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2. Kapitel

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„Noch eine Ladung Post, Herr Bruhn!“

Peter Bruhn steht in seinem Zimmer im zweiten Stock des Hotels d’Angleterre und blickt mit ehrlichem Entsetzen auf den Haufen Briefe, den ihm der Zimmerkellner eben mit zuvorkommendem, diskretem Lächeln auf den Tisch legt. Großer Kaiser von China! Das ist nun schon der dritte Haufen heute! Nie hätte Peter Bruhn gedacht, daß es soviel heiratslustige junge Mädchen in Kopenhagen geben könne, und eine kleine Reue beginnt ihn zu erfassen, daß er den „nicht mehr ungewöhnlichen Weg“ einer Zeitungsannonce eingeschlagen hat, um sich eine Lebensgefährtin zu suchen. Aber was soll man tun, wenn man als Fremdling aus Übersee hierherkommt, den europäischen Verhältnissen entfremdet und gänzlich ohne Bekanntschaften und Verbindungen ist? Schöne junge Mädchen gibt’s zwar auch drüben in Rio genug, und Peter Bruhn hat unter den Palmen am Meeresstrand da drüben schon in manch zärtlich funkelndes Glutauge geblickt, das wohl einen Mann glücklich machen könnte. Aber wenn er an eine Lebenskameradin dachte, so hat ihm immer etwas ganz anderes vorgeschwebt, etwas Helles, Frisches, von Nordseebrise und Heimatduft Umwehtes, und er hat sich geschworen, sich seine Frau aus dem alten Lande einmal zu holen, aus Norddeutschland oder Skandinavien, und als ihn die Geschäfte zu dieser Reise nach Kopenhagen zwangen, hat er den festen Entschluß gefaßt, nicht ohne die Erfüllung seines Traumes zurückzukehren.

Die Fenster stehen offen. Draußen, um die Reiterstatue auf dem Kongens Nytorv, duften die Rhododendren, von Nyhavn her weht die starke, teergewürzte Hafenluft, überfüllte Straßenbahnwagen mit sommerlich hell und bunt gekleideten fröhlichen Menschen klingeln vorüber. Irgendein Festtag mußte heute sein, denn von allen Dächern und Fenstern weht das gleißende Rot und das weiße Kreuz des Daneborg.

Hell scheint die Frühlingssonne. Es müßte schön sein, jetzt mit den anderen Fröhlichen hinauszufahren in die Buchenwälder von Skofsborg und Klampenborg oder in einem Segelboot auf dem blauen Oeresund zu liegen. Peter Bruhn seufzte ein wenig, und der Blick, den er den Briefen auf dem Tisch sendet, ist wenig freundlich. Aber — Peter Bruhn ist ein korrekter Mann, ein Pflichtmensch, der nicht ins Vergnügen zu steigen vermag, solange noch eine Arbeit auf ihn wartet. So setzt er sich also etwas mißmutig an den Schreibtisch und beginnt seine Post durchzusehen. Manchmal schüttelt er den Kopf, manchmal muß er hell auflachen bei der Lektüre. Ein unglaubliches Durcheinander von Angeboten und Zuschriften, die man schon sorgfältig studieren muß, um sich ein Bild von den einzelnen Schreiberinnen machen zu können. Da sind kindlich-naive Zuschriften von Mädels, die wahrscheinlich noch in irgendeinem Lyzeum die Schulbank drücken, andere Briefe, denen man es direkt ansieht, daß sie aus Ulk geschrieben sind. Da sind zynisch offene Angebote von Damen, denen es nur auf eine finanzkräftige Herrenbekanntschaft ankommt, sentimentale Briefe von „Hausmütterchen“ und „Sonnenscheinehen“. Da sind Angebote von Dienstmädchen, die wie Bewerbungsschreiben um irgendeine geschäftliche Stellung anmuten, junge Frauen und Witwen, die mit „Ersparnissen“ und „gemütlich eingerichteten Wohnungen“ locken, vielversprechende Angebote von zünftigen Ehevermittlungsbüros und Briefe, denen man den Ernst anmerkt, der dahintersteckt, die unerfüllte Sehnsucht nach einem glücklichen kleinen Heim.

Mit den Bedingungen, die im Inserat gestellt waren, nehmen es die meisten Schreiberinnen nicht so genau. „Ich bin zwar dunkelblond, aber ...“ — „Ich bin allerdings kein Backfisch mehr, sondern eine gereifte Frau, aber ...“

Peter Bruhn legt einen Brief nach dem anderen kopfschüttelnd zur Seite. Auch die Fotos, die den meisten beiliegen. Ein halbes Dutzend ungefähr sind darunter, die ihm wohl gefallen könnten. Junge, gute Mädchengesichter. Auch die dazugehörigen Briefe sind recht ansprechend. Aber je länger Peter Bruhn vergleicht und überlegt, um so stärker kommt ihm zum Bewußtsein, daß es unmöglich ist, auf diese Weise eine Entscheidung zu treffen. Man müßte sie dann alle persönlich sehen und kennenlernen, und das geht doch nicht gut. Nein, der Gedanke mit der Zeitungsannonce war verkehrt.

Gewissenhaft beginnt Peter Bruhn die mühselige Arbeit, sämtliche Fotos wieder in Briefumschläge zu packen und eine kurze, aber höflich gehaltene Absage dazuzuschreiben. Die Uhr zeigt bereits fünf Uhr nachmittags, als er mit der Arbeit fertig ist.

*

In derselben Stunde schließt der Kontorist Olaf West, in Firma Skovbäk & Co., sein Schreibpult und wäscht sich draußen im Waschraum genießerisch langsam die Hände, mit dem guten Gewissen eines Mannes, der sein Tagewerk vollbracht hat und dem ein wohlverdienter gemütlicher Feierabend winkt.

„’n Abend, West!“

„Kommen Sie heute abend ins Café National?“

Olaf West erwidert freundlich die Grüße der Kollegen, die mit ihm über die Treppe des Handelshauses hinunterströmen. Eben, als er auf die Straße treten will, geht Fräulein Sörensen an ihm vorbei, das Fräulein von der Telefonzentrale der Firma. Olaf West beschleunigt ein wenig seine Schritte und holt sie ein.

„Fahren Sie auch mit der Linie 6, Fräulein Sörensen?“

Die schlanke Braunhaarige mit den frauenhaften Bewegungen schaut gleichgültig auf. „Nein, ich fahre nach Charlottenlund hinaus heute. Will mal ein bißchen frische Luft schnappen.“

„Das ist nett.“ Olaf West paßt seinen Schritt dem Mädchen an und hält sich an ihrer Seite. „Frische Luft kann ich auch gebrauchen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die gleiche Bahn benutze wie Sie, Fräulein Sörensen?“

„Warum sollte ich?“

Sie stehen an der Haltestelle und warten. Sprechen vom Geschäft, von den Kollegen, von all den hundert kleinen Nichtigkeiten des Alltags. Niemand kann etwas Besonderes dabei finden. Zwei Menschen aus dem gleichen Geschäft, die sich auf dem Nachhausewege gleichmütig unterhalten. Sonst nichts. Es fällt auch keinem der Kollegen, die vorübergehen und die beiden sehen, ein, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Man weiß, daß zwischen Olaf West und Fräulein Sörensen absolut kein näheres Freundschaftsverhältnis besteht. Sie wechseln höchstens hier und da ein paar kollegial-freundschaftliche Worte im Betrieb, in der Frühstückspause oder beim Nachhausegehen. Überdies gilt die Sörensen für eine kalte, hochmütige Natur, die selbst einem harmlosen Flirt im Büro eisig aus dem Wege geht.

Auch während der langen Fahrt sprechen Olaf West und Elna Sörensen nur Alltägliches miteinander. Nicht einmal der Kriminalist Dr. Holk würde etwas Verdächtiges darin finden, daß der Kontorist Olaf West sich mit seiner Kollegin Sörensen unterhält, die zufällig wie er selbst nach Geschäftsschluß vor die Stadt hinausfährt, um sich ein bißchen von der frischen Abendluft den Staub aus den Lungen wehen zu lassen.

Auch daß die beiden an der Endstation den Wagen verlassen und gemeinsam die Richtung nach der Eremitage einschlagen, ist nicht auffallend. Warum sollen sie nicht, da sie nun einmal zusammen herausgefahren sind, den Spaziergang gemeinsam fortsetzen? Aber Dr. Holk würde viel darum gegeben haben, wenn er die Unterredung hätte belauschen können, die Olaf West und Elna Sörensen miteinander führen, als sie erst draußen auf der freien Wiese der Eremitage sind, in einer Einsamkeit, wo es keine Gebüsche und Bäume gibt, hinter denen irgendein Unbefugter ihr Gespräch belauschen kann.

Der gleichgültig-müde Gesichtsausdruck Elna Sörensens ist plötzlich verschwunden. Die Qual eines zerrissenen Menschenherzens steht auf einmal groß und verzweifelt darin.

„Wann soll das nun enden, Olaf?“ stößt sie jäh hervor, gleichsam als würfe sie eine lästige, schmerzende Maske von sich. „Ich kann das nicht mehr lange aushalten. So oder so, wir müssen zu einer Entscheidung kommen!“

„Aber Elna!“ Olaf West läßt im Sprechen fortwährend mißtrauisch seine Augen über die einsamen Wiesen schweifen, jeden Moment bereit, abzubrechen, wenn irgendwo ein Mensch auftauchen sollte. „Meinst du, es sei für mich angenehm, dich entbehren zu müssen? Aber es geht doch nicht anders. Unsere einzige Chance liegt darin, daß niemand, aber auch niemand weiß, wie nahe wir beide einander stehen.“

Elna Sörensen atmet tief und erregt. „Ja, das hast du gesagt damals, als ich die Stelle bei Skovbäk & Co. bekam. Ein Jahr, hast du gesagt, dann bin ich obenauf, dann können wir wegfahren und die ganze Welt auslachen. Ein Jahr! Nun geht es schon ins dritte Jahr, Olaf, und ich muß noch immer die widerwärtige Komödie spielen. Siehst du denn nicht, daß ich dabei kaputt gehe?“

Olaf West hat einen finsteren Zug im Gesicht. „Ich gebe zu, es hat nicht alles so geklappt, wie ich hoffte. Du weißt es ja selbst, die Ausbeute ist geringer gewesen, als wir dachten. Noch reicht es nicht hin und nicht her, trotz aller Sparsamkeit. Wir müssen die Ohren steif halten, Elna, und abwarten.“

Die junge Frau schweigt und heftet den Blick auf den Rasen, über den sie schreiten. „Du hast leicht reden, Olaf. Ein Mann versteht das nicht. Ein Mann hat’s leicht. Aber ich? Ist das denn noch ein Leben, Tag für Tag um dich sein zu müssen als eine Fremde, eine Kollegin, die nur ein paar gleichgültige Worte für dich haben darf? Höchstens daß wir alle vier Wochen mal wie heute uns ein paar Stunden stehlen dürfen, heimlich, unter freiem Himmel wie zwei Obdachlose.“ Sie bleibt plötzlich stehen und sieht den Mann aus angstvoll flehenden Augen an. „Olaf! Ich hab’ dich früher schon darum gebeten und tu es noch einmal! Du bist seit drei Jahren für die Welt der Kontorist West. Kannst du es nicht — für immer bleiben? Sieh mal, du hast doch nun schon ein Schönes Stück Geld liegen. Und wenn’s nicht langt für ein Leben in Südamerika, wie du es dir denkst, für ein kleines Heim in Kopenhagen, für den Kontoristen West und seine Frau langt es bestimmt. Wer kann dir etwas anhaben, wenn du eines Tages — deine Kollegin Sörensen heiratest? Wir könnten uns ineinander verlieben.“ Ihre Augen schimmern feucht, während ein verstohlenes Lächeln um ihren Mund zittert. „Wir könnten langsam das ganze Büro an den Gedanken gewöhnen, daß sich ein enges Verhältnis zwischen uns anspinnt. Die Rolle würde ich viel besser spielen können, Olaf!“

Olaf West lacht hart auf. „Vor zwei Jahren hätten wir das machen können, Elna. Heute nicht mehr. Du weißt doch, daß die Polizei mich längst im Verdacht hat. Dieser verdammte Dr. Holk hat mir damals, als ich im Verhör war, die Seele aus dem Leib gefragt. Er hat mich laufen lassen müssen, aber ich sah es ihm deutlich an: er glaubte mir nicht. Und der Hund ist schlau. Wenn wir beide plötzlich heirateten, glaub mir, der Mann würde sich sofort für dich lebhaft interessieren und schneller, als uns beiden lieb ist, heraushaben, daß wir uns schon viel länger kennen, als es scheint. Was willst du machen, wenn er eines Tages in dem kleinen Heim, von dem du faselst, erscheint und um Einsicht in unseren Trauschein bittet? Wie? Willst du ihm etwa unseren alten Trauschein aus dem Jahre 1926 aus dem Staate New Jersey vorlegen?“

Die Frau stöhnt schmerzvoll auf, und plötzlich reckt sie sich und wirft wild beide Arme um den Hals des Mannes. „Liebst du mich noch, Olaf? Sag mir, daß du mich noch liebst!“

„Dumme Frage von dir, Kindchen!“ Olaf West erwidert heftig den Kuß, läßt aber gleich darauf wieder seine vorsichtigen Augen spähend über die Ebene gehen. „Wofür kämpfe ich denn die ganze Zeit? Doch nur für uns! Damit wir endlich, endlich mal aus dem ganzen Dreck herauskönnen und zusammen drüben in Argentinien oder Brasilien ein neues Leben anfangen. Ein Heim, Elna!“ Seine Stimme wird einschmeichelnd weich und suggestiv. „Ein Heim, so wie du es dir träumst. Ohne Sorgen, ohne Versteckenspielen. Ein Garten, ein kleines Auto.,,—

„Ach, Olaf, daran glaubst du ja selber nicht!“ Elna schüttelte wehmütig den Kopf und löst langsam ihre Arme von seinem Hals. „Wenn du das wolltest, dann würdest du die ganze Sache aufgeben und bleiben, was du bist: ein anständiger kleiner Kontorist. Das Heim, nach dem ich mich sehne, würden wir auch hier finden. Es braucht gar kein Auto und kein Bankkonto dabei zu sein. Aber du willst ja nicht. Du wirst immer der Abenteurer bleiben, der mit einer unheimlichen Zähigkeit irgendeinem gefährlichen Ziel nachjagt!“

Olaf Wests Augen blitzen eine Sekunde hart auf, während er Elna zum Weitergehen zwingt. „Gut, daß du mich an das Ziel erinnerst, Elna. Mein ganzes Leben lang Kontorist bleiben, jeden Tag acht Stunden lang in einem muffigen Kontor sitzen und schuften für 250 Kronen Monatsgehalt — nein, da hast du recht. Das ist nichts für mich. Und für dich auch nicht, Kind! Bilde dir nicht ein, daß wir beide glücklich sein könnten. Wenn die Krippe leer ist, beißen sich die friedlichsten Gäule. Je schneller wir hier zu Ende kommen, um so besser für uns beide. Und jetzt ist eben eine Gelegenheit, mit einem Schlage dieses traurige Leben loszuwerden.“

Olaf West schweigt einen Augenblick und wägt noch einmal einen lange durchdachten Plan ab. Dann sagt er leise: „Du kennst doch den alten Etatsrat Hjort?“

„Den stillen Teilhaber von Skovbäk?“ Elna schaut verwundert auf. „Natürlich. Der alte Herr ist immer so lieb und nett zu mir, wenn er ins Kontor kommt. So ganz Kavalier der alten Schule. Man ist unwillkürlich in Versuchung, ‚Onkel‘ zu ihm zu sagen.“

Olaf West überhört den „Onkel“. Seine Gedanken gehen intensiv ganz andere Wege. Sein Gesicht ist plötzlich steinhart und verschlossen. „Alles, was du zu tun hast, Elna, ist folgendes: Der alte Hjort kommt gewöhnlich zu Ultimo ins Kontor. Das wäre übermorgen. Wenn er wieder zurückkommt von seiner Unterredung mit unserem Chef, brauchst du ihm nur zu sagen, ein Herr Lorenzen habe angerufen und ihn gebeten, in einer dringenden Angelegenheit sofort nach Valby zu kommen.“

„Wer ist Herr Lorenzen?“

„Ohne Interesse für dich.“ Olaf West zuckte ungeduldig die Achseln. „Ein guter Bekannter vom Etatsrat Hjort. Ich hab’ mich genau über seine Verbindungen orientiert.“

„Und dann?“ Eine angstvolle Frage steht in Elnas großen Augen. West sieht mit unheimlicher Entschlossenheit vor sich hin.

„Die Sache ist einfach. Niemand kann dir einen Vorwurf machen. Der Telefonanruf war fingiert. Von unserm Büro bis nach Valby sind es mit dem Auto gute drei Viertelstunden. Zurück ebenfalls. In dieser Zeit wird die Wohnung Hjorts am Solitudevej leer sein, denn seine alte Haushälterin zählt nicht. Er ist — ganz recht — ein Mann der alten Schule. Verwahrt ein hübsches Sümmchen in seinem Sekretär statt auf der Bank. Auch wertvollen Familienschmuck besitzt der Mann noch, aber keinen Tresor. Ein Kinderspiel ...“

„Nein!“ sagt Elna Sörensen plötzlich atemlos. „Ich tu es nicht, Olaf!“

Mit freundlichem, überlegenem Lächeln sieht der Mann auf ihr erregtes Gesicht nieder. „Natürlich wirst du es tun, Elna. Wenn mir dieser eine Schlag noch gelingt, dann verspreche ich dir — dann machen wir uns aus dem Staube. Dann brauchst du nicht mehr einsam zu sein und nicht mehr fremd neben mir herzugehen. Also am Ultimo, Elna, nicht wahr?“

Es zuckt in dem Gesicht der Frau. Ein verzweifelter Kampf steht darin. Groß und gebieterisch ruhen die Augen Olaf Wests auf ihr, aber diesmal ist es, als ob etwas Fremdes sich wie ein Schleier zwischen sie und die Augen der Frau schöbe.

„Nein,“ sagt Elna noch einmal mit fester Stimme. „Du magst sagen, was du willst, Olaf. Diesmal tue ich nicht mit. Ich will überhaupt nicht mehr. Tu, was du nicht lassen kannst, aber ohne mich!“

„Elna!“ Olaf Wests Stimme ist wie eine dunkle Drohung, aber die Frau gibt seinen Blick fest zurück.

„Es hat keinen Zweck, Olaf, daß du noch einmal davon redest. Ich will nicht! Und jetzt sind wir wieder am Strandweg. Es ist wohl besser, wenn ich allein in die Stadt zurückfahre. Gute Nacht, Olaf!“

Olaf West starrt der Frau nach, die mit eiligen Schritten zur Haltestelle geht und richtig noch den abfahrtbereiten Wagen der Straßenbahn erwischt. Erst als die Lichter des Wagens in der Ferne verblinken, reißt er sich zusammen und schlendert nachdenklich zu dem kleinen Restaurant an der Landungsbrücke der Küstendampfer.

„Sie entgleitet mir,“ denkt er erbittert, während er einen Toddy hinunterstürzt. „Verdammt noch mal, das Mädel beginnt mir aus der Hand zu gleiten! Ich bin zu wenig zusammen mit ihr! Wenn ich Gelegenheit hätte, sie zu besuchen oder sonst täglich mit ihr zusammen zu sein, wäre das nicht möglich. Das muß anders werden!“

Und Olaf West grübelt den Rest des Abends darüber nach, wie es möglich ist, den verlorenen Einfluß auf Elna wiederzugewinnen, ohne daß Dr. Holk Wind bekommt von einem näheren Verhältnis zwischen ihm und der Telefonistin der Firma Skovbäk u. Co.

*

„Nun, Fräulein Vinge? Eine Nachricht?“

„Er hat geschrieben, Herr Doktor.“ Ellen Vinge legt mit etwas enttäuschtem Gesicht einen Brief vor Dr. Holk hin. „Aber nur eine Absage. Auch mein Bild schickt er zurück. Es scheint ihm nicht zu gefallen.“

„Na, na, keine gekränkte Eitelkeit, kleines Fräulein. Ist eigentlich ein Kompliment für Sie, daß Sie nicht der Typ eines Mädchenhändlers sind. Aber für unsere Zwecke ist’s allerdings nicht sehr erfreulich. Na, sehen wir mal, was er schreibt.“

Es ist nur ein zweizeiliger, handschriftlicher Brief, den der Kommissar in den Händen hält, aber er liest mit gespannter Aufmerksamkeit jedes Wort, dreht und wendet auch dann noch bedächtig den Brief in seiner Hand. „Hm — Tja. — Anständiges, gutes Papier. Auch der Briefstil deutet auf einen kultivierten Menschen hin. Scheint eine besondere Klasse zu sein, dieser — wie unterschreibt er sich denn? — Peter Bruhn! Hm. Kein Titel? Kein Adelsname oder so was? Das sieht ja nun eigentlich nicht nach einem Hochstapler aus. Donnerwetter! Auf dem Briefumschlag hat er sogar seine Adresse vermerkt: Peter Bruhn. Hotel d’Angleterre! Hm. Kann natürlich Falle sein. Wollen wir doch gleich mal ...“ Dr. Holk greift nach dem Hörer und läßt sich mit dem Portier des Hotels d’Angleterre verbinden, ohne seinen Namen zu nennen. Nach ein paar Minuten legt er bedächtig den Hörer wieder hin.

„Hm. Ein Herr Peter Bruhn wohnt tatsächlich seit fünf Tagen im Hotel d’Angleterre, Zimmer Nr. 25.“

„Also falscher Alarm, Herr Kommissar?“ fragt der Assistent Hedekranz, der aufmerksam zugehört hat. Dr. Holk reibt sich gewohnheitsmäßig nachdenklich die Stirn. „Ich weiß nicht recht. Daß der Mann seine richtige Adresse angibt, zeigt, daß er entweder wirklich eine reine Weste hat, oder aber, daß er ein ganz großer Gauner ist, der sich unbedingt sicher fühlt. Gehen Sie doch mal zur Fremdenpolizei rüber, Hedekranz. Ich lasse um den Anmeldezettel der letzten Woche vom Hotel d’Angleterre bitten.“

Zehn Minuten später liegt ein Stoß von rosafarbenen Meldezetteln vor dem Kommissar, der sie aufmerksam durchblättert. „Aha, hier haben wir ihn ja! Peter Bruhn, geboren am 18. Dezember 1902, Beruf Kaufmann, Staatsangehörigkeit Deutschland, angekommen am 25. April aus — oho!“ Dr. Holk rückt sich unwillkürlich zurecht und furcht die Stirn. — „Aus Rio de Janeiro? Sieh da! Ausgerechnet aus Rio. Aus dieser gesegneten Stadt stammt ja auch der gute Mann, den wir suchen, dieser Alfredo Soliz alias Baron Korff alias Marquis d’Aubainville und wie er sich sonst noch alles genannt hat.“

Hedekranz macht ein bedenkliches Gesicht. „Nun, er muß ja nicht gerade auch ein Verbrecher sein, nur weil er aus Rio de Janeiro kommt, Herr Kommissar.“

„Hab’ ich das gesagt? Um Gottes willen, Hedekranz, reden Sie keinen Zinnober. Sonst beschwert sich morgen noch die brasilianische Gesandtschaft über mich! Aber ein wenig merkwürdig ist das Zusammentreffen doch. Hm. Er lehnt die freundliche Offerte unseres Fräuleins Vinge höflich dankend ab, obwohl ihr Bildchen doch wirklich direkt zum Anbeißen ist. Finden Sie nicht, Hedekranz? Sie brauchen deshalb nicht rot zu werden, Fräulein Vinge. Wenn ein alter Junggeselle wie ich das sagt, so dürfen Sie’s schon glauben. Ja, hm — also er will nicht. Das kann unter Umständen bedeuten, daß er bereits mit Ware reichlich versehen ist. Wäre kein Wunder, denn auf seine verlockende Annonce haben sich sicher Dutzende von hübschen jungen Mädels gemeldet. Um so notwendiger, daß wir ihm ein bißchen auf die Finger sehen. Also — lieber Hedekranz — veranlassen Sie, daß die Fremdenpolizei heute noch unauffällig eine kleine Kontrolle im Hotel d’Angleterre veranstaltet und dabei sich auch den Paß dieses Herrn Peter Bruhn ansieht. Sie aber, Fräulein Vinge, müssen jetzt erst recht die Bekanntschaft dieses Herrn zu machen suchen. Glücklicherweise wissen wir ja nun, wo er zu finden ist. Also: Sie haben heute nachmittag dienstfrei und werden bummeln gehen. Und zwar ins Hotel d’Angleterre. Fragen Sie nach Herrn Peter Bruhn, und sagen Sie ihm, daß Sie auf seinen Brief hin kommen. Sagen Sie — hm, ja, das wird am besten sein! — sagen Sie, daß Ihr Bild dem Brief nicht beigelegen hat, und daß Sie es gern zurückhaben möchten. Und dann wickeln Sie Ihren ganzen einundzwanzigjährigen Liebreiz aus und den Mann aus Rio de Janeiro ein.“

„Ins Hotel d’Angleterre?“ Ellen Vinge tanzt aufgeregt auf ihren Zehenspitzen. „Herr Doktor, heute ist der Achtundzwanzigste!“

„Na, und?“

Ellen Vinge lacht etwas verlegen. „Ich meine, man könnte in die Verlegenheit kommen, in dem feinen Hotel irgendeine Kleinigkeit genießen zu müssen, eine Tasse Kaffee oder so ...“

„Verstehe!“ Dr. Holk lacht. „Und Sie haben kein Geld am Monatsende. Na, das geht auf Staatskosten. Hier ist ein Zehnkronenschein. Gehen Sie sparsam um mit den öffentlichen Mitteln, Kindchen, und ... Herrgott noch mal!“ Dr. Holk klatscht sich plötzlich heftig mit der flachen Hand vor die Stirn. „Nun haben wir doch einen Blödsinn gemacht! Wenn der Mann wirklich der ist, den wir suchen, dann hat er sich natürlich vorsorglich nach den Opfern, an die er geschrieben hat, erkundigt, und dann hat er wahrscheinlich längst schon erfahren, daß die Briefschreiberin Ellen Vinge Stenotypistin im Polizeipräsidium ist. Daher auch vielleicht die Absage!“

„Wieso?“ Ellen Vinge lacht unbekümmert. „Ich hab’ doch unter den Brief den Namen und die Adresse meiner Freundin Lisa gesetzt, die bei der Transozean-Companie arbeitet. Und der Lisa hab’ ich gesagt, daß ich aus Jux unter ihrem Namen auf ein Heiratsinserat geschrieben hab’!“

„Alle Achtung! Das war gescheit von Ihnen! Also dann los ins Hotel d’Angleterre! Angst brauchen Sie nicht zu haben. Frau Kjär wird sich ganz in der Nähe des Hotels zur Verfügung halten. Sollte der Herr Südamerikaner unverschämt werden, so brauchen Sie nur — Ihre Tante zu rufen. Verstanden?“

Kommissar Holk sieht dem Mädchen nach, das eifrig und in froher Erregung aus der Tür wirbelt.

„Brauchbar! Sehr brauchbar, die kleine Vinge. Das Mädel hat schon allerhand bei uns gelernt!“

Der Mann aus Rio

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