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III

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Der Polizeipräsident.

Berlin, den 21. Juni.

Sie werden ersucht, am 22. Juni, vorm. 11 Uhr, im Polizeipräsidium, Zimmer 218, zu einer Besprechung zu erscheinen.

Krim.-Insp. II.

I. A. Henneberg

(Die Vorladung ist mitzubringen.)

An Frau Jenny Nerger,

Berlin-Kladow, Amselallee 14.

Mit heimlichem Grauen starrt Frau Jenny Nerger auf das Schreiben, das ihr der Postbote eben ins Haus gebracht hat. Eine Vorladung! Also doch! Es kann natürlich sein, dass es sich um die arme Graziella ... Ja, natürlich handelt es sich um Graziella! Aber ist es nicht eben das, was sie fürchtet? Gewissheit! — Frau Jenny eilt zum Telefon, sucht mit fliegenden Händen nach der Nummer. Es gibt einiges Hin und Her, bis die Verbindung mit der zuständigen Stelle hergestellt ist. Endlich meldet sich eine ruhige Männerstimme.

„Frau Nerger, Kladow. Verzeihen Sie, ich habe eben eine Vorladung erhalten. Vom Polizeipräsidium, ja. Um was handelt es sich denn? Können Sie mir nicht sagen ...?“ Angstvolles Lauschen. Tief, beruhigend klingt aus dem Apparat die Männerstimme drüben, aber was sie sagt, vermag die Unruhe der Frau Jenny nicht zu bannen. „Der Herr Kommissar ist nicht anwesend? Und Sie selber wissen nicht ...? Schade. Es wird wenig Zweck haben, noch mal anzurufen? Ja, ja, natürlich werde ich kommen. Doch, die Zeit passt mir. Ich ... ich werde pünktlich da sein. Danke vielmals.“

Blass bis in die Lippen hängt Frau Jenny ab. Sie hat keine Ahnung davon, dass der Beamte drüben ihr im Telefon pflichtgemäss keine Aufklärungen geben darf, da er ja gar nicht wissen kann, ob es wirklich Frau Jenny Nerger ist, mit der er spricht. Frau Jenny hat überhaupt noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt und fühlt gegenüber allen Polizeibeamten das alte Vorurteil des Bürgers: Abwehr und Misstrauen. Die Polizei, das ist gleichbedeutend mit Scherereien, Schikanen und noch viel Schlimmerem. Mit der Polizei kommt man nur in Berührung, wenn man — etwas Böses getan hat!

Nun, Frau Jennys Gewissen schreit nicht. Unter anderen Umständen würde sie diese „Vorladung“ auch gar nicht aufgeregt haben. Höchstens, dass sie ein wenig ärgerlich gewesen wäre, den weiten Weg zum Alexanderplatz machen zu müssen. Aber was in diesen letzten Tagen auf sie eingestürmt ist, das ist zuviel! Das ist einfach nicht mehr zu ertragen!

Erst die grässliche Nachricht von dem jähen Tod Graziellas. Dann — nach Tagen, als man bereits über den ersten, heissen Schmerz hinweggekommen war, die unfassbare, ungeheuerliche Kunde: Graziella soll ermordet worden sein! Kein Unglücksfall, sondern ein nackter, furchtbarer Mord!

Frau Jenny Nerger ist einen Tag lang völlig geistesabwesend und verstört umhergelaufen. Erst als Werner König kam, hat sie sich so weit beruhigen können, dass sie überhaupt mit jemandem über das Grässliche sprechen konnte. Da drüben im Herrenzimmer, an dem runden Tisch haben sie gesessen: Hugo, ihr Mann, sie selbst und Werner König, der alte, liebe Freund. Und König hat erzählt, schonend, mitleidig, mit einer verhaltenen Zärtlichkeit in der Stimme. „Wenn ich dich doch trösten könnte“, hat Frau Jenny in seinen Augen gelesen, „wenn ich dich in die Arme nehmen dürfte, ganz weich, ganz behutsam ...“, und es ist ihr wirklich wohler und ruhiger dabei geworden. Oder hat sie sich das nur eingebildet? War es nur ihr eigenes dummes Herz, das sich in den Augen Werner Königs widerspiegelte?

Frau Jenny ist sich längst darüber klar geworden, dass sie ihn liebt, diesen jungen, geraden Werner König mit den ruhigen, ehrlichen Augen. Wie glücklich, wie namenlos selig könnte man sein, wenn ... Aber das geht ja nun einmal nicht. Hugo ist ja da, ihr Mann. Und König — ach, er denkt auch wohl gar nicht an sie. Freundschaft, Sympathie, nichts weiter. Wahrscheinlich liebt er Graziella. Wenn sie da war, hat er sich immer mehr mit ihrer Schwester als mit ihr selbst beschäftigt, mit ihr gescherzt, gelacht, geneckt. Und natürlich hat Frau Jenny ihn nie, nie etwas davon merken lassen, wie es in ihr selber aussieht. Wozu auch? Sie ist eine verheiratete Frau und weiss, was sie sich und ihrem Mann schuldig ist.

Frau Jenny hat nicht viel verstanden von dem Bericht Werner Königs; Hugo aber, ihr Mann, hat ihn gründlich ausgefragt. Und Werner König hat nichts verschwiegen. Er hat ausführlich von den letzten Stunden erzählt, da er mit Graziella noch zusammen war, von den Vernehmungen bei der Stralsunder Polizei, von dem Verdacht, in den er selber notwendig geraten musste und von dem er sich gottlob durch die Aussage der Eheleute Klaasen befreien konnte.

Mit grossen Augen hat Frau Jenny zugehört. Werner König im Verdacht, Graziella ermordet zu haben? Aber das war doch geradezu irrsinnig! Wie konnte die Polizei nur so dumm sein!

Und dann ... dann ist heute früh der Brief gekommen. Dieser entsetzliche, fürchterliche Brief!

Frau Jenny geht mit weichen Knien hinüber in ihr Zimmer und holt aus der sorgsam verschlossenen Schublade ihres Schreibtisches das zerknitterte Papier hervor. Ein einfacher neutraler Geschäftsbogen, mit Maschinenschrift bedeckt.

„Sehr geehrte gnädige Frau!

Ich kenne den Hergang bei dem Tod Ihrer Schwester Graziella. Assessor König ist der Täter. Sie wissen ja wohl, dass er Fräulein Graziella wahnsinnig liebte. Auf der Autofahrt hat er ihr Liebesanträge gemacht. Sie hat ihn ausgelacht, gepeinigt, bis aufs Blut gereizt, bis er endlich die Besinnung verlor und sie — na, das ist Ihnen ja bekannt. Ich habe die Beweise in Händen, dass sein Alibi falsch ist. Er hat die Leute bestochen, dass sie für ihn aussagten. Noch weiss die Polizei nichts davon. Da ich weiss, dass König ein guter Freund von Ihnen ist und sie den Wunsch haben werden, zu verhindern, dass er für eine unbesonnene, aus Leidenschaft begangene Tat, an der Ihre Schwester letzten Endes selber schuld ist, mit seinem Kopf büssen muss, wende ich mich zunächst an Sie. Ich bin bereit, meine Beweise für mich zu behalten und Assessor König nicht der Polizei auszuliefern. Als Gegendienst verlange ich von Ihnen den Betrag von 10 000 RM. in Zwanzig- und Fünfzigmarkscheinen.

Wenn Ihnen irgend etwas daran gelegen ist, dass König nicht zum Tode verurteilt wird, dann bringen Sie das Geld morgen abend um elf Uhr. Legen Sie es, in Papier eingewickelt, auf die Gartenmauer des Herderschen Grundstückes. Sie kennen es ja. Es liegt in der Amselallee, vier Häuser von Ihnen entfernt.

Ich sage es Ihnen gleich, dass es keinen Zweck hat, wenn Sie jemand davon benachrichtigen oder jemand mitbringen. Man wird mich doch nicht sehen, und die Folge wäre, dass ich leider gezwungen bin, anonym meine Beweise gegen König der Polizei zur Verfügung zu stellen. Verlassen Sie sich darauf, sie genügen, ihn einen Kopf kürzer zu machen.“

Die Buchstaben tanzen auf dem Papier vor Frau Jennys Augen. Eine Drohung! Ein Erpresserbrief! Ah, wenn es nur das wäre! Aber was der Unbekannte da schreibt — kann es nicht — wahr sein? Dass König in Graziella verliebt ist — hat sie das nicht selbst längst bemerkt? Hat es ihr nicht jedesmal einen leisen, ganz leisen Stich in der Brust gegeben, wenn er und die schöne, lustige Schwester so kameradschaftlich im gleichen Schritt und Tritt das Haus verliessen und nach Berlin zurückfuhren? Und Graziella war ein kleiner Teufel! Sie konnte unausstehlich sein, locken und lachen und dann wieder zurückstossen, quälen, peinigen. Heiliger Gott, wenn es wirklich so wäre! Wenn Werner König ...

Und warum nicht? Er hat selber damals am Telefon gesagt, dass er mit Graziella heftig gestritten habe, dass sie ihn empörend behandelte! Er war bei ihr auf der Fahrt, von der sie nicht wiederkehrte! Geraubt hat man Graziella nichts. All ihre Wertsachen sind bei ihr gefunden worden. Wer in aller Welt sollte einen Grund gehabt haben, sie zu töten? Werner König? Er ist ein braver, anständiger Mensch, ja, das ist er. Aber — kann nicht auch ein solcher Mann in wilder Leidenschaft etwas tun, das ... Ah, Jenny, Jenny! Hast du nicht selbst in dunkler Nacht oft tolle, furchtbare Gedanken gehabt, damals, als du merktest, dass du Werner König liebtest! Als du die Hoffnungslosigkeit deiner Liebe einsahst! Gedanken, vor denen du nachher am hellichten Tage selber erschrocken bist!

Ein Erpresserbrief! Irgendwo erinnert Jenny sich, einmal gelesen zu haben, dass man Erpresserbriefe ohne weiteres der Polizei übergeben soll. Wenn es sich um sie selber handelte — vielleicht würde sie das auch resolut tun. Aber es handelt sich ja um König! Kann sie, darf sie diesen Brief der Polizei zeigen? Wenn es nun ... wahr ist, was darinnen steht! Die arme Graziella ist tot. Nichts in der Welt kann das Geschehene ungeschehen machen. Soll Werner Königs Kopf unter dem Henkerbeil fallen für eine Tat, die er sicherlich nur im besinnungslosen Rausch der Leidenschaft und Wut begangen hat?

Nicht durch mich — jammert es in Frau Jennys Seele. Mag die Gerechtigkeit, die Polizei ihn finden und überführen, wenn Gott es will. Aber nicht ich! Nein, nicht ich will sein Richter sein!

Stundenlang hat Frau Jenny ihren armen Kopf zergrübelt über diesen Brief, und zuletzt war sie sogar etwas ruhiger geworden. „Am Ende ist es alles gar nicht wahr“, hat sie ganz nüchtern überlegt. „Ein schlechter Scherz oder eine dumme Drohung. Es ist ja zu grässlich. Werner König kann das nicht getan haben. Wenn es ein anderer wäre ... aber Werner?“

Da ist diese Vorladung gekommen und hat alle schrecklichen Gedanken von neuem aufgewühlt. Ist es doch so? Weiss die Polizei schon alles? Will man ihr mitteilen, dass Werner König der Täter ist? Oder gar sie ausfragen über ihn?

Morgen vormittag um 11 Uhr! Wenn es doch soweit wäre! Wenn man Gewissheit hätte!

Hugo Nerger ist in Berlin. Er kommt erst gegen drei Uhr nachts nach Hause. Frau Jenny liegt mit offenen, brennenden Augen, aber sie hört es kaum, dass ihr Mann draussen leise seine Schuhe auszieht und in sein Schlafzimmer geht. All ihre Gedanken sind bei dem Morgen. Um elf Uhr also!

*

Höchstens fünfundzwanzig, hübsch, ohne eine ausgesprochene, langweilige Schönheit zu sein, fein geschnittenes, bewegliches Gesicht, geschmackvolle Kleidung, — stellt Dr. Dykke im Handumdrehen fest, als ein Kriminalbeamter Frau Jenny in sein Dienstzimmer führt. „Warum ist sie bloss so aufgeregt? Na ja, der Tod ihrer Schwester ...“

„Dykke“, stellt er sich erhebend vor und zieht zuvorkommend einen Stuhl heran. „Bitte, nehmen Sie Platz, gnädige Frau. Ich habe Sie bitten lassen in der traurigen Angelegenheit Ihrer Schwester ...“

„Ja?“ Atemlos, mit zitternden Lippen, starrt Frau Jenny den Herrn an, der gar nicht so aussieht, wie sie sich einen Kriminalkommissar vorgestellt hat. Der menschenkundige Hotelportier würde ihn nicht anders rubrizieren können als unter dem Begriff „Gentleman“. Er könnte ebensogut Kaufmann wie Arzt, Ingenieur, Verwaltungsbeamter oder Offizier sein. Nur auf etwas Besonderes, Ausgefallenes würde kein Mensch raten, weder auf einen Kriminalisten oder einen harmlosen Onkel aus der Provinz. Dr. Dykke hat nichts Besonderes an sich, und das ist seine Stärke. Es laufen Zehntausende umher, die ihm ganz ähnlich sehen.

Auch seine Art, zu fragen, hat nichts Inquisitorisches oder auch nur Bürokratisches. Er spricht mit seiner Besucherin nicht anders, als ein Gentleman mit einer Dame plaudert, ruhig, oberflächlich, mit einem Unterton taktvollen Beileids über den traurigen Anlass des Besuches. Und doch fühlt Frau Jenny bei jedem Satz ein neues, heftiges Zittern in ihren Gliedern. Es ist klar, — es geht um Werner König! Der Beamte nennt ihn respektvoll „Herr Assessor König“ und erwähnt, dass er selber persönlich mit ihm bekannt ist. Aber er spricht den Namen zu oft aus für Frau Jennys angstvoll geschärftes Ohr, will zu viel wissen von ihm, Dinge, die doch wirklich nichts mit Graziellas Tod zu tun haben könnten, wenn nicht ... dieser Verdacht ... gegen Werner König bestände.

„Die helle Angst sitzt ihr ja in den Augen“, denkt Kommissar Dykke still während der Vernehmung. „Möcht ich nur wissen, warum sie so furchtbar aufgeregt ist.“

Eine farblose Stenotypistin tritt ein und macht stumm eine kleine Schreibmaschine bereit. Dr. Dykke lehnt sich ein wenig in seinen Sessel zurück und lächelt Frau Jenny ermunternd zu. „Es geht schnell und schmerzlos, liebe gnädige Frau. In einer Viertelstunde sind Sie von mir erlöst. Wollen nur schnell noch einmal rekapitulieren. Bitte, unterbrechen Sie mich nur, wenn ich etwas unrichtig ausdrücke.“ Und Dr. Dykkes beginnt zu wiederholen, was Frau Jenny gesagt hat, formt kurze, klare Sätze, wirft nur hier und da einen fragenden Blick auf seine Besucherin. Unaufhörlich klappert die kleine Schreibmaschine.

„Stimmt das, gnädige Frau?“

Jenny Nerger nickt gequält und sieht sich nach einem Federhalter um. Sie würde unterschreiben, was immer man von ihr will. Nur fort von hier! Hinaus auf die Strasse! Denken! Überlegen!

„Einen Augenblick noch“, lächelt Dr. Dykke höflich. „Lesen Sie bitte mal vor, Fräulein.“

Merkwürdig, was das farblose, unpersönliche Mädchen an der Schreibmaschine für eine helle, freundliche Stimme hat — denkt Frau Jenny, „wie kann eine so helle Mädchenstimme nur Tag für Tag so entsetzliche Dinge vorlesen!“

Vernehmung.

In der Mordsache Holm

erscheint vorgeladen Frau Jenny Nerger und gibt auf Befragen an:

Zu den Personalien: Ich heisse Jenny Nerger, geborene Holm, Ehefrau des Kaufmanns Hugo Nerger, geb. am 18. 12. 1912 zu Hamburg, wohnhaft Berlin-Kladow, Amselallee 14, evangelisch, unbescholten.

Zur Sache erklärt Frau Nerger:

Es ist richtig, dass ich Herrn Assessor König gebeten habe, nach Stralsund zu fahren und meine Schwester Graziella zur Rückkehr nach Berlin zu bewegen. Graziella hatte sich gegen den Willen ihrer Familie zur Tänzerin ausbilden lassen. Wir liessen es zu, da wir nicht daran glaubten, dass sie wirklich auftreten würde. Die Nachricht, dass sie ein Engagement in Stralsund angenommen hatte, versetzte meinen Mann und mich in höchste Erregung. Wir sahen voraus, dass Graziellas ganze Familie darüber empört sein würde, besonders ihre Tante, Frau verwitwete Kammerherrin Scalte in Kopenhagen, die ihr viel Gutes erwiesen hat. Auch war ich der Ansicht, dass dieser Beruf für meine noch unerfahrene und etwas übermütige Schwester zum Verhängnis werden würde. Assessor König übernahm es als Freund unseres Hauses, Graziella aufzusuchen. Über den Hergang seiner Zusammenkunft hat er mir am 18. Juni, etwa gegen acht Uhr abends, telefonisch Nachricht gegeben. Ich war über das Verhalten meiner Schwester sehr aufgebracht, bat aber Herrn König, trotzdem noch einmal einen Versuch zu machen, sie umzustimmen. Ich habe dann erst wieder mit Herrn König gesprochen, als er nach Berlin zurückkam und uns aufsuchte.

Herr König hat meine Schwester vor etwa einem Jahr in unserem Hause kennengelernt. Die beiden waren meines Wissens gute Freunde. Sie trafen sich öfters bei uns und sind auch in Berlin öfter zusammengekommen und gemeinsam ausgegangen. Ein Liebesverhältnis hat zwischen ihnen bestimmt nicht bestanden. Ich hatte aber den Eindruck, dass Herr König sich sehr für Graziella interessierte. Deshalb bat ich ihn auch um den Dienst, sie in Stralsund aufzusuchen. Ich glaube nicht, dass Graziella sonst ein intimes Verhältnis mit jemand gehabt hat. Sie verkehrte ausser mit Herrn König, meinem Mann und mir meines Wissens nur mit einigen jungen Leuten aus der Blendorfschen Tanzschule. Das Verhältnis zwischen Graziella und mir war ein gutes. Ich habe ihr oft vorgehalten, dass es unsinnig von ihr sei, zur Bühne gehen zu wollen, und wir haben uns auch wohl darüber gestritten. Zu einer ernsten Auseinandersetzung ist es aber nie gekommen. Graziella hörte mich immer lachend an und tat doch, was sie wollte.

Ich habe keinerlei Vermutung darüber, wer der Täter sein könnte.

v. g. u.

„Bitte, hier, gnädige Frau!“ Dr. Dykke reicht zuvorkommend der aufgestandenen Frau Jenny seinen Füllfederhalter. „Meinen aufrichtigen Dank, dass Sie gekommen sind. Es liess sich leider nicht vermeiden. Sie persönlich zu bemühen. Im Interesse der Sache — wir wollen ja alle nichts weiter, als den tragischen Tod der armen Graziella aufklären und den Mörder seiner gerechten Strafe zuführen — nicht wahr, liebe gnädige Frau!“

*

„Ist Ihnen auch aufgefallen, wie schreckhaft erregt die kleine Frau war?“ fragt Dr. Dykke fünf Minuten später den Kriminal-Assistenten Henneberg, der im Nebenzimmer geruhsam Wort für Wort der Unterhaltung mitstenographiert hat.

„Ist schliesslich kein Wunder, Herr Kommissar. So ’ne Mordsache, noch dazu die eigene Schwester, das kann auch einen Stärkeren umwerfen.“

Dr. Dykke setzt sich auf die Kante des Schreibtisches und spielt nachdenklich mit einem Lineal. „Wenn Frau Nerger erst heute oder gestern davon erfahren hätte, würde ich ebenso sprechen, Henneberg. Aber jetzt, nach so viel Tagen, müsste sie eigentlich schon ruhiger sein. Zumal, da das Verhör ihr ja keine Neuigkeiten über den Fall entdeckt hat. Aber sie kam ja schon mit so grossen, angstvollen Augen her.“

„Ja, das ist mir auch aufgefallen. Sie zitterte förmlich, als sie hereinkam und mir die Vorladung hinhielt.“

„Sehen Sie. Und gestern hat sie, wie Sie mir erzählten, angerufen und gefragt, in welcher Sache sie vorgeladen sei. Das versteh ich nicht. Ihre Schwester ist unter dunklen Umständen ermordet worden — da muss sie doch geradezu erwarten, dass sie vernommen wird.“

„Frauen denken manchmal nicht so weit, Herr Kommissar.“

„Nee“, sagt Dr. Dykke energisch, „so unintelligent sieht Frau Nerger nicht aus. Es ist da etwas ... Herrgott noch mal, wann werden die Leute endlich lernen, Vertrauen zu uns zu haben! Na, schön! Frau Nerger steht vorläufig unter Beobachtung.“

Der Assistent sieht überrascht auf. Dr. Dykke zuckt die Achseln. „Wir tappen im Dunkeln, mein Lieber, und müssen uns an jede Möglichkeit klammern. Vielleicht ergibt die Beobachtung irgend etwas, das auf eine Spur leiten könnte.“

„Persönliche Überwachung, Herr Kommissar?“

„Vorläufig nicht. Ich werde bei der Staatsanwaltschaft beantragen, dass im Interesse der Untersuchung Post und Telefon überwacht werden. Dazu möchte ich genaue Auskunft über die Familie Nerger haben. Herkunft, Vermögensverhältnisse, Leumund und so weiter.“

„Und was ist mit Assessor König?“

„Bleibt natürlich auch weiter unter Beobachtung. Hat selber darum gebeten und sich vorläufig vom Dienst suspendieren lassen. Na, man los, Henneberg, die nächste Sache! Der Raubmord in der Dragonerstrasse!“

*

Krim.-Insp. II.

Ermittlungsbericht.

In der Mordsache Holm

habe ich im Auftrag des Krim.-Komm. Dr. Dykke über Eberhard Brüggemann folgendes festgestellt:

Eberhard Brüggemann, Ingenieur, geb. 2. 4. 1894 zu Dortmund, ist seit 1921 in Berlin polizeilich gemeldet und wohnt zur Zeit in Berlin-Halensee, Georg-Wilhelm-Strasse 99. Er ist verheiratet mit Frau Margarete Brüggemann, geborene Hosetzky. Beide sind bisher unbescholten und erfreuen sich eines guten Leumunds.

B. ist seit 1926 als Ingenieur bei der Firma Grün & Bilfinger, Hoch- und Tiefbauunternehmen, angestellt und bezieht ein festes Gehalt von 500 RM. Am 1. Mai ist er im Auftrag seiner Firma nach Stralsund gefahren, um beim Bau des Rügendammes mitzuwirken. Am 19. Juni ist er beurlaubt worden und nach Berlin gefahren. Er ist am 19. Juni abends hier eingetroffen und hat sich sofort in seine Wohnung begeben. Am 22., nach Ablauf seines Urlaubs, ist er nach Stralsund zurückgefahren.

Beziehungen des Brüggemann zu der Ermordeten oder zu Assessor König sind nicht festzustellen.

Berlin, den 27. Juni.

gez. Vosswinkel, Krim.-Wachtm.

*

Krim.-Insp. II.

Ermittlungsbericht.

In der Mordsache Holm

habe ich im Auftrag des Krim.-Komm. Dr. Dykke über das Ehepaar Hans Schwarz folgendes festgestellt:

Dr. Hans Schwarz, geb. 15. 8. 1893, wohnhaft Berlin W, Kurfürstenstr. 303, ist seit 1932 hier polizeilich gemeldet, zugezogen aus München, Arnulfstr. 2.

Schwarz ist Syndikus bei der Radio-Export AG. und lebt in geordneten, wohlhabenden Verhältnissen. Er ist seit 1927 verheiratet mit Frau Adele Schwarz, geb. Petter.

Nachteiliges ist über das Ehepaar nicht bekannt.

Dr. Schwarz ist am 15. Mai mit seiner Frau nach Rügen gefahren und hat sich bis zum 17. Juni in Binz im Kurhotel aufgehalten. Auf der Rückreise ist das Ehepaar einen Tag in Stralsund geblieben und hat dort am 18. Juni im „Berliner Hof“ übernachtet. Am 19. Juni abends sind sie in Berlin angekommen und haben Berlin seither nicht mehr verlassen.

Dr. Schwarz und Frau sind weder mit der Ermordeten noch mit Assessor König bekannt.

Berlin, den 27. Juni.

gez. Lenz, Krim.-Wachtm.

*

Krim.-Insp. II.

Ermittlungsbericht.

In der Mordsache Holm

habe ich im Auftrag des Krim.-Komm. Dr. Dykke über das Ehepaar Nerger, Berlin-Kladow, Amselallee 14, folgendes festgestellt:

Herr und Frau Nerger sind seit 1932 in Berlin polizeilich gemeldet, wohnhaft in Kladow, Amselallee 14.

Hugo Nerger, geb. am 11. 3. 1900 zu Breslau, hat nach Absolvierung der Handelshochschule im Jahre 1922 ein eigenes Geschäft unter der Firma Hugo Nerger, Terrainverwertungs-Ges. eröffnet, das jedoch bereits 1924 in Liquidation trat. Seit 1925 ist er als Vertreter mehrerer namhafter Firmen tätig gewesen. Seit 1930 betätigt er sich als Grundstücksmakler und soll nebenbei sich mit kleineren Börsenspekulationen befassen. Nerger war von 1922 bis 1924 verheiratet mit Frau Lina Nerger, geborene Kluczik. Die Ehe wurde 1924 vom Amtsgericht I Breslau geschieden. Nerger wurde für den schuldigen Teil erklärt. Seine geschiedene Frau lebt in Breslau. Sie steht nicht mehr in Verbindung mit ihm. Im Jahre 1930 hat Nerger sich zum zweiten Male verheiratet mit Jenny Holm, Tochter des verstorbenen Reeders Holm zu Hamburg und dessen Ehefrau Alice, geborene Scalte.

Ausser seinem Verdienst, der auf monatlich 500 RM. geschätzt wird, besitzt Hugo Nerger kein nachweisliches eigenes Vermögen. Dagegen verfügt seine Frau von ihren Eltern her über etwas Vermögen. Auch das Haus Kladow, Amselallee 14, ist im Grundbuch auf ihren Namen eingetragen. Die Ehegatten leben in Gütertrennung.

Nerger gilt als Lebemann. Er ist häufiger Gast auf den Rennplätzen und besucht ebenso häufig — ohne seine Frau — verschiedene Bars und Nachtlokale im Berliner Westen. Nachweisbare Schulden hat er jedoch in diesen Lokalen nicht. Seine häufigen grossen Geldausgaben in den Nachtlokalen werden durch gelegentliche Renngewinne erklärt. Nerger war 1928 in den Betrugsprozess gegen die Inhaber der Firma Kahn & Moosheim verwickelt, wurde jedoch nicht unter Anklage gestellt (siehe Prozessakten JI 77 291/28). Seit seiner zweiten Verheiratung ist über sein geschäftliches Gebaren nichts Unvorteilhaftes bekannt. Sein persönlicher Leumund dagegen ist schlecht. Er unterhielt in den letzten Jahren mehrere Liebschaften und stand u. a. in intimen Beziehungen zu einer als Barfrau tätigen ledigen Maria Sanders, genannt „Monna“. Nichtsdestoweniger scheint seine Ehe mit Jenny Holm glücklich zu sein. Stattgehabte Streitigkeiten der Eheleute sind nicht bekannt.

Die ermordete Graziella Holm stand zu Hugo Nerger nur in losen, verwandtschaftlichen Beziehungen. Sie ist nie mit ihm zusammen, ohne Beisein Frau Nergers, beobachtet worden.

Am Mordtage, dem 18. Juni, ist Hugo Nerger vormittags in seinem Büro gewesen. In der kritischen Zeit zwischen 14 und 16 Uhr hat er zusammen mit einem Geschäftsfreund namens Bauer im Berliner Kindl am Kurfürstendamm zu Mittag gegessen. Der Geschäftsführer und mehrere Angestellte, die Nerger persönlich kennen, bezeugen dies. Etwa um 17 Uhr ist Nerger dann nach Hause gekommen und den Abend über dort geblieben.

Frau Nerger, geborene Holm, entstammt einer angesehenen Hamburger Familie und erfreut sich sowohl in ihrer Heimatstadt wie an ihrem jetzigen Wohnort des besten Leumunds. Sie wird von ihren Bekannten als eine ruhige, vornehm denkende Frau bezeichnet. Zu ihrer Schwester Graziella stand sie in durchaus gutem Verhältnis.

Am 18. Juni hat Frau Nerger etwa gegen Mittag bei dem Kaufmann Junner in Kladow Einkäufe getätigt und ist, wie ihr Hausmädchen bestätigt, dann bis fünf Uhr zu Hause gewesen. Darauf ist sie mit ihrem Wagen nach Spandau gefahren, wo sie in der Zeit zwischen sechs und sieben Uhr in mehreren Geschäften Einkäufe gemacht hat. Kurz nach sieben Uhr war sie wieder zu Hause und hat dann mit Assessor König fernmündlich gesprochen.

Assessor König ist häufig Gast im Hause Nergers, scheint jedoch mehr Frau Nerger und deren Schwester freundschaftlich verbunden zu sein als Herrn Nerger selbst. Seine Bekanntschaft mit den Damen stammt aus dem Jahre 1926, wo er die damals noch unverheiratete Frau Nerger in Hamburg kennenlernte.

Berlin, den 30. Juni.

gez. Henneberg, Krim.-Ass.

*

Krim.-Insp. II.

Ermittlungsbericht.

In der Mordsache Holm

habe ich im Auftrag des Krim.-Komm. Dr. Dykke über den Verbleib des am 19. Juni aus Stralsund abgereisten Herrn J. H. Bodger aus Liverpool, England, Ermittlungen angestellt.

Ein J. H. Bodger, Liverpool, England, ist in Berlin polizeilich nicht gemeldet.

Die hier wohnenden Personen namens Bodger sind deutsche Staatsangehörige und mit ihm nicht identisch. Auch sind sie im Juni d. J. nicht in Stralsund gewesen.

Die Listen der Fremdenpolizei weisen ebenfalls keine Person dieses Namens auf. Die von mir im Verein mit Krim.-Wachtm. Bornewasser von der Fremdenpolizei in den Gasthöfen vorgenommenen Ermittlungen haben ergeben, dass ein J. H. Bodger am 19. Juni oder später nirgends in einem Berliner Gasthof abgestiegen ist.

Es steht zu vermuten, dass J. H. Bodger von Berlin aus ohne Aufenthalt weitergereist ist.

Berlin, den 30. Juni.

gez. Schild, Krim.-Wachtm.

Der rote Faden

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