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Vitello Tornado – oder: Vorspeisen und kleine Gerichte

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Oberst von Huhn bittet zunächst in München zu Tisch, in einem Lokal in der Frauenstraße, wo Frau S. aus Martinsried unter den Vorspeisen ein »Thunfischfilet auf Frisbeesalat« entdeckte, eine weltweit vermutlich einzigartige Spezialität. Eine Alternative wäre, was Leser H. mir aus Oberursel schickte, gefunden in einem dortigen Lokal: »Vitello Tornado«. Hinreißend der Beitrag von Herrn R. aus Wasserburg am Bodensee, der auf La Palma »Suppe von des Kükens Erbse« aß, wobei ihn besonders der korrekt zubereitete Genitiv entzückte, der ist ja selbst in Deutschland heutzutage kaum noch zu bekommen.

Und damit beginnen wir erst ein Menü, wie es den Sprachfreund entzückt; man fragt sich schon gar nicht mehr, was denn die Erbse eines Kükens überhaupt sein soll, man bestellt einfach wegen dieses schönen Wesfalls – wie man ja auch in jenem Lokal in Barr/Bas-Rhin im Elsass, das Herr B. aus Konstanz vor Jahren besuchte, kaum an dieser Speise vorbeikommt: »Überbackener Oberbegriff für Schalen- und Krustentiere«.

So etwas liebt der Sprach-Gourmet. Überbackene Oberbegriffe! Geröstete Substantive! Ein Soufflé von Verben! Pochierte Präpositionen!

Und wie entzückt es uns, wenn wir ganz nebenbei einmal ein Wort entdecken, das die Sache, um die es geht, viel besser trifft als der vom Koch (oder in diesem Fall der Fast-Food-Firma) gewählte Begriff. Frau G. aus Starnberg zum Beispiel fand bei McDonald’s auf Mallorca einmal das Angebot von »Huhnklumpen«, welche sich als Chicken McNuggets entpuppten – doch wer je vor einer Schale Hühnernuggets saß, der weiß, welches Wort das bessere ist. Übrigens entdeckte dieselbe Leserin in Ungarn auf mehreren Speisekarten »Drahthuhn«, das sich dann als »Truthahn« entpuppte. In diesem Fall hofft man einfach, dass »Drahthuhn« nichts Treffendes hatte, wer mag schon drahtige Hühner, oder waren es Käfigtiere? Handelte es sich gar um jene Wesen, die ich auf einer amerikanischen Speisekarte fand, im »Caesar Salad mit Vergitterten Hühner 9$: Der frische Römische Salat mit dem vergitterten Huhnbrust, shredded Parmesan-Käse rollte in dem sahnigen Ankleiden von Caesar und überstiegen mit Croutons«?

Jedenfalls, wenn wir gerade bei Hühnern sind: Leser B. erwähnt in einer Mail, es habe in Budapest einmal »gebügeltes Hühnchen« gegeben – und bei dieser Gelegenheit findet man es plötzlich fast seltsam, dass unter all den Innovationen, die Jahr für Jahr unsere Küchen heimsuchen, noch nie die Idee war, ein Bügeleisen zur Zubereitung einer Mahlzeit zu verwenden. Mag sein, dass es beim Hühnchen nicht einmal sooo naheliegt, es zu bügeln, aber ein Kotelett zum Beispiel…?

Als kleines Zwischengericht biete ich »Gefühlten Hühnersack« an, Leser G. brachte ihn aus Kutná Hora/Tschechien mit.

Hier lässt sich übrigens ein Trend beobachten: Überall auf der Welt werden auf Deutsch gefühlte Gerichte angeboten. Herr H. aus Oldenburg brachte von einer Radtour durch die slowenische Provinz »gefühlte Tintenfische« mit, Frau L. verspeiste in der Tumblinger Straße in München »gefühlte Tomaten«, die Regensburger Leserin D. las in Fazana/Kroatien von »gefühlten Halchfleisch-Snitzeln«, aß sie aber doch nicht, im Gegensatz zu Frau T. aus Hannover, die in Monschau bei Aachen »gefühlte Paprikaschoten« verzehrte. Ein Münchner Italiener in der Tegernseer Landstraße schließlich bot Frau K. und allen anderen Gästen »gefühlte involtini« an.

Wie kommt das? Wir leben ja in gefühligen Zeiten, man redet von gefühlter Inflation und gefühlten Temperaturen, überall bekennt man sich zu seinen Gefühlen – liegt es daran? Und was ist letztlich ein gefühlter Hühnersack, zum Beispiel? Haben wir es dann gar nicht mit einem Hühnersack zu tun, sondern mit etwas anderem, das wir nur als Hühnersack empfinden? Kann man uns etwas, das kein Hühnersack ist, als Hühnersack servieren, weil wir fühlen, dass es ein Hühnersack ist? Oder sein könnte?


Das sind im Letzten doch sehr tief gehende Fragen.

Es könnte aber auch alles viel banaler sein, nur ein Schreibfehler, und man wollte »befühlt« sagen, also: dass der Koch die Hühnersäcke, Tintenfische, Tomaten, Paprikaschoten, Involtini und das Halchfleisch sorgfältig befühlt habe, bevor er sie zubereitete.

Jedenfalls erinnert mich das Ganze an das Foto eines mit Kreide beschriebenen Schildes vor einer Bäckerei, das man mir mal schickte. Dort stand: »Das bewußte Frühstück-Brötchen Mit weniger Fett – Fett reduzierter Wurst u. Käse«.

Hier sind es nun nicht mehr wir, die etwas fühlen, hier ist es ein Brötchen, das über Bewusstsein verfügt. Aber wer, um Himmels willen, brächte es fertig, ein »bewußtes Brötchen« zu essen?! Hier geht es doch nicht mehr um ein »gefühltes Brötchen«, also um etwas, das wir – mag es nun ein Brötchen sein oder nicht – jedenfalls doch als Brötchen sehen. Hier ist es das Brötchen, das über ein Bewusstsein seiner selbst verfügt, sich also persönlich als Brötchen empfindet – und zwar noch im Zustand seines Brötchenseins. Das ist etwas anderes, als einen Kalbsbraten zu essen, der einmal ein Kalb war. Hier nehmen wir quasi ein noch lebendes Wesen zu uns.

Vor vielen Jahren wurden übrigens in einem Lebensmittelgeschäft in dem italienischen Dorf, in das ich regelmäßig fahre, »beleckte Brötchen« angeboten, das muss man sich einmal vorstellen: dass ein bewusstes Brötchen vor dem Verkauf nicht nur von Lebens mittelhändler fingern befühlt, sondern auch von einer Lebensmittelhändlerzunge beleckt wird!

Herr G. aus Bachern war vor Jahren in Bardolino am Gardasee. Überall im Hafen sah er Hinweisschilder, das Anlegen von Booten sei verboten. Einmal las er aber auch eine zusätzliche Mahnung: »Ungenehmigt parkende Boote werden abgeschlegt.«

Eigentlich nett, fand G., dass man sein Boot nur ohne Erlaubnis anlegen müsse, um es nach einem kleinen Spaziergang komplett abgeschlegt wiederzufinden. Aber seltsam doch andererseits, wozu italienische Zungen fähig und bereit sind …

Noch einige weitere Worte zu den Vorspeisen.

Es lässt sich feststellen, dass unter den Entree-Spezialisten der Weltküche Avantgardisten von Rang arbeiten, denken wir nur an jenen Kollegen, der in San Antonio auf Ibiza tätig ist und dessen Speisekarte Frau B. aus Riemerling ausfindig machte. Gleich als erste kleine Speise unter den »Appetitanregern« finden wir dort »Käse und Frühstücksspeck über Kartoffelschalen montiert, begleitet mit sauerer Creme«.

Nun ist ja das Verb »montieren« auch in der Küche gebräuchlich, allerdings eher im Zusammenhang mit dem Aufschlagen von Saucen. Beim Montieren von Käse und Frühstücksspeck über Kartoffelschalen hingegen denkt man an die in Werkstätten übliche Montage, an ein Verschrauben, Verlöten und Zusammennieten, und mir fällt sofort der »Pfeffer-Wagenheber-Käse« ein, der nach Auskunft von Frau K., die als Reisebegleiterin in den USA lebt, unter den »Aperitifs« der Karte des Quality Inn des Mountain Ranch Resorts in Williams/Arizona auftauchte, gleich um die Ecke des Grand Canyons, leider nur bis etwa ins Jahr 2008.

Zum Wagenheber-Käse würde als Wein ein »Sattelschlepper libies weiss« aus einer Pizzeria in Montefiascone am Lago di Bolsena passen. Den gäb’s auch in Rot, schreibt Herr T. aus Radolfzell.

Was dann unter den unter dieser Menüliste angebotenen »Chilitos jalapeños peniert« zu verstehen ist, nun ja, das geht vielleicht etwas zu weit, nicht wahr? Wir kennen von der Arbeit am Herd das Verbum »panieren«, aber ob wir um das vom Koch vorgenommene »Penieren« wirklich wissen wollen und ob wir eine »penierte« Speise bestellen wollen würden? Ich zweifle.


Bei der Verarbeitung von Rohstoffen ist unter den Vorspeisen-Köchen neben das Montieren und Penieren in den vergangenen Jahren offensichtlich auch das Rauchen getreten: Herr S. aus Wörrstadt brachte aus winoujcie an der polnischen Ostseeküste, dem früheren Swinemünde, das Foto einer mit Kreide beschriebenen Schiefertafel mit, auf der »gerauchte Fische« empfohlen wurden. Und auf der Karte des Finnstown Country House Hotel in Dublin, der Heimat von Oberst von Huhn, findet sich ein Essen mit dem Titel »Wärmen Sie gerauchte Makrelen Salate, Kirschrote Tomaten, hat Balsamische Reduktion Salatblätter angekleidet«.

Ist das nicht wunderbar?! Dass der Koch die eingekauften Fische zunächst selbst raucht und dann dieses Gerauchte zum Kochen verwendet?!

Mich erinnert das an eine Mail, die ich einmal von Frau J. erhielt. Ihre Familie habe, berichtete sie, auf dem Grundstück einen Räucherofen besessen, den der Großvater befeuerte und dessen Asche er in einen Eimer zu füllen pflegte. Eines Tages sei, schrieb J., vorne im Haus ihre Tante mit diesem Eimer erschienen und habe auf die Frage nach dessen Inhalt geantwortet: »Das ist die Asche vom Opa, hinten vom Räuchern.«

Eine Enttäuschung war hingegen, was meine liebe Freundin A., immer an kulinarischer Avantgarde interessiert, in Budapest erlebte. Auf der Karte stand »Ungarischer Vorspeisenteller, neu gedacht«. Es handelte sich dann aber lediglich um eine rote und eine grüne Paprika, eine Scheibe Paprikawurst, dazu eine Art Paprikafrischkäse. Vielleicht sei noch eine Gurke dabei gewesen, sagt A., sie wisse es nicht mehr genau. Jedenfalls war nichts daran neu, auch nicht neu gedacht. Es war alte ungarische Vorspeisenschule.

Bevor wir zum Höhepunkt dieses Kapitels kommen, hier einige weitere Beispiele für einfallsreiche Entrees aus der großen weiten Welt der Vorspeisen.

Herr K. aus Gilching sah vor vielen Jahren in einem türkischen Lokal in Köln-Mülheim »Muchelen mit Shane und ville Sarfe«.

Herr B. aus Aystetten genoss in Los Llanos auf La Palma »Salat der Befestigungsklammer«.

Schließlich: »Makrone gebratener Stopfleber tunkt Honigkuchen aus« stammt aus einem Lokal in Cancale in der Bretagne, eines der innovativsten Restaurants überhaupt, leider ist mir sein Name entfallen – aber die Fotos der Speisekarte liegen hier, ich war nämlich selbst dort und habe sie gemacht. Und wir werden in diesem Buch noch mehr davon lesen.

Nun aber zum Gipfel modernen Vorspeisenwesens überhaupt.

Frau H. aus Mainz schickte mir eine Karte, die, so schrieb sie, vor Jahren vor den ausgesuchten Gästen einer Werkseröffnung einer großen deutschen Autofirma in Russland auf den Tischen lag.

Dieses Menü wurde eröffnet mit einem Gericht namens »Die königliche Krabbe mit dem frischen Laub und Toast aus der französischen Leiste«, wobei uns besonders das frische Laub natürlich sofort an das Noma in Kopenhagen erinnert, von Kennern wiederholt zum besten Restaurant der Welt gekürt. Der dortige Chefkoch René Redzepi geht bei der Produktsuche gern auch in die dänischen Wälder und kommt mit Moosen und Flechten zurück, die dann auf den Tellern landen – warum also nicht auch einmal mit frischem Laub? Dass man dann aus einer französischen Leiste Toast gewinnen kann, ist überraschend, zumal die wenigsten wissen, was eigentlich eine französische Leiste ist, auch ich nicht.

Es gab aber ein Gericht in Russland, mit dem der Koch dort Redzepi weit hinter sich ließ: »Die Kollektion der Scheibchen des Roastbeefs und des Kalbfleisches Vom Gelee aus der roten Schuld«.

Dass man sich hier, vor den Gästen eines festlichen Menüs, so en passant zur »roten Schuld«, also der Hinterlassenschaft des kommunistischen Regimes in Russland, nicht nur bekannte, sondern diese Schuld auch noch in einen Bestandteil des Festmahls verwandelte, sie einkochte, gelierte und neben einer Fleischscheibchen-Kollektion drapierte, so dass die Essenden sich diese rote Schuld einzuverleiben in der Lage waren, wodurch wiederum diese Schuld einerseits in den Körpern der Essenden verarbeitet wurde, anderseits genau diese Körper kräftigte und zu neuen, hoffentlich in Schuldlosigkeit ausgeführten Taten befähigte – das hat ja eine Größe, die nicht nur weit über banales Kochen hinausgeht, sondern auch die Grenzen der Molekularküche eines Ferran Adrià überschreitet, des Katalanen vom El Bulli, der in seiner Molekularküche eigentlich keine Rohstoffe mehr nutzte, sondern nur noch Geschmacksessenzen. Und der so viele Jahre als bester Koch der Welt galt.

Hier befinden wir uns im Bereich des Happenings und der Kunst.

Verzückt sollen die Gäste in Russland die Teller abgeschlegt haben.


Oberst von Huhn bittet zu Tisch

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