten Buchstaben, fingerlange, schwere, gusseiserne Buchstaben, jeder so dick wie ein Leibniz-Keks. Auf dem Tisch sah ich, zwei Meter hoch, ein silbern glänzendes Ungetüm, das die gesamte Tischfläche in Anspruch nahm. Zwischen den massiven, schweren Metallstreben, die es oben und unten sowie an den Seiten begrenzten und die zu einem Kubus verschraubt waren, hingen dicke und weniger dicke, gerade und leicht gebogene Röhren, ein verzweigtes Labyrinth, dessen Eingang offenbar ein großer Plastiktrichter war, der oben auf dem Apparat in einer offenen Röhre steckte, und dessen Ausgang ich in einem armdicken, geriffelten Kunststoffschlauch vermutete. Er endete in einem weiß emaillierten Eimer auf der linken Seite des Tisches.

»Pass auf!«, sagte mein Onkel Oskar. Er griff sich eines der Säckchen auf dem Boden, schnürte es mit geübten Bewegungen sorgfältig auf, kletterte auf eine kleine Trittleiter neben dem Tisch und schüttete alle Buchstaben in den Trichter. Die Maschine begann sofort, ohne dass mein Onkel einen Schalter berührt hätte, im surrenden Ton einer Kaffeemühle zu arbeiten. Das dauerte ungefähr eine Minute. Dann ertönte aus dem Eimer neben dem Tisch ein hohles »Klock«, darauf mehrere Male, leiser und nicht ganz so hohl, ein »Klack«. Mein Onkel bückte sich und griff in den Eimer. Er hatte mehrere Buchstaben in der Hand, die zu einer Folge verschweißt waren.

»Virkkuukoukku«, stand da. Ich sah erst das Wort, dann meinen Onkel fragend an.

»Das heißt ›Häkelnadel‹. Ich hab’ sie noch auf Finnisch eingestellt«, sagte mein Onkel. Er nahm ein zweites Säckchen und schüttete den Inhalt wieder in den Trichter. Ich sah, dass im Eimer lauter einzelne Buchstaben lagen, die der Apparat für »Virkkuukoukku« nicht gebraucht hatte. Er arbeitete schon wieder, schnurrte, surrte, summte – klock, klackklackklack . . .

»Lätäkkö.«

Mein Onkel schüttelten den Kopf. »Pfütze«, sagte er. Noch ein Säckchen.

»Kansallisuustunnus.«

»Nationalitätenkennzeichen«, sagte mein Onkel. »Komische Worte macht sie heute. Was soll das?«

Noch ein Säckchen.

»Denkt sie sich die Worte selbst aus?«, fragte ich.

»Ja«, sagte mein Onkel Oskar, »und immer nur einzelne Worte. Ick sammle sie und lege sie ins Regal.« Er nahm Virkkuukoukku, Lätäkkö und Kansallisuustunnus und wickelte sie einzeln in Zeitungspapier.

»Hast du das gebaut?«, fragte ich.

»Fünfzehn Jahre lang.« Er seufzte. »Meine Buchstabiermaschine. Sie macht aus Buchstaben Worte, und ick will aus den Worten irgendwann mal eine Geschichte machen. Weiß nicht, ob ick das noch schaffe. Ein finnisches Märchen vielleicht. Aber ick habe ja keinen Einfluss darauf, welche Worte sie macht.« Er sah nachdenklich seine Regale an. »Sie passen nicht zueinander. Häkelnadel, Pfütze und Nationalitätenkennzeichen – wie soll man daraus ein Märchen machen? Das reicht ja nicht mal für ein modernes Gedicht.«

Klock – klackklackklack . . .

»Tyytymättömyys.«

»Unzufriedenheit«, sagte mein Onkel. »Merkwürdig, trifft genau das, was ick gesagt habe. Es klingt so schön: Tyytymättömyys. Und sieht schön aus. Finnisch klingt schön und sieht noch besser aus.«

Ich hatte noch nie erlebt, dass er so viel redete. Aus der linken Tasche seines Kittels fingerte er einen kleinen Schraubenzieher. »Ick stell sie jetzt mal auf Ungarisch um.« Er kroch mit dem Oberkörper halb in den Apparat hinein, bog sich unter Röhren hindurch und drehte an Schrauben, die ich nicht sehen konnte. Als er wieder neben mir stand, nahm er ein Säckchen von einer anderen Ecke unter dem Tisch und schüttete den Inhalt wieder in den Trichter. »Für Ungarisch kann man fast dasselbe Buchstabensortiment nehmen«, sagte er.

»Und warum ausgerechnet Ungarisch?«, fragte ich. Dass er Finnisch konnte, hatte ich gewusst. Er hatte dort nach dem Krieg viele Jahre gelebt, wenn auch niemand wusste, wie und wovon. »Hat sich durchgeschlagen, als Holzfäller wahrscheinlich«, mutmaßte mein Vater immer.

Klock – klackklackklack . . .

»Wahnsinn«, flüsterte ich. Mein Onkel zog einen armlangen Begriff aus dem Eimer.

»Pénzbedobós távbeszélökészülék.«

Wir standen stumm da und betrachteten die Worte. »Es heißt ›Münzfernsprecher‹«, flüsterte mein Onkel. »Verstehst du jetzt? Nur das Ungarische hat solche Begriffe. Und das Walisische natürlich. Aber walisische Worte passen nicht mehr durch die Windungen der Röhren, so lang sind sie. Dafür müsste die Maschine doppelt so groß sein oder die Buchstaben kleiner.«

Er schüttete Säckchen auf Säckchen in den Trichter.

»Öblök.«

»Die Buchten«, sagte mein Onkel.

»Öklök.«

»Die Fäuste.«

»Ötvösök.«

»Die Goldschmiede. Sie macht nur noch Pluralformen«, sagte mein Onkel. »bloß noch Plurale. Weiß der Himmel, warum! Ick hätte gern eine Geschichte über die Einsamkeit einer alten Frau mitten in Budapest gemacht. Was soll ick mit dem ganzen Pluralzeugs?«

»Ördögök.«

»Die Teufel.« Irgendwo in der Maschine knirschte es, und ein rotes Lämpchen begann zu blinken. Mein Onkel griff hastig nach einem Säckchen, das unter dem Tisch lag. »Das kommt davon«, schimpfte er, »natürlich sind zu wenig Umlaute in dem Säckchen. Wenn sie aber auch nur noch Plurale macht, immer -ök, -ök hinten dran an die Worte, da reichen natürlich die Umlaute nicht.« Er schüttete einen ganzen Haufen Ös in den Trichter. Das Knirschen hörte auf, das Lämpchen erlosch. Der Geruch von heißem Metall hing in der Luft.

»Örület!«, murmelte ich. Mein Onkel schaute mich verwundert an.

»Kannst du Ungarisch?«, fragte er.

»Nein . . . nein«, sagte ich, »ich weiß nicht . . . ich weiß nicht, woher das jetzt kam. Was heißt es denn?«

»Wahnsinn!«, sagte mein Onkel. Er schraubte schon wieder irgendwo in der Maschine herum, nahm dann den weißen Eimer und schüttete die einzelnen Buchstaben darin, die für die bisherigen Worte nicht verbraucht worden waren, in den Trichter. »Ick will nicht, dass etwas umkommt«, sagte er, »alles soll verwertet werden.«

»Warum hast du das Ding gebaut?«, fragte ich.

Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich doch, weil ick Worte so mag. Ick kann stundenlang dasitzen und mir ein Wort ansehen. Es ist blöd, aber es ist nun mal so. Ick erzähle es ja auch niemand, halten einen ja alle für verrückt. Nur du weißt es jetzt. Ick hab’s dir erzählt, weil du einer bist, der auch die Klappe halten kann.«

»Broileri«, klockerte in den Eimer.

»DDR-Deutsch kann sie?«, fragte ich verblüfft.

»Das ist wieder Finnisch«, sagte Onkel Oskar, »aber ›Hähnchen‹ heißt es auch.«

Es klockte und klackte ununterbrochen, lauter Worte mit einfachen Vokalen jetzt, Resteverwertung. »Pappi« sei der Pfarrer, erklärte mein Onkel, »Tutti« der Schnuller, »Banaani« die Banane, alles Finnisch.

Ich besuchte ihn von nun an, so oft ich konnte. Wenn ich kam, gingen wir jetzt stets sofort in das Zimmer mit der Buchstabiermaschine und ließen sie surren und schnurren und lagen davor auf dem Boden und kicherten über die Worte. Sobald mein Onkel dieses Zimmer betrat und anfing, an seiner Maschine zu schrauben und zu wienern und sie in Betrieb zu nehmen, war er nicht mehr schweigsam und wortkarg, und nie schaute er abwesend in die Ferne. Er hörte gut, und manchmal schaute er mich lachend an und klopfte mir fest auf die Schulter. Es musste mit den Worten zusammenhängen, eine andere Erklärung wusste ich nicht.

Wenn wir bei schönem Wetter zusammen in seinen Garten hinübergingen, schenkte er Kindern auf der Straße kleine Worte. Manche steckten sie ein, andere sagten, von fremden Männern dürften sie keine Worte nehmen. Seine Tochter kam immer noch, aber nie betrat sie das Zimmer mit der Buchstabiermaschine, und nie redete sie. Einmal sah ich durch den Türspalt, wie mein Onkel sie auf dem Flur lange und still umarmte. Ein andermal, später, als wir uns wochenlang nicht gesehen hatten, erzählte er mir, er sei in der Schweiz gewesen und zeigte Bilder vom Matterhorn, murmelte immerzu das Wort »Chuchichäschtli« vor sich hin und wollte, dass die Buchstabiermaschine auch schwyzerdütsche Worte machte.

Sächsisch konnte sie schon, und ich lernte, dass es ein schöneres Sächsisch gab als das hochnäsige Marienborner Vopo-Sächsisch, das mir von meinen Transitfahrten in den Ohren klang. »Morchngonzärrd« klockte heraus und »Babbgardong, Gwargguchn, Rodgohl, Zebbelin, Gamelhaarmandl«. Mein Onkel kam gar nicht nach, so oft blinkte die rote Lampe, und so viele Bertas und Doras und Gasimiers musste er oben in den Trichter nachfüllen. »Bluddurschd hat sie«, sagte er dann.

Wenn er ganz tief in den Apparat hineinkroch und lange an den verschiedensten Schrauben drehte, spuckte der Schlauch Tiernamen in den Eimer:

»Blaulappenhokko, Halsbandschnäpper, Odinshühnchen, Spießflughuhn, Langschnabelbrillenvogel,

Rallenreiher, Gelbkopfgeier,

Kanaren-Schmätzer, Kabylen-Kleiber,

Schwarzstirnwürger, Langschwanzdracke, Rübenschwanzgecko, Achtzehnfleckiger Ohneschild-Prachtkäfer, Linienhalsiger Zahnflügelprachtkäfer, Veränderlicher Edelschnarrkäfer, Zottiger Bienenkäfer,

Furchenlippige Kerbameise,

Schwarze Hochglanzeule, Eichen-Nulleneule, Standfuß’ Zackenbindeneule,

Zürgelbaum-Schnauzenfalter,

Quenselis Alpenbär.«

Sie hörte überhaupt nicht mehr auf. Mein Onkel sagte, man müsse sparsam sein mit Worten und jedes einzelne genießen. »Ick will Respekt haben vor jedem Wort«, sagte er, »und ick will es mir genau anschauen.« Aber dann saßen wir doch da und fraßen Worte und hatten am Ende so ein Das-hättest-du-nicht-tun-sollen-Gefühl von Reue und Fettheit. »Sie ist gefährlich«, sagte Onkel Oskar, »sie hört nicht mehr auf mit den Worten. Man muss aufpassen, sonst überschwemmt sie alles.«

Ein paar Tage später ließ er trotzdem Pflanzennamen ausspucken, und es war wieder dasselbe. Wir trugen Säckchen um Säckchen die Stehleiter hinauf und konnten nicht genug bekommen: »Zarter Gauchheil, Breitblättriger Stinkstrauch, Warziger Tragant, Gewöhnliche Brillenschote, Langstrahliges Laserkraut, Großfrüchtiger Kohl, Drüsige Zwergfetthenne, Zottige Fahnenwicke, Starknerviges Gliedkraut, Johnstons Schnabelsenf . . .«

Es war zum Wortekotzen, so übel war uns am Abend! Gab es solche Pflanzen wirklich? Hatte ich Johnstons Schnabelsenf nicht schon mal im Regal des Supermarktes gesehen?

»Sie erfindet nie etwas«, sagte mein Onkel, »für jedes Wort gibt es irgendwo auch einen Gegenstand.« Würden diese Pflanzen einmal aussterben, so selten wie sie sich anhörten? So herrliche Namen, und sie würden nichts mehr bezeichnen und müssten ebenfalls verschwinden!

Es klingelte.

»Hat es geklingelt?«, fragte Onkel Oskar. Er verließ das Zimmer, um zu öffnen. Ich hörte Stimmen auf dem Flur, die meines Onkels und die zweier Männer.

»Wollen Sie schon wieder mehr?«, fragte mein Onkel.

»Natürlich, so viel wie möglich«, sagte einer der beiden.

»Können Sie uns nicht schnell was machen? Mindestens acht Worte, für einen Autoprospekt. Es ist eilig.«

»Ick will das nicht mehr«, sagte mein Onkel, »ick will nicht so viele Worte machen.«

»Fangen Sie nicht wieder damit an«, sagte der zweite Mann, »was Sie letztes Mal geliefert haben, war doch wunderbar, hat hundertpro gepasst. Wissen Sie noch, die Gebrauchsanweisung für den neuen Turboladerstaubsauger? Entriegelungszunge, Sicherheitsarretierung, Rastnase, Ausblasöffnung, Gebläseflansch . . . war alles super.«

»Schlucksaugeranschluss . . .«, seufzte mein Onkel.

»Wie bitte?«

»Schlucksaugeranschluss war das schönste Wort.«

»Ja, gut, und jetzt brauchen wir mehr«, sagte der zweite Mann. »Zuerst für diesen Autoprospekt, und dann steht die Sportartikelmesse vor der Tür – die haben dauernd neue Geräte und brauchen Worte dafür«, sagte der erste Mann.

»Ganzkörpertrainingsgerät neulich – haben Sie wunderbar gemacht«, warf der Zweite ein.

»Es gibt neue Werbefilme für Schokolinsen, und der Bundestagswahlkampf steht vor der Tür. Wir brauchen nicht bloß ein paar Worte, wir brauchen Geschwätz, Mann, säckeweise. Mit diesen homöopathischen Dosen kommen wir nicht weiter«, sagte der Erste.

»Es gibt genug Worte«, sagte mein Onkel, »es werden zu viele. Nur noch ein paar brauche ick, damit ick endlich eine Geschichte erfinden kann, dann ist Schluss.«

»Wir zahlen gut«, sagte der erste Mann, »das wissen Sie doch.«

»Ick will kein Geld mehr«, sagte Onkel Oskar.

»Denken Sie an Ihre Tochter, an die Pflegekosten«, sagte der zweite Mann, »oder geben Sie uns endlich die Maschine, dann schwimmen Sie im Geld. Wir geben es Ihnen.«

»Nie«, rief mein Onkel, »niemals!«

»Sie sind ein alter Mann! Was wollen Sie mit so vielen Worten? Wir holen uns den Apparat! Eines Tages holen wir ihn uns einfach!«

»Geben Sie doch Ruhe!«, sagte mein Onkel. »Warten Sie! Ick hole etwas.«

Er senkte den Kopf und kam langsam wieder in das Zimmer mit der Buchstabiermaschine. Er sah mich nicht an, dreht an zwei kleinen Schrauben und schüttete zehn Säckchen mit Buchstaben in den Trichter. In den Eimer klockerten lange Worte. »Heckspoiler«, las ich, »Fächerauspuffkrümmer, Hinterachsöltemperatur, Ölkühlertrockensumpfschmierung, Absolutdruckladeregelung, Hinterachsquersperre, Magnesiumhohlspeichenrad, Gusskolbenquetschkante, Peitschenantenne, gewichtsoptimiertes Speichendesign.«

Mein Onkel nahm wortlos die Worte unter den Arm, ging hinaus, gab sie den Männern und sagte: »Hier, zwei mehr, als Sie wollten. Und nun gehen Sie und lassen Sie mich!«

»Niemals!«, sagten die Männer wie aus einem Mund. Sie gaben Onkel Oskar ein Bündel Geldscheine, das er in seiner Kitteltasche verschwinden ließ. Er schob sie zur Tür hinaus. Dann kehrte er zurück. Er sah mich noch immer nicht an, sondern polierte mit einem weichen Lappen sorgsam die Rohre seiner Maschine.

»Du verkaufst Worte?«, sagte ich.

Er polierte weiter.

»Ick muss es tun«, sagte er schließlich. »Ick brauche Geld. Du hast es ja gehört, wegen meiner Tochter. Und sie brauchen Worte. Sie bauen dauernd neue Autos oder machen Parfüms oder Waschmittel, aber sie haben immer zu wenig Worte und wollen ständig neue. Die holen sie bei mir. Sie wissen seit einiger Zeit von der Maschine, irgendwie wussten sie es, ick weiß nicht, woher. Ick hörte die Worte dann irgendwann wieder, im Fernsehen zum Beispiel. Deshalb stelle ick immer den Ton ab. Es ist mir zu viel, und ick bereue es.«

Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit dem Lappen, den er noch in der Hand hatte. »Zeitungen nehme ick nur noch zum Worte-Einwickeln«, sagte er, »es ist fast dasselbe wie mit dem Fernsehen.« Er setzte die Brille wieder auf.

»Geh mal jetzt«, sagte er leise.

Drei Tage später lag er im Krankenhaus, in einem Bett auf einem Flur, bleich und matt. Ein Arm war gelähmt. Der Schlaganfall sei gar nicht so schlimm, aber er habe beschlossen zu sterben, sagten die Ärzte.

»Mit mir ist es aus«, sagte er selbst. Er schob mir ein kleines Paket zu, etwas Schmales, in Zeitungspapier Gewickeltes.

»Hier«, sagte er, »steck ein.«

»Mensch, danke, Onkel Oskar.«

»Steck weg!«

Er sprach mühsam, den Blick starr in die Luft gerichtet. »Ick wollte . . . sie zerschlagen, alles . . . kaputt hauen . . . ging nicht mehr. Wahrscheinlich . . . haben sie sie schon.« Er drehte den Kopf langsam zu mir und schaute mich lange an. »Verstehste?«

Ich hastete in seine Wohnung. Die Tür war offen, das Zimmer, in dem die Maschine gestanden hatte, leer. Zeitungspapier lag herum, dazwischen ein paar zerbrochene Worte. Ich ging wieder in den Hof. Das Päckchen, das er mir gegeben hatte, steckte in meiner Manteltasche. Ich wickelte das Wort, das darin war, langsam aus, ein nicht sehr langes, gußeisernes, schwer in der Hand liegendes Wort.

»Kurzschröter.«

Keine Ahnung, was das war. Ein Tier? Eine Pflanze?

Seine Tochter stand unter der Kastanie. Ich drückte ihr das Wort in die Hand. Wir gingen zusammen durch den Torbogen des Vorderhauses. Ich holte tief Luft und brüllte:

»Kurzschröter!!!!«

Dann blickte ich nach unten auf die Straße. Die Worte standen schon knöchelhoch.

Nächte mit Bosch

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