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„Kannitverstan“: Ich kann nichts verstehen

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Herr Kannitverstan besitzt ein prächtiges Haus und ein gewaltiges Schiff, aus dem kostbare Waren entladen werden. Leider endet sein Leben allzu rasch, da schon an der nächsten Ecke ein Leichenzug auftaucht, der ihn zu Grabe trägt.

„Kannitverstan“ – diese Geschichte, die Johann Peter Hebel in seine Erzählungen des rheinischen Hausfreundes aufgenommen hat, handelt vom Verstehen und davon, dass auch das Missverstehen eine Portion Weisheit enthalten kann. Der von einer südbadischen Kleinstadt nach Amsterdam verschlagene Handwerksbursche versteht, dass noch das glänzendste Leben vergänglich ist. Der Witz der Geschichte besteht aber darin, dass der Handwerksbursche in Wahrheit nichts verstanden hat, ja niemand überhaupt etwas versteht, da seine Gesprächspartner jederzeit nur ihr Unverständnis erklären: „Ich kann nichts verstehen“. Jemand versteht etwas, obwohl die Verständigung unter den Beteiligten jederzeit scheitert.

Wie wäre es – so wird im Folgenden gefragt -, wenn sich dieses Prinzip verallgemeinern ließe? Wenn alles vermeintliche Verstehen sich einem starken Glauben an die Stabilität von Bedeutungen verdankte, der sich über einem Bodensatz semantischer Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten hartnäckig hält?

Es ist diese, zugegeben, brisante Auffassung vom Verstehen, für die im Folgenden plädiert wird. Brisant deshalb, da sie dem gesunden Menschenverstand und auch sich selbst zu widersprechen scheint: Weiß ich etwa nicht, was ich meine, wenn ich spreche? Wo soll es hinführen, das Verstehen zu bestreiten, wo doch der Autor dieser Zeilen es nicht unterlässt, Wörter zu benutzen, also dabei doch offenbar Leser im Auge hat, die verstehen sollen, was da geschrieben steht?

Es geht also um die Frage nach dem Verstehen, nach der „Bedeutung von ‚Bedeutung‘“ (meaning of „meaning“). Ich behaupte: Diese Frage ist noch nie in befriedigender Weise beantwortet worden. Klassische Antworten sind: ein Bedeutungs- und Begriffsrealismus, wie er gutgläubig im Mittelalter vertreten wurde, der jedoch bis tief in die heutige analytische Philosophie hinein Spuren hinterlässt, wenn diese erklärt, Begriffe „analysieren“ zu können – ungefähr wie man eine Laborprobe analysiert; die Auffassung von Bedeutungen als Konvention – meines Erachtens eine Leererklärung, eine Tautologie; und schließlich ein Agnostizismus der Bedeutung, wie man ihn prominent von Quine vertreten findet,1 der zwar dem, was im Folgenden dazu gesagt wird, in der Tendenz nahekommt, der aber im Grunde nur eine Kapitulation vor dem Problem darstellt.

Statt die Frage nach dem Verstehen und nach der „Bedeutung von ‚Bedeutung‘“ frontal anzugehen, wird hier ein indirekter Weg eingeschlagen. Und zwar lautet die Frage, die hier zunächst betrachtet wird: Wie sind Bedeutungen in einer natürlichen Welt möglich? Wie könnten sie in einer solchen natürlichen Welt entstanden sein? Was auch immer Bedeutungen sind, es muss ja, so sollte man meinen, möglich sein, darüber etwas zu sagen, das mit den Annahmen einer natürlichen, empirisch beschreibbaren Welt vereinbar ist. Das Ziel dieser Betrachtung ist aporetisch: Zwar lässt sich eine Reihe plausibler Vermutungen darüber anstellen, wie das Sprechen im Zuge der Evolution der menschlichen Art auf natürliche Weise entstanden sein könnte. Aber was dabei entstanden ist, bleibt schlechterdings unvereinbar mit dem, was wir intuitiv meinen, wenn wir uns diejenigen Bedeutungen vergegenwärtigen, die unser Sprechen und Denken hat. Welche Konsequenzen das hat, wird anschließend betrachtet.

Die hier vorgelegte Naturgeschichte des Sprechens begreift sich als naturalistisch in einem Sinne, der beispielsweise auch für die Ethologie maßgeblich ist (Konrad Lorenz, Irenäus Eibl-Eibesfeldt): Es wird ein Begriff von Natur angenommen, der die authentischen Phänomene des Lebendigen nicht unterschlägt, indem er sie in bloßen, zum Beispiel neurowissenschaftlichen Reduktionismen untergehen lässt. Mit „authentische Phänomene des Lebendigen“ meine ich, dass Lebewesen (nicht nur Menschen) Wahrnehmungen, Empfindungen und Wünsche haben und sich unter bestimmten Umständen zu Handlungen motiviert sehen können. Und dass die Rede von solchen Phänomenen nicht nur vorläufig zulässig ist: bis zum Tag X, wo Hirnforscher für all diese Dinge eine vollumfängliche Kausalerklärung vorweisen können, sondern dass diese Phänomene unabhängig davon, was die Hirnforschung in Zukunft noch bescheren wird, irreduzibel sind. Es handelt sich also um einen Begriff von Natur, der nicht einmal der Möglichkeit nach auf einen Kausalreduktionismus angelegt ist.2

Dies Plädoyer für einen nicht-reduktionistischen Naturbegriff begibt sich wohlüberlegt zwischen zwei Stühle: den Stuhl der Liebhaber des Geistes, die die hier vorgetragenen Überlegungen vermutlich als „biologistisch“ ablehnen, und den Stuhl der objektiven Wissenschaften, die aus ihrer Sympathie für neuronale Reduktionismen keinen Hehl machen. So findet man beispielsweise in einer aktuellen wissenschaftlichen Monographie zum Thema The Evolution of Language die folgende Bemerkung:

A complete understanding of language surely requires a clear understanding of „meaning“ – but the nature of meaning is one of the most perennially controversial issues in philosophy and linguistics … A biological understanding of meaning would surely entail a full understanding of how brains generate, represent and manipulate concepts, and such a broad understanding of cognitive neuroscience remains a distant hope today.3

Ich lese: Was herkömmliche Philosophen und Sprachwissenschaftler im Laufe der Zeit zum Thema meaning so vorgetragen haben, ist hoffnungslos kontrovers; aber die Geduld mit ihnen hat absehbar ein Ende; und zwar in Gestalt der kognitiven Neurowissenschaften, die zuverlässig adäquate Lösungen anbieten werden, auch wenn das vielleicht noch etwas dauern wird. Frappierend die Selbstgewissheit, mit der eine rund zweieinhalbtausendjährige Beschäftigung mit dem Thema Bedeutung beiseitegeschoben und ein von den Neurowissenschaften versprochenes Heil an deren Stelle gesetzt wird, demzufolge es nicht Individuen oder Personen, sondern brains sind, die concepts generieren, repräsentieren und manipulieren. Könnte es sein, dass ein Kognitionswissenschaftler, der, wenn es schwierig wird, nur in Termen von Molekülen und Synapsen zu denken bereit ist, schlechterdings keinen Begriff davon hat, worum es beim Thema „Bedeutung“ auch nur gehen könnte? Ist er entschuldigt, nur weil er sich nichts anderes vorstellen kann?

Bedeutungen sitzen nicht im Gehirn (das hat schon Leibniz so gesehen). Sie sitzen auch nicht sonst irgendwo in einer wie immer beschaffenen „geistigen Welt“. Das Körper-Geist-Problem, das zu dieser Alternative zu zwingen scheint, ist selber ein Produkt des Denkens und deshalb nicht sakrosankt. Man muss versuchen, was überzeugte Dualisten „den Geist“ nennen, behutsam in Zusammenhänge einzubetten, die als Bestandteil einer weiträumig aufgefassten Natur betrachtet werden können. Die vorliegenden Ausführungen verstehen sich als ein Beitrag dazu. Ziel ist, einen Naturalismus zu rechtfertigen, der einerseits vermeidet, die Phänomene des geistigen Lebens zu blanken Maschinenprozessen zu verkürzen (wie man dies in der sogenannten Philosophie des Geistes besichtigen kann), der aber andererseits so konsequent ist, dass er nicht ohne weiteres von anderen, noch „härteren“ Naturalismen überholt werden kann.

Zum Aufbau: Der erste Teil „Naturgeschichte des Sprechens“ ist vorwiegend an Fragestellungen orientiert, die in den positiven Wissenschaften behandelt werden – Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Linguistik -, während der zweite Teil „Archäologie des Sprechens“ systematischen Charakter hat.

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