Читать книгу Auslandspass Nr. 188042 - Axel Rudolph - Страница 3
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ОглавлениеDen ganzen Tag hat es geregnet. Erst gegen Abend hat der Wind die Regenwolken vertrieben. Durch ziehende Wolkenfetzen zwängt sich schon ein bleicher, dunstumkränzter Mond zeitweise hervor.
Otto Brielow gefällt der Witterungsumschlag gar nicht. Mondschein — das hat ihm gerade noch gefehlt. Da ist die Lichtung. Wenn man sie überquert, sind es nur noch etwa zwanzig Minuten durch den Busch bis zum Dorf. Nee, lieber nicht! So oft der verdammte Mond aus den Wolken hervorguckt, liegt die ganze Lichtung in fahler Helligkeit da. Und drüben, hinter den Kiefern des Waldrandes liegt die Jagdhütte. Man kann sie von hier aus nicht sehen, wohl aber könnte gar leicht ein Jägerauge von dort den Mann entdecken, der die Lichtung überquert.
Nebel geistern um die Senke, spinnen Fäden von Gestrüpp zu Gestrüpp. Knorrige, einzelstehende Baumstrünke drohen schwarz und schattenhaft. Nasses, hartes Gras, Sumpfland, wirres Gestrüpp und schwarze Kiefernwälder. Drüben fällt das Mondlicht auf das geisterhaft bleiche Band eines Sandweges, der sich im hügeligen Gelände verliert. Eine Nacht und eine Landschaft, in der alle Geisterchen und Kobolde der Mark lebendig werden. Man könnte träumen von Frau Hake und Frau Huk, von Irrlichtern und Nebelgeistern.
Otto Brielow hat keinen Sinn für Sagen und nächtliche Spukstimmung in Heide und Moor. Er möchte jetzt auch viel lieber Frau Hake oder dem Teufel persönlich begegnen als etwa dem Wachtmeister Panz oder zum Beispiel dem Jagdpächter von Dahlen, der da drüben in der Hütte haust. Vorsichtig schlägt er einen weiten Bogen um die Lichtung, tastet sich im Finstern durch Wald und Buschwerk, bis er zwischen den Bäumen den hellen Streifen der Landstraße schimmern sieht. Das Jagdhaus des Herrn von Dahlen liegt jetzt hinter ihm. Drüben, jenseits der Landstraße kann ihm keiner was. Das ist schon Pritzower Gemarkung.
Otto Brielow will schon mit einem Satz seiner langen Beine über den Graben und auf die Landstraße, als er plötzlich stehenbleibt, sich einen Augenblick duckt und dann sich leise in den dunklen Graben zwischen Wald und Straße gleiten läßt.
Himmelarschundwolkenbruch, was ist das nun wieder? Da hält doch ein Personen-Kraftwagen auf der Landstraße, kaum fünfzig Schritt entfernt. Ganz unvorschriftsmäßig, ohne jedes Licht. Während Otto Brielow im Graben kauert und die Lage spannt, überlegt er angestrengt, was das bedeuten kann. Daß der Wagen die Lichter ausgeschaltet hat, ist zwar ungehörig, hat hier aber nicht viel zu sagen. Über die Straße Pritzow—Wiepswalde geht nachts kaum ein Verkehr, selbst bei Tage selten genug, seitdem die neue große Autostraße in Betrieb ist. Aber wie kommt der Wagen überhaupt hierher? Kaufmann Schulzens Wagen ist es nicht, der ist bedeutend kleiner. Und sonst hat niemand in Pritzow einen Kraftwagen. Hat etwa der Alte drüben in der Hütte Besuch? Ach Quatsch, dann wär der Wagen doch in den Seitenweg eingebogen, der kaum hundert Meter unterhalb direkt bis zur Jagdhütte führt. Jedenfalls würde er nicht einsam hier auf der Landstraße parken.
Otto Brielows Gedanken beginnen das einsame Auto mit unliebsamen Gestalten in Verbindung zu setzen. Wer kann schon nächtlicherweile hier dem Wald einen Besuch abstatten? Gendarmerie? Polizei? Hm, vielleicht ist es doch ganz gut gewesen, das, worüber man seit einer Stunde innerlich geflucht hat. Nämlich, daß der Rucksack heute wider Erwarten leer geblieben ist. Das wär so was, wenn man Otto Brielow jetzt hier geschnappt hätte, mit einem fetten Hund im Rucksack. Wirklich besser so. Aber sehen darf man sich trotzdem nicht lassen. Derartige Herren — wenn es wirklich solche Brüder sind — fragen dem Teufel ein Ohr ab, wollen ganz genau wissen, warum und wieso ein Pritzower Bauer zur Nachtzeit hier durch die Heide spaziert. — Nanu!? Was war das?
Otto Brielow hat sich in seiner Hockstellung jäh herumgeworfen, reckt den Hals und horcht angestrengt in den Wald. Ein Schuß! Ohne Frage war das eben ein Gewehrschuß. Von da drüben kam’s. Ziemlich weit her, oder — der Schuß müßte da drüben im Jagdhaus gefallen sein. Ach, ist ja lächerlich. Der alte Dahlen ist doch kein Blödsinniger, der zum Vergnügen in seiner Hütte rumballert! Muß also ein ganz Ende weitab gewesen sein. Jenseits der Lichtung, wahrscheinlich in dem Waldstück, das man die Meesekiste nennt. Aber wer zum Deubel kann da jetzt schießen? Dahlen ist nicht im Revier. Der sitzt in seiner Hütte. Das ist sicher, denn Otto Brielow hat vorhin an der Lichtung deutlich Lichtschimmer durch die Ritzen der Fensterläden sehen können. Der alte Dahlen ist viel zu vorsichtig, die Petroleumlampe in seiner Holzbude brennen zu lassen, wenn er auf Pirsch geht. Verfluchtzig, sollte da jemand anders den fetten Braten geholt haben? Ein jemand, der die Frechheit hat, im Auto herzukommen? Doch, so was gibt’s. Der Schlächter-Hans aus Wiepswalde hat früher immer die geschossenen Böcke in seinem Wagen heimgefahren. So lange, bis sie ihn erwischten und ihm Brandenburg-Görden verpaßten.
Otto Brielow ist selber kein Kraftfahrer, sonst wäre ihm wohl früher schon der Gedanke gekommen, der nun erst in ihm auftaucht: Wie, wenn der unbeleuchtete Wagen da vorne eine Panne hätte! Wenn am Ende ein Unglück da geschehen wäre! Er hat schon beschlossen, sich im Graben näher heranzupirschen, um auf jeden Fall mal festzustellen, ob man etwa seiner Hilfe bedarf, als urplötzlich die Scheinwerfer des Wagens aufflammen. So plötzlich kam das, daß Otto Brielow nur eben noch durch einen Satz seitwärts dem Lichtkegel entgehen kann, der breit und frech Landstraße und Graben erhellt, Motorengeräusch — eine Minute später gleitet der Wagen an der Stelle vorbei, wo Otto Brielow sich hinter einem Fichtenstamm duckt. Die Nummer kann er nicht erkennen, so schnell ist der Wagen vorüber. Eins aber hat er ganz deutlich gesehen: daß am Steuer ein Mann saß, ein Mann in einem hellen Mantel; wahrscheinlich war es ein Regenmantel.
Komisch — sinniert Otto Brielow —, der muß die ganze Zeit im Wagen gesessen haben. Wenn er neben dem Auto gestanden hätte, müßt’ ich ihn doch in seinem hellen Mantel vorher schon gesehen haben. Durch den Wald, etwa von der Jagdhütte her, kann er auch nicht gekommen sein. Kein Mensch kann im Dunkel hier so vorsichtig gehen, daß keine Zweige knacken und ich es nicht hören sollte.
Die Hauptsache bleibt: es waren also doch keine „Grünen“. Otto Brielow will schon beruhigt seinen Weg fortsetzen, als ein neues Geräusch ihn wieder haltmachen läßt. Diesmal kommt es aus dem Wald und klingt, als ob ein starkes Tier durch das Geäst bräche. Da geht einer — stellt Otto Brielow bei sich fest. Einer, der es eilig hat. Am Ende gar der Jagdpächter Dahlen, der vorhin auch den Schuß gehört hat und mal nachsehen will, was sich in seinem Revier tut? Dem möchte ich nun nicht gern in den Weg rennen. Warten wir lieber noch ’ne Kleinigkeit.
Otto Brielow tut es. Die Gefahr, hier im Dunkeln entdeckt zu werden, ist nicht groß. Herr von Dahlen hat keine Hunde. Das Knacken der Äste verliert sich. Der Mann, der dort in der Heide ging, scheint sich in ganz entgegengesetzter Richtung zu entfernen. Also ist es doch wohl Herr von Dahlen gewesen, der sich aufgemacht hat, um nach der Ursache des Schusses zu forschen. Denn dort drüben kommt man auf keinen Weg, der zu einer Ortschaft führt.
Noch fünf Minuten wartet Otto Brielow, dann geht er rasch über die Landstraße und taucht im jenseitigen Waldstück unter. Eine halbe Stunde später schleicht er durch das Zaunpförtchen an der Rückseite des Brielowschen Häuschens, gelangt richtig, ohne Muttern zu wecken, in seine Kammer und beginnt leise fluchend die nassen Langschäftigen auszuziehen.
Otto Brielow schläft fest und gesund, bis ihn das Tagewerk aus den Posen ruft. Aber während er das Vieh besorgt, gehen ihm doch wieder die sonderbaren Dinge der Nacht im Kopf herum. Das Auto! Der Schuß! Irgend etwas stimmte da doch nicht. Als er Franek, den Hofarbeiter von Bauer Günter, draußen vorbeischlurfen sieht, einen Henkelkorb am Arm, ruft er ihn kurz entschlossen an.
Franek — kein Mensch in Pritzow außer dem Ortsvorsteher weiß, wie er sonst heißt — ist ein kleiner, vermickerter Pole aus Oberschlesien, der einmal vor zehn Jahren hier untergekrochen und ebenso lange schon bei Bauer Günter im Dienst ist. Er bringt ab und zu frische Eier und Butter zu Herrn von Dahlen in die Jagdhütte und bestätigt auf Ottos Frage, daß er auch jetzt eben dorthin unterwegs ist.
„Wart mal, Franek“, entscheidet Otto und schließt die untere Hälfte der Stalltür. „Ich werd ’n Sticke mit dir gehn.“
„Kaffee trinken kommste!“ gellt aus dem Küchenfenster die energische Stimme von Mutter Brielow. „Schämste dir nich, faulet Aast, von de Arbeit wegloofen und rumdalbern!“
„Is jut, Mutter. Ick komm schon.“ Otto winkt dem zögernden Franek, mitzukommen, und tritt in die niedere Küche, wo seine Schwester Hilde schon wild mit den Kaffeetassen klappert und Mutter Brielow ächzend Eimer schleppt. Während Otto eine breite Stulle ohne Schwierigkeit in seinem Mund verschwinden läßt, mustert er nachdenklich das verschrumpelte alte Gesicht des Polen, der bescheiden auf dem Stuhl neben der Kochmaschine hockt.
„Haste heut nacht den Schuß gehört, Franek?“
„Hab ich nix gehört“, Franek schüttelt den Kopf, „hab ich geschlafen.“
„Wat vor ’n Schuß?“ erkundigt sich Mutter Brielow streng. „Wat geht det uns an, wenn eener schießt!“
„Na, ick meene ja man bloß, Mutter.“ Otto erzählt umständlich von dem Auto und dem Schuß. „Na, siehste, deshalb hätt ick Lust, mal den Jagdpächter zu fragen, wat ’n da los war.“
„Sind det deine Angelegenheiten?“ erbost sich Mutter Brielow. „Det sind jar nich deine Angelegenheiten, Otto! Da halt du man die Finger von. Otto war heut nacht in Wiepswalde, Franek. Hat wohl bei Jastwirt Bethge een’ zuville getrunken, det er und hat uff‘n Heimweg so ’n Unsinn jehört.“
„Jawoll. War in Wiepswalde“, echot Franek gehorsam.
„Mecht ick wissen, wat dabei zu jrienen is, Franek. Wenn ick sage, det Otto in Wiepswalde war, denn is det so.“
„Laß man, Mutter“, beruhigt Otto die Zürnende. „Franek is stieke. Und vor den ollen Dahlen hab ick keene Bange. Mit den kann ick reden, wie ick will. Wat meenste, Hildeken?“
Hilde Brielow, die Achtzehnjährige, zuckt ärgerlich die runden Schultern und dreht dem augenzwinkernden Bruder energisch den Rücken. Otto nimmt den letzten Schluck Kaffee und zwängt sich zwischen Bank und Tisch hervor.
„Na, denn komm man, Franek.“
Mutter Brielow klappert wütend am Herd mit ihren Töpfen. „Ich denk, du willst auf Sehnitz zu und die Bretter holen!“
„Mach ick ooch, Mutter. Wird allens jemacht. Vor Mittag treff ick Tischler Wolter man doch nich.“
„Sonst haste woll nischt zu tun, wat? Otto, hör uff mir. Laß du andere Leute ihren Kram machen. Misch dir nich ein.“
„Will ick ooch jar nich. Bloß wissen möcht ick, wat da heute nacht jespielt worden is. Det Auto, Mutter ...“
„Ih, wat ick nich weeß, macht mir nich heeß.“
Mutter Brielow hat noch allerhand auf dem Herzen, aber ihr Schimpfen stört Otto nicht mehr. Er ist bereits draußen und schreitet bedächtig die Dorfstraße entlang. Neben ihm trippelt, Korb am Arm, eifrig der kleine Franek, wie ein Schuljunge, der beglückt seinen Lehrer begleiten darf.
Bei Tage sieht alles anders aus. Nichts Geisterhaftes ist an der glatten Landstraße, die sich zwischen den Kiefern und Fichten hinzieht, an der Heide, in die das Paar nun einbiegt und in der Otto Brielow jeden Baumstamm, jeden Ameisenhaufen kennt. Da ist das Jagdhaus, ein viereckiger, aus rohen Holzstämmen gefügter Bau mit einer kleinen Veranda vor der Tür. Etwa zehn Meter weiter rückwärts im Walde liegt der Holzschuppen, dicht dabei die Pumpe. Das Jagdhaus hat eine Küche, eine Wohnstube und ein Schlafzimmer. Es sieht sehr stilvoll und anheimelnd aus, wie es daliegt zwischen den hohen Kiefern. Die Vorderseite hat freien Blick über die große Lichtung. Über dem Eingang ist ein Hirschgeweih angenagelt.
Die grüngestrichenen Läden vor Fenstern und Tür sind geschlossen. Otto Brielow sieht es erstaunt im Näherkommen. Sollte Herr von Dahlen schon fort sein? Da müßt er doch durchs Dorf gekommen sein. Aber wozu so früh? Der erste Zug nach Berlin geht doch erst um 10,24 Uhr von der Bahnstation Wagenitz, und die Bahnstation kann Dahlen doch mit seinem Fahrrad in knapp einer halben Stunde erreichen.
Otto Brielow trampt mit seinen schweren Stiefeln auf die Veranda und pocht an die Tür. Ruft „Herr von Dahlen!“ In der Jagdhütte rührt sich nichts.
„Scheint nich mehr dazusein, Franek. Wenn er noch hier wär, hätt er doch sicher nich die Läden zugemacht.“
Franeks Mund steht offen. „Aber ich soll doch ... Pane von Dahlen hat gesagt, ich soll Eier bringen. Zehn frische Jaizi.“
„Wann hat er det gesagt?“
„Vorgestern, Pane Brielow. Wie ich bin hier gewesen mit Butter. Franek, hat Pane von Dahlen gesagt, iebermorgen zehn frische Eier. Jawohl, Pane, hab ich gesagt, werd ich bringen. Hat auch gehört fremdes Herr, wo war bei Pane von Dahlen.“
„War Besuch da?“
„Tak, Pane. Großes, junges Herr. Kenn ich nicht.“
„Hatte der so ’n hellen Regenmantel an?“
„Weiß nich, Pane Brielow. Saß in Stube und hatte keinen Mantel an. Aber Pane von Dahlen muß hier sein. Sonst er doch nich bestellen Franek mit frische Eier.“
Nochmaliges Rufen und Klopfen. Otto geht um das Häuschen, sucht durch die Läden zu blicken und kommt unverrichteter Sache zurück. „Keener da, Franek. Wirste deine Eier man wieder heimtragen müssen.“
Die unerwartete Abreise des Jagdpächters erörternd, gehen sie langsam durch den Wald zurück. Ein Dutzend Schritte nur, da bleibt Otto Brielow stehen, bückt sich und hebt etwas vom Boden auf.
„Nanu! Det is doch ... Det sieht doch fast aus, als ob det der Schlüssel zum Jagdhaus wär.“
Auch Franek betrachtet den langen, einfachen Schlüssel, den Otto in der Hand hält, und nickt eifrig. „Pia krew! Wird Pane von Dahlen haben verloren!“
„Will doch mal kieken, ob det wirklich sein Schlüssel is.“ Otto Brielow macht kehrt und geht entschlossen zur Jagdhütte zurück, steckt vorsichtig den Schlüssel ins Schloß. Wahrhaftig, er läßt sich ganz leicht rumdrehen. Die Tür geht auf.
Nur in die zunächstliegende Küche dringt das Tageslicht durch die offene Tür. Das nebenanliegende Wohnzimmer ist völlig dunkel, da die Läden fest geschlossen sind. Kalter Tabakgeruch hängt in der Luft. Dazu noch etwas, ein geringer, sonderbarer Geruch, der Otto Brielow verwundert schnuppern läßt. Er tastet sich im Finstern durch die Wohnstube, löst den Riegel und stößt den Fensterladen auf. Hell flutet das Sonnenlicht herein.
Eine Minute später torkelt Otto Brielow wieder aus der Tür, zu Franek, der, noch immer seinen Korb am Arm, erwartungsvoll auf der Veranda stehengeblieben ist.
„Franek!“ Ottos sonst so dröhnende, selbstgefällige Stimme ist heiser. Seine Augen sind ganz groß aufgerissen. „Lauf, was du kannst! Lauf schnell ins Dorf! Ruf beim Gastwirt Lange den Doktor an. Oder nee — sag Lange, er soll selber anrufen. Dein Polnisch versteht ja keiner. Der Doktor soll gleich hierherkommen, hörst du! Am besten auch ... ja, sag Lange, er soll auch gleich den Gendarm anrufen!“
„Jesus, Pane Brielow! Doktor? Gendarm? Hierher? Zu Pane von Dahlen?“
„Ja. Mach rasch, Mensch! Lauf! Da drinnen ...“ Otto zieht die Tür hinter sich zu und schüttelt sich wie in einem Frostschauer. „Drin liegt Herr von Dahlen. Er is dod!“
Gendarmerieposten Pritzow
In der zu meinem Postenbereich gehörenden Jagdhütte des Jagdreviers Röbelek bei Pritzow wurde heute morgen der Jagdpächter Felix von Dahlen in anscheinend bewußtlosem Zustand durch den Landwirt Otto Brielow aufgefunden. Fernmündlich verständigt, begab ich mich sofort dorthin und stellte folgendes fest:
Jagdpächter von Dahlen ist durch einen Schuß aus seinem eigenen Jagdgewehr ums Leben gekommen. Nach Aussage des sofort herbeigeholten Arztes Dr. Menke ist der Tod bereits zwischen zwölf und zwei Uhr nachts — mindestens sieben Stunden vor Auffindung der Leiche — eingetreten. Die Leiche lag in der Wohnstube der Jagdhütte, neben einem Sessel. Unmittelbar davor lag das Jagdgewehr, aus dem der tödliche Schuß abgegeben worden ist. Die Kugel, die aus nächster Nähe abgefeuert worden ist, hat die rechte Schläfe durchschlagen und ist ins Gehirn gedrungen. Lage der Leiche und der Waffe lassen die Annahme eines Unglücksfalles oder Selbstmordes zu.
Dem widerspricht jedoch die Tatsache, daß das Jagdhaus ordnungsgemäß verschlossen war. Der Landwirt Brielow, der zusammen mit dem Landarbeiter Franz Rapaschinsky den Toten fand, hat wenige Schritte vor dem Jagdhaus den Herrn von Dahlen gehörenden Türschlüssel gefunden und mittels dieses Schlüssels auch die Tür geöffnet. Ferner will der Landwirt Brielow in der vergangenen Nacht gegen zwölf Uhr einen Schuß aus der Richtung des Jagdhauses gehört und ein auf der Landstraße Pritzow—Wiepswalde parkendes, unbeleuchtetes Auto gesehen haben. Dieser Kraftwagen fuhr kurz nach dem Schuß in Richtung Wiepswalde davon. An seinem Steuer saß nach Aussage des Landwirts Brielow ein Mann in einem hellen Mantel, wahrscheinlich Regenmantel.
Da somit das Vorliegen eines Verbrechens wahrscheinlich erscheint, habe ich zur Spurensicherung das Jagdhaus unter Belassung alles Vorgefundenen unter Verschluß genommen. Ferner habe ich Sorge getragen, daß auch die nähere Umgebung des Jagdhauses bis zum Eintreffen der Mordkommission nicht betreten wird.
Der Kriminalpolizei habe ich unverzüglich Meldung erstattet.
Pritzow, den 4. April 1934.
gez. Panz,
Gend.-Oberwachtm.
Wachtmeister Panz sieht auf von dem kleinen Holztisch der Veranda, auf dem er seinen Bericht geschrieben hat. Franek hat mit seiner Botschaft nicht nur die Gendarmerie, sondern das ganze Dorf alarmiert. Ein gutes Dutzend Männer und Frauen sind mit ihm zur Jagdhütte zurückgekommen, von dem Wachtmeister aber in achtungsvolle Entfernung verwiesen worden, um nicht etwaige Spuren zu verwischen. Nur der Ortsvorsteher sowie Otto Brielow und Franek dürfen sich auf der Veranda aufhalten.
Wachtmeister Panz streift mit sorgenvollem Blick den noch immer etwas blassen Otto Brielow, der gegen seine sonstige Gewohnheit ganz still und kleinlaut geworden ist, seitdem der Arzt den Tod des Herrn von Dahlen festgestellt hat. Ja, der Otto Brielow! Daß der auch gerade die Sache hier entdecken mußte. Ist sonst ein guter Kerl, der Otto. Tüchtiger Arbeiter. Aber leider wohl im geheimen so ein bißchen Wildschütz. Nicht der einzige hier in der Gegend, bewahre. Es gibt eine Menge Bauern hier, denen die Jagdleidenschaft im Blute sitzt. Aber die meisten sind vorsichtig geworden und lassen die Finger davon. Otto Brielow nicht. Man hat ihm bisher noch nichts nachweisen können, aber jeder im Dorf weiß, daß er manchmal nachts „ausgeht“. Und ausgerechnet diese Nacht war er also hier in der Nähe.
Wachtmeister Panz starrt sinnend vor sich hin. Otto Brielow also. Er geht ihn nichts an, er kennt ihn nur, wie er jeden Bauern in seinem Postenbereich kennt. Aber da ist die Hilde, seine Schwester! Drüben steht sie zwischen den anderen Neugierigen. Bei ihr ist’s wohl weniger Neugierde als Sorge um den Bruder, die sie hergetrieben hat. Ja, da steht sie nun. Die Sonne flimmert auf ihrem hellen Haar. Und diese Hilde Brielow — es läßt sich nicht leugnen, daß Wachtmeister Panz sie sehr gerne hat. Er hat manchmal schon den Gedanken erwogen an eine Heirat. Hilde Brielow ist hübsch, jung, gesund, arbeitet wie ein Pferd, und Mutter Brielow ist auch nicht arm genug, um ihrer Tochter nicht eine Aussteuer mitgeben zu können. Wenn sie auch immer jammert und tut, als ob sie keinen Pfennig besäße. Und nun soll er also den Bruder ...? Ja, das hilft nun nichts. Dienst ist Dienst und Pflicht ist Pflicht.
Wachtmeister Panz hebt den Kopf zu dem Ortsvorsteher, der eben etwas gesagt hat. „Wie meinten Sie, Herr Thieme?“
„Ob da nich die Luders dahinterstecken, die vorige Woche in Gorz eingebrochen haben, mein’ ich. Sie wissen doch, Herr Panz, der Einbruch da in ’ner Jagdhütte. Man könnt sich denken, daß die Kerle sich noch hier rumtreiben und am End auch hier ... so ’n Gesindel ...“
„Wir müssen die Untersuchung abwarten. Brielow, kommen Sie bitte noch mal her. Wo waren Sie eigentlich vorige Nacht?“
„In Wiepswalde war ick. So ’n bißken.“
„Bei wem?“
Otto Brielow fühlt den Schweiß auf seiner Stirn. Verdammt nochmal, wenn man doch auf Muttern gehört und die Finger davongelassen hätte! Jetzt sitzt man drin. Der Wachtmeister wird sich in Wiepswalde umhören und ... „Also det mit Wiepswalde is Quatsch“, verbessert sich Otto verlegen. „Ick wollte nach Wiepswalde, aber ick bin denn bloß so ’n bißken durch die Heide gelaufen.“
„Nachts?“
„Bei Tach hab ick doch keene Zeit. Det is doch nich verboten, abends spazierenzulaufen.“
Wachtmeister Panz blickt ihn scharf an. „Otto, ich mein’s gut. Sagen Sie lieber die volle Wahrheit. Das mit dem Auto ist wohl ebenso Quatsch wie das mit Wiepswalde?“
„Nee, det stimmt. Wenn det nich jewesen wär, dann wär ick heute doch nich mit Franek hergegangen.“
„Sie meinen also, der Mann im Auto hat Herrn von Dahlen erschossen?“
„Oder der andere. Det kann ooch sein. Der, wo nachher sich durch die Heide dünne machte. Aber ick denke immer, det kann ooch janz anders zugegangen sein. Dahlen hat vielleicht det Jewehr reinigen wollen und da is noch ’n Schuß drin jewesen und ...“
„Wie erklären Sie sich dann, daß Sie den Schlüssel außerhalb gefunden haben?“
„Ja, det versteh ick ooch nich.“ Otto atmet schwer und wirft einen hilfesuchenden Blick auf Franek, der immer noch krampfhaft seinen Eierkorb festhält.
„Zurückbleiben! Zum Donnerwetter, ich hab Ihnen doch gesagt, daß niemand ...“ Wachtmeister Panz starrt ärgerlich auf das Mädchen, das sich drüben aus der Gruppe gelöst hat und trotz seines Verbotes zur Veranda herübergelaufen ist.
„Ich laß mir nich verbieten, zu meinem Bruder zu gehn!“ flammt Hilde Brielow, sich dicht neben Otto drängend und seine Hand fassend. „Panz, det hätt ich nich von Ihnen gedacht! Pfui Deubel auch!“
„Ich ... Was wollen Sie denn eigentlich?“
„Meinen Sie, ich säh nich, was hier gespielt wird? Ich bin nich aus Dummbach, Herr Panz. Sie wollen Otto’n verhaften!“
„Mir? Weswegen denn? Sei doch stille, Hilde!“
„Nee, ick bin nich stille bei so wat! Wenn Otto die Nacht aus war, Herr Panz, det is ganz wat anderes. Gehn Sie ihn doch nach und nehmen Sie ’n hopp, wenn er in de Heide liegt. Aber so wat! Otto soll ’n Menschen umgebracht haben? Da sach ick ... da schrei ick ... und wenn Sie det zehnmal verbieten!“
„Nun mal Ruhe, Fräulein Brielow! Von Verhaften ist vorläufig noch keine Rede.“
„Wat wollen Sie denn von Otto’n? Denn lassen Sie ihn doch gehn. Komm, Otto. Du mußt doch noch nach Sehnitz wegen der Bretter!“
„Halt!“ Wachtmeister Panz hat unwillkürlich den Arm ausgestreckt. „Tut mir leid, Brielow, aber Sie müssen schon hierbleiben, bis die Kriminalpolizei kommt. Erstens müssen Sie als Zeuge gehört werden. Zweitens aber — wir wollen ehrlich sein, Brielow. Ehrlich währt am längsten. Daß ein gewisser Verdacht jeden trifft, der zur Tatzeit hier in der Umgegend war, ist Ihnen doch wohl selber klar.“
„Otto’n trifft kein Verdacht!“ Hilde pflanzt sich kampfbereit vor dem Beamten auf. Ihre Augen sprühen. „Damit Se et genau wissen, Herr Panz, Otto hat nich nötig, so wat zu tun! Ich weeß schon, wat Se denken. Sie meenen, Otto wär in ’t Revier gewesen und hätt’ womöglich den alten Dahlen übern Haufen geschossen. Damit der ihn nich anzeigt. Pustekuchen! Wenn ’t wirklich so wär, ich meen, wenn Otto wirklich gewilddiebt hätt, der alte Dahlen hätt ihn deswegen nich angezeigt. Mit den stand Otto sich sehr gut. Der hätt schon meintwegen den Mund gehalten!“
„Wieso Ihretwegen?“
„Sag’s ihm doch, Otto! Immer feste weg, sonst glaubt der noch wirklich, du hättst det hier getan! Damit Se ’t wissen, Herr Panz! Dahlen ging mir nach. Er hat selber zu Otto’n gesagt, er könne ihm ruhig ’n paar Böcke wegschießen, wenn ich ... na also, wenn ich mal in die Jagdhütte käm!“
Dem Wachtmeister steigt das Blut in die Stirn. „So, so. Das sind ja ... nette Sachen. Und Sie, Fräulein Brielow ...?“
„Wat Sie machen, sind wohl keene netten Sachen? Otto’n verdächtigen, daß er ’n Sticke Mörder wär! Aber nu wissen Sie det, Herr Panz. Wenn Otto hätt wildern wollen, da braucht er noch lange keinen totzuschießen. Und überhaupt — wer so wat denken kann, das ... das muß ’n ganz dummer Mensch sein!“
„Nun aber Schluß, Fräulein Brielow. Alles Weitere wird sich ergeben. Gehen Sie jetzt gefälligst ...“
Wachtmeister Panz bricht ab und sieht befreit nach dem Waldrand, wo ein Kraftwagen über den schmalen Weg holpert. Endlich! Die Mordkommission. Er rückt sein Koppel zurecht, geht der Gruppe, die dem Wagen entstiegen ist, entgegen und meldet. Eine Weile bleiben sie am Waldrand stehen, lassen sich Bericht erstatten und mustern die Gegend. Dann kommen sie auf das Jagdhaus zu. Neben dem Wachtmeister ein sehr sorgfältig gekleideter jüngerer Herr von der Staatsanwaltschaft und ein straffer, soldatisch aussehender Herr von der Kriminalpolizei. Dahinter der Polizeiarzt und der Fahrer, der ein Köfferchen trägt.
„Traf sich leider so ungünstig, daß der Kriminalkommissar nicht mitkonnte“, hört Otto Brielow den eleganten Herrn im Vorbeigehen zu Wachtmeister Panz sagen. „Mordsache in Berlin. Auch die Reserve-Mordkommission war unterwegs. Es ist schon ein Kreuz. Na, Kriminalassistent Becker wird also zusammen mit mir die Sache hier bearbeiten.“
„Jawohl, Herr Assessor.“
Dann sind sie drinnen in der Jagdhütte. Sachliche, nüchterne Tätigkeit. Photoauslöser schnappen. Magnesiumschwaden durchziehen den Raum. Systematische Suche mit der Lupe. Sorgsames Nehmen und Sicherstellen von Abdrücken. Messungen, Untersuchung der Mordwaffe, der Tür und der Fensterläden. Während der Assessor von der Staatsanwaltschaft mit Wachtmeister Panz das Inventar aufnimmt und jede Kleinigkeit aus den Taschen des Toten sorgfältig registriert, streift Assistent Becker methodisch die nähere Umgebung der Hütte ab, besichtigt den Holzschuppen, in dem noch das Fahrrad Dahlens steht, läßt sich genau die Fundstelle des Schlüssels zeigen, kniet mehrmals nieder und untersucht das Erdreich, macht zweimal einen Abdruck und vergewissert sich durch Nachfragen, ob jemand von den Anwesenden den Platz betreten hat.
Es dauert recht lange, bis Otto Brielow aufgefordert wird, in die Jagdhütte zu kommen. Die Leiche ist jetzt auf eines der Betten im Schlafzimmer gelegt worden und mit einem Laken bedeckt. An dem langen Tisch in der Wohnstube, unter den vielen Gehörnen und Geweihen sitzen Assessor Hakkedans und Kriminalassistent Becker. Wachtmeister Panz steht in straffer Haltung neben der Tür. Eine kleine Schreibmaschine ist aufgestellt und ein unbeschriebenes Blatt hängt heraus. Wie ein kleiner, gieriger Hund sieht sie aus, dem die Zunge aus dem Maul hängt.
Assistent Becker nimmt die Personalien auf.
„Otto Brielow, Landwirt, geboren am 15. 8. 1905 zu Pritzow, wohnhaft daselbst, ledig, evangelisch, nicht vorbestraft.“
„Zur Wahrheit ermahnt, gibt der Vernommene auf Befragen an ...“ Assistent Becker macht eine Pause, sieht von der Maschine auf und heftet seine ruhigen, scharfen Augen auf Otto Brielows erregtes Gesicht.
„So, nun erzählen Sie mal.“