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3. Kapitel

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Bernhard Euler verschmäht die Dienste der rotbefrackten Sänftenträger, die vor dem Haus der Gräfin Dißkau am Mühlendamm stehen. Zu Fuß, den Chapeaubas etwas steif und gravitätisch unter dem Arm, geht er über den Molkenmarkt.

Die Sonne scheint warm und freundlich, das Leben, das unüberwindliche, pulsiert in den Straßen wie immer, und doch ist es nicht mehr das Berlin von 1753, durch das der Professor Euler schreitet. Vier Kriegsjahre lasten auf der Stadt. Sie prägen sich stumm und eindringlich in den sorgenvollen Gesichtern der beiden Kaufleute, die dort auf der Fischerbrücke von der Manufaktur der Gebrüder Wegely kommen. Sie protzen in dem achtsäuligen Balkon, der reich verstuckten Fassade des neuen Palais, das sich die Gebrüder Ephraim haben bauen lassen. Sie stehen in den mürrischen Mienen der Hökerinnen auf dem Markt, die mißtrauisch jedes Geldstück betrachten, um die minderwertigen „Ephraimiten“ festzustellen. Sie klagen an in den resigniert schmerzvollen Zügen des Invaliden, der da auf seinem Stelzfuß humpelt. Sie reden aus den lauernden, ängstlich-dreisten Blicken der Drückeberger und Deserteure, der sächsischen Gepreßten und Überläufer, die sich mit zerrissenen Monturen in der Stadt herumtreiben.

Nein, Berlin ist nicht mehr das alte. Vier Jahre Krieg! Das Vivatgeschrei, wenn ein neuer Sieg des Königs gemeldet wird, ist keine Begeisterung mehr. Mit jedem Male mischt sich in das „Vivat hoch!“ lauter und dringlicher die Frage: Wird es nun zu Ende sein? Kommt der König nun zurück?

Vier Jahre! Ausschreibungen und Aushebungen, Steuern und Kontributionen, Sorgen und Ängste. Auch die Lebensmittel werden teuer und knapp. Die Bauern, die aus der Mark hereinkommen, schimpfen auf den Krieg. Die besten Leute, die strammsten Kerle bei der Armée, die Pferde requiriert — wie soll man da sein Feld bestellen, liefern, was die große Stadt nötig hat! Schlesien? Was ist Schlesien? Nun ja, man hat gejubelt und Hurrah geschrieen als die siegreichen Truppen von Hohenfriedberg und Kesselsdorf heimkehrten und Schlesien gewonnen war. Aber ist dieses Schlesien denn wert, daß ganz Preußen sich seinetwegen zu Grunde richtet? Mag es die Kaiserin behalten! Der König soll Frieden machen und zurückkehren!

„Der König soll Frieden machen!“ Mehr als einmal schlägt der Satz aus den lauten Gesprächen der Bürger an Bernhard Eulers Ohr, während er in die Spandauer Straße einbiegt. Er lächelt ein wenig verächtlich dazu. Spießer! Tagediebe, die nur Frieden wollen, um sich in Ruhe mästen zu können! Frieden um jeden Preis! Nein, das ist es nicht, was Bernhard Euler aufatmen ließ bei den Nachrichten von Kunersdorf und Dresden. Er hat keine Söhne und Freunde, die im Felde stehen oder in Böhmens und Schlesiens Sand modern. Sein Haus steht fest gefügt, seine Arbeit, die stille Arbeit des Gelehrten, leidet keinen Schaden durch den Krieg. Tiefer, heiliger sitzt der Haß in Bernhard Eulers Brust.

Krieg! Schlachten! Schandfleck der Menschheit! Verrat am Gottähnlichen! Hier wie drüben! Jawohl, die Kaiserin Maria Theresia, die Russenherrscherin, der Kardinal Fleury, sie tragen alle die gleiche Schuld wie Friedrich von Preußen. Aber — war er nicht von Gott begnadet, der junge Fürst, der im Jahre 1740 das Staatsruder ergriff? Riefen seine ersten Edikte, seine Maßnahmen nicht jubelnd in alle Welt die Botschaft einer neuen Zeit? Schienen sie nicht glückselige Bestätigungen dessen, was Bernhard Euler geträumt: Einer kommt, der größer ist als all die anderen, die sich Herrscher, Staatsmänner, Philosophen nennen? Einer, der über Bajonette und Gewehre dahinschreitet und etwas Besseres, Höheres an ihre Stelle setzt? Und nun?!

Verrat an dir selbst, König Friedrich! Verrat an deiner Jugend! Verrat an allen, die an dich glaubten! Seitdem du die Krone trägst, reißen die Kriege nicht ab! Und wenn du jetzt, jetzt deinem Land den Frieden geben mußt, es ist kein königliches Geschenk mehr, keine Gottesgabe, aus begnadeten Händen gespendet! Nur eine Notwendigkeit, ein bitteres Muß! Nach Kunersdorf, nach Maxen, Glatz und Dresden!

In Bernhard Eulers Herz glüht der Haß enttäuschter Liebe.

*

„Guten Tach ooch, Herr Professor!“

Vater Peetz, der Zuckerzieher, zieht sein Käpplein und nötigt den vornehmen Gast in die Stube. Die Peetzin tut einen erschreckten Aufschrei und flieht in das Schlafzimmer, um eine reine Schürze vorzubinden. Maulaufsperrend, gaffend, drücken sich die beiden Enkelkinder, der fünfjährige Max und das vierjährige Lottchen, gegen die Wand.

„Ich dank’ Ihm, Vater Peetz.“ Mit einem leisen Seufzer des Behagens läßt Bernhard Euler sich in den beflissen herbeigeschobenen Ehrenstuhl sinken. Wie gut das tut, nach all dem Parlieren und Persuadieren, nach den Bonmots und Calembours, den französischen Esprits und histoires galantes im Salon der Gräfin! Hier ist Berlin, ist Preußen! Ein genügsames, behagliches Preußen, gleich weit entfernt vom erborgten Flitterschein des Prunks von Versailles wie vom gamaschenknöpfigen Spartanertum der Potsdamer Wachtparade. Nur daß diese Leute …

Bernhard Euler bricht seine Gedankenkette ab und runzelt unwillkürlich die Stirn. „Hat Er die neuen Nachrichten schon gehört, Vater Peetz?“

„Je nun, je nun.“ Der Zuckersieder kratzt sich den Kopf und schielt nach dem Blatt der Spenerschen Zeitung, die auf dem Tisch liegt. „Dorchen hat mir vorgelesen, was die Spenerin druckt. Ist’s wahr und wahrhaftig, daß jetzt Frieden wird?“

„Dresden hat der König verloren, Vater Peetz!“

„Ei, Dresden?“ Die sächsische Grenze bei Luckenwalde liegt nur acht Meilen von den Toren Berlins, aber für den Vater Peetz ist Dresden ein ebenso fremder Begriff wie Paris oder Madrid. Seine Sorge gilt ganz anderen Dingen. „So ist’s wohl wahr, daß die Russen nach Berlin kommen?“

„Vielleicht, Vater Peetz. Nach der Schlacht von Kunersdorf ist der Weg offen.“

„Schlimme Zeiten!“

„Warum schlimm, Vater Peetz?“ Euler lächelt frei und überlegen. „Sind’s nicht Menschen wie wir? Haben die Russen drei Köpfe und Tigerklauen? Nehmet es, wie es ist, Vater Peetz! Bei den Russen wie bei den Österreichern sind es Menschen, gequälte, mißbrauchte Kreaturen, die froh sind, wenn die Kanonenkugeln nicht mehr ihre Glieder zerreißen. Ganz so, wie bei uns. Sein eigener Sohn …“

„Je nun, der Fritz!“ Vater Peetz wiegt den Kopf. „Sie haben eine Pique auf ihn, gnädiger Herr, weil er zur Armee gegangen ist.“

„Ich bemitleide ihn, Vater Peetz, wie alle, die töten müssen, ohne es zu wollen.“

Es ist nicht angenehm, einem lieben und vornehmen Gast zu widersprechen, aber der alte Peetz ist kein Freund von Katzbuckeln. Er streicht sich etwas verlegen den Schoßrock glatt.

„Gepreßt ist der Fritz nun nicht. Hat sich freiwillig dem Kantonnement gestellt. War allerdings auch die höchste Zeit, dieweilen der Junge nicht gut tat hier im Hause. Ein sträflicher Strick, der seiner Mutter und mir das Leben sauer machte. Je nun … der Korporalstock wird ihn mores gelehrt haben.“

„Die mores konnt er auch anderswo lernen, Vater Peetz. Wie hub’s doch an, wie segensreich, damals als der König Tausende von jungen Leuten, Tunichtguts und brave Burschen, hinausschickte in das Oderbruch. Ackern! Graben! Der Öde fruchtbares Land abgewinnen! Wars’s nicht tausendmal besser und würdiger als der Soldatenrock? Nun liegt’s verödet da, das neue Land im Oderbruch. Und sonst? Hat Er nicht stolz aufgesehen, Vater Peetz, zu dem guten Hausvater, der im Schloß über uns wachte? Hat Er nicht sich gefreut, wenn der Stock des Königs die Faulenzer und Malefikanten zur Raison brachte?“

„Hat aber der hochselige König auch seine Soldaten gehabt, gnädiger Herr.“

„Die langen Kerls. Nun wohl! Eine Leibgarde, eine Spielerei, wie denn ja auch der Beste seine Marotten haben mag. Sei’s ihm gegönnt von Herzen. Er war ein König und Vater. Ein wohlgeordnet Hauswesen ließ er zurück, ein Kapital, das Segen schaffen sollte für Preußen. Wo ist’s geblieben, Vater Petz? Schulden, Steuern, Not und Elend! Die harten Thaler umgeschmolzen zu Kanonen und Bajonetten! Preußens Wohlstand vertan in grausamen Kriegen! War das wohl des hochseligen Königs Will und Meinung?“

„Wollet nicht ungehalten werden, gnädiger Herr, aber …“ Der alte Peetz wirft einen ärgerlichen Seitenblick nach der Küchentür, „Mein Jüngster, der Johann, drückt sich da hinten herum. Würd’ nicht von Vorteil sein, so der Bengel solch Reden hörte.“

„Möchten’s alle hören, Vater Peetz!“ Bernhard Euler wirft unmutig seinen Hut auf den Tisch. „Wo steckt denn Mamsell Dorothea?“

„Kommt gleich, kommt gleich, gnädiger Herr!“ Vater Peetz atmet auf, von dem gefährlichen Thema wegzukommen. „Meine Frau hat ihr schon Eure Ankunft avisiert. Wird sich putzen drinnen in der Schlafstube. Sind ebent Frauenzimmer. Potz Wetter, gnädiger Herr, hab’ ich mich doch noch nicht mal bei Ihnen bedankt, daß Sie meinem Mädel Urlaub gegeben, um meiner Alten beim Waschen zu helfen!“

„Schon gut, Vater Peetz.“ Bernhard Eulers Augen verlieren ihren fanatischen Glanz und wandern still und froh zu der Schlafzimmertür, die sich geöffnet hat und in deren Rahmen ein etwa zwanzigjähriges, sauberes Mädchen steht.

Dorothea Peetz! Wie viel ist sie ihm geworden in diesen zwei Jahren, seitdem der Kollege Brenken sie ihm als Aufwärterin empfahl! Unendlich viel mehr als der gute Hausgeist, der sein Heim mit geschickten, fleißigen Frauenhänden in der Ordnung hält! Freundin! Vertraute! Zukunftshoffnung und Zukunftsgewißheit! Dorothea Peetz, das ist das Kommende, das Beglückende! Geist von seinem Geist, nein, mehr, viel mehr: Weltgeist, inkarniert in diesem einfachen Bürgerkind, das ohne Wissenschaft und Verstand gefühlsmäßig das Urbegreifen in sich trägt.

Dorothea Peetz, das ist der Friede. Sie ist nicht übermäßig intelligent, sie hat nicht mehr gelernt als jedes andere Bürgerkind — aber was die anderen nur dumpf und unwillig empfinden unter der Not der Zeit, das lebt instinktiv in ihr wie in Bernhard Euler: die Sehnsucht nach dem Erdenglück.

Oh, es gibt viele Menschen im Berlin von 1759, die dem Krieg fluchen. Aber die Handwerker und Bürger, die auf den Gassen und in den Kaffeegärten kannegießern und über Krieg, Soldaten und Regierung schimpfen, das sind dieselben, die früher vor Begeisterung Kopf standen, wenn ein Kurier mit einer Siegesbotschaft eintraf. Nur das harte Gesetzt des Krieges, das an ihre eigenen Beutel griff, hat sie zu seinen Gegnern gemacht. Wenn das Rad anders herum ginge, wenn statt der Hiobsposten von Kunersdorf und Dresden wieder Fanfaren geschmettert hätten, wie nach Roßbach und Leuthen — sie würden jeden Grenadier auf der Straße umarmen. — Und die Kavaliere und Damen im Salon der Gräfin Dißkau, die in geistreichen Sentenzen, mit feingestochenen Worten den rauhen Soldaten verspotten, die Gräfin Dißkau selbst — nein, auch sie verstehen Bernhard Euler nicht.

Dorothea Peetz aber versteht ihn. Wenn sie, still auf ihre Stickerei niederblickend, versonnen seinen Vorträgen lauscht, wenn sich ab und zu dabei ihre Augen heben und den Mann glücklich anblicken, der so gütig, so begeistert von dem spricht, was seine Seele erfüllt, dann bricht Bernhard Euler oft mitten in seinen Ausführungen ab und hat das selige Gefühl: ‚Wozu erzähle ich ihr das alles? Sie ist selber ein Stück Zukunft, das die Himmelsbotschaft in sich trägt.‘

Engelmild ist Dorothea Peetz. Nicht von jener mädchenhaften Sensibilität, die in Ohnmacht fällt, wenn ein Blutstropfen aus ihrem zarten Fingerchen quillt. Sie kann resolut zugreifen, wenn es gilt, eine Wunde zu verbinden, einen Schmerz zu stillen, und sie fragt nicht danach, ob der Leidende schön oder häßlich ist. Aber sie zuckt jedesmal zusammen, wenn die Welt laut wird und roh, und ihre Augen füllen sich mit Tränen, wenn man ihr von den Opfern berichtet, die diese oder jene Schlacht gefordert hat. Es ist unmöglich, sich mit Dorothea Peetz zu zanken. Selbst den Konrad, das brummige, ewig streitsüchtige Faktotum Eulers, hat ihre ruhige, heitere Liebenswürdigkeit so klein gekriegt, daß er nur noch nach der Pfeife der „Mamsell“ tanzt. Bernhard Euler selbst aber ist allerdings begeistert über Dorothea. Er hat sich beeilt, ihre Familie kennenzulernen, ist bei der ersten Gelegenheit selbst nach Berlin in die Spandauer Straße geeilt, hoffend, dort im Hause des Zuckersieders Peetz Menschen nach seinem Herzen zu finden, gläubige, zukunftsträchtige Menschen.

Es wurde eine Enttäuschung, denn der Zuckersieder Peetz und seine Peetzin erwiesen sich als zwei gesunde Berliner, die mit ihren Füßen und Sinnen fest in der Alltagswirklichkeit wurzeln und nichts an sich hatten von jenem Ätherischen, Träumerischen, das Dorotheas Wesen beseelte. Wohl war Vater Peetz unzufrieden mit den Verhältnissen und gab Bernhard Euler recht darin, daß der ganze Krieg ein Unglück für das Land und insbesondere für Berlin sei. Und die Peetzin seufzte kummervoll beim Gedanken an ihren Ältesten, der mit dem König ins Feld gezogen war. Aber Bernhard Euler empfand doch bald, daß die Eltern Dorotheas stumpf in den Tag hineinlebten wie ihre meisten Zeitgenossen und nur aus Höflichkeit den menschenbeglückenden Ansichten nicht widersprachen, die er ihnen zu erklären bemüht war. Um so mehr ergriff ihn das Wunder Dorothea. Sie wurde ihm zu einer Botin aus einer anderen Welt, zu einer Verheißung künftiger Zeiten, stille Verkünderin einer Wandlung, die sich naturgemäß im Menschengeschlecht vollzog. Und im Staunen darüber vergaß Bernhard Euler ganz, daß Dorothea Peetz — schön war.

Ja, Dorothea Peetz ist schön. Wie sie da vor Bernhard Euler an dem Tisch sitzt, die kleinen zierlichen Händchen im Schoß zusammengelegt, hat ihre ganze Gestalt von der hohen weißen Stirn bis hinab zu den Füßen, die unter dem Bauschrock hervorlugen, eine natürliche, adelige Anmut, die ihre grobe Tracht vergessen macht. Es fehlt das allzu Betonte, das bewußte Hervorheben der natürlichen Frauenreize, das allen Damen der Salons mehr oder weniger anhaftet, und grade das macht ihre Erscheinung so lieblich und liebenswert. Es sind nur drei arme Tage, in denen Bernhard Euler Dorothea nicht gesehen hat, und doch scheint ihm ihr Anblick so neu, so anziehend, daß er sich zwingen muß, höflichkeitshalber den Imbiß zu kosten, den die Peetzin unter zungenfertigem Wortschwall aufgetischt hat.

Wie ihre Augen glänzen! Bernhard Euler führt dies stille Strahlen zurück auf die frohe Botschaft vom baldigen Ende des Krieges, die er soeben wiederholt hat, und spürt beseligt wieder die starken Fäden, die ihn mit diesem Mädchen verknüpfen. Irsst du dich nicht, Bernhard Euler? Schau nicht nach den Gestirnen, schau auf die Erde, auf der du wandelst! Ruf deine Gedanken zurück von den Ewigkeitsbahnen im Weltraum! Such nicht die Sterne selbst, sondern ihren Widerschein, der dem Menschenauge gegeben! Die Augen auf, Bernhard Euler, Astronom, Gelehrter, Mensch! Dies Demantstrahlen in den stillen Mädchenaugen da, dies zarte, blasse Rot auf den Wangen Dorotheas — kann es nicht Freude darüber sein, daß du wieder vor ihr sitzest? Kann es nicht dir gelten, dir, Bernhard Euler, ganz allein und persönlich, der du nicht nur ein namhafter Gelehrter, sondern auch ein in den besten Jahren stehender, wohlgestalteter und liebenswerter Mann bist?

Aber so ist nun einmal der Astronom Bernhard Euler. Solche Gedanken kommen ihm nicht. Seine Gedanken begnügen sich nicht einmal mit seinem Heimatland, seinem Volk! Sie greifen hinaus über Erde und Himmel, suchen im Riesenschwunge das All zu umfassen, das Unendliche, das Unfaßbare. Immer in den Sternen, immer in weltenfernen Höhen — an sich selber denkt Bernhard Euler nicht.

„Lebt gesund, Mutter Peetzin!“ Bernhard Euler ist aufgestanden und hat sich von der Familie verabschiedet. Gehorsam, in stiller, freudiger Erwartung steht Dorothea an seiner Seite. Aber in der Tür, als sie die von zwei Livrierten bediente, wartende Portechaise sieht, stockt ihr Fuß plötzlich, und ein glühendes Rot färbt ihre Wangen.

„Ich … ich kann doch nicht mit Ihnen durch die Stadt fahren, gnädiger Herr?“

Bernhard Euler streicht seinen Hut und verbeugt sich vor dem Mädchen wie vor einer königlichen Hoheit. „In einer Goldkarosse könntet Ihr durch Berlin fahren, Dorothea, denn Ihr seid die Zukunft!“

*

„Peetzens Dorte in einer leibhaftigen Portechaise!“ Die Nachbarkinder stecken die Finger in die Mäulchen vor Erstaunen, die Louischen und Lottchen hüben und drüben flüstern neidisch und hämisch miteinander, die Nachbarsfrauen umdrängen schwatzend die Peetzin, die breit und stolz der vornehmen Sänfte nachblickt. Nur Vater Peetz hat sich brummig von der Tür zurückgezogen und krault sich das Ohr, als seine Frau wieder in die Stube tritt.

„Na, Muttchen?“

„Ein gar lieber Herr, der Herr Professor Euler,“ wiederholt die Peetzin schnaufend die lange Rede, die sie eben den teilnahmsvollen Nachbarinnen appliziert hat, „Unsere Dorte hat ein rechtes Glück gemacht.“

„Schon, schon!“ Vater Peetz faltet bedächtig die Spenersche Zeitung zusammen, die noch immer auf dem Tisch liegt. „Wenn er nur nicht dem Mädel den Kopf verdreht!“

„Was du auch denkst, Mann! Der Herr Professor ist doch kein Windbeutel, sondern ein honetter Herr in Amt und Würden. Siehst doch auch, wie er unsere Dorte ehrt. Und wenn er wirklich … ja, nun, er ist ein gnädiger Herr, aber man hat Exempel, und — von Adel ist er gottlob nicht. Eine Heirat …“

„Mach’s Maul zu, Frau, es zieht!“ sagt der alte Peetz grob. „Daß ihr Weibersleute immer gleich ans Heiraten denken müßt! Mein’s doch ganz anders. Der Herr Professor … was er so sagt, je nun, ein Segen wär’s schon, wenn der Krieg zu Ende wär. Da hat er recht. Aber sonst … nicht wahr, Muttchen, du sorgst dafür, daß die Kinder nächstens aus der Stube sind, wenn er daherkommt? Ist ein guter, lieber Herr, der Professor Euler, aber was er so redet, nee, nee — Soldaten müssen sint!“

*

Die Fahrt geht nicht gleich nach Bernhard Eulers Heim in Charlottenburg. Mitten durch Berlin geht sie, denn Euler hat noch im Jägerhof eine Visite abzulegen, beim Grafen von Rhedern, dem Kurator der Akademie der Wissenschaften.

Die Augen auf, Bernhard Euler! Warum siehst du nur die Leiden, die der Krieg gebracht hat? Du siehst die Arm- und Beinstümpfe der Invaliden, Bernhard Euler, die stille, heilige Würde im Antlitz jener schwarzgekleideten Matrone dort siehst du nicht! Die unzufriedenen, mürrischen Reden der Gassenschwätzer und Bierbankbrüder hörst du, aber das stolze, erwachte Selbstbewußtsein der Buben, die sich dort an der Ecke um den schnurrbärtigen Korporal drängen, beachtest du nicht. Du siehst die sorgenvollen, bekümmerten Mienen der Kaufleute dort vor dem preußischen Börsenhaus und ziehst ein finsteres Gesicht im Gedanken an die Unsummen, die der Krieg verschlungen hat. Warum siehst du nicht, Bernhard Euler, daß der steinerne Preußenadler über dem Tor der Kaserne in der Kommandantenstraße stolzer und höher sich zu recken scheint als früher, daß die beiden reichgekleideten holländischen Herren, die dort aus der Portechaise steigen, viel devoter und respektvoller als früher den preußischen Offizier grüßen, der ihnen entgegenkommt? Warum siehst du nur die Galgenvogelgesichter der Überläufer und Marodeure, die sich an den Häuserreihen entlang drücken? Warum nicht den Stolz im narbengezierten Antlitz des Soldaten vom Regiment Gens d’Armes, der da geht, den gerechten Stolz eines Mannes, der nicht mehr ein Sklave des Korporalstocks ist, sondern einer von denen, die Jahre hindurch mit Klauen und Zähnen um die Weltgeltung Preußens gerungen haben!

*

„Einen Augenblick nur, liebe Dorothea!“

Dorothea Peetz sieht dem Mann, der den Kiesweg zum Jägerhof emporschreitet, aus der Portechaise selbstverloren nach. Einen Augenblick? Ein Jahr, zehn Jahre, eine Ewigkeit warte ich gern auf dich, Bernhard Euler, Mann mit dem gütigen, allumfassenden Herzen! Wie sicher er dahingeht! Ein Fürst, ein König im Reich der Geister! Wo ist hier der Krieg? Frieden atmen die gepflegten Gärten, Schönheit und erlesenen Geschmack die Fassaden der Häuser. Hier kreischen keine mißtönenden Hörner, rasselt kein Kalbfell seinen rauhen Wirbel. Hier brüllen keine Korporale. Namen wie Bernoulli, Voltaire, Prévost, Maupertius, Wolf, Ramler flüstern hier in den Akazien und Linden. Zierlich gesetzte Füße in seidenen Schnallenschuhen, kokett getragene Galanteriedegen, Seidenrauschen über weitabstehende Bambusrippen, charmante Verbeugungen und höfisches Lächeln, — selbst die Berliner Volksderbheit scheint sich hier beschämt zu verkriechen. Die Läden tragen französische Schilder, und der Mann aus dem Volke bemüht sich ersichtlich, seine Sprache mit gallischen Redewendungen zu verzieren.

Das ist der Friede, die Kultur, das Reich des Geistes, in dem Bernhard Euler lebt und webt. Versonnen, in die Sänfte zurückgelehnt, blickt Dorothea Peetz in das bunte, blumige Reich, das den Jägerhof umgibt. Plötzlich aber ist ihr, als wolle ihr still und friedlich schlagendes Herz stocken, und im nächsten Augenblick beginnt es so rasend zu pochen, daß sie die Hand unter das Mieder preßt.

Die Oberwallstraße herunter kommt ein Grenadier, den Arm in der Binde. Lang und ein wenig steif kommt er herangeschlendert, mitten zwischen den gekräuselten, zierlich geputzten Tanzmeistern, Fechtmeistern, Kavalieren und Damen — einer vom Regiment Rammin!

„Fritz! Fritz!!“

Dorothea Peetz hat den Schlag aufgerissen und ist dem Langen mit einem jubelnden Aufschrei um den Hals geflogen. Der Grenadier Friedrich Peetz blickt zuerst etwas dumm drein. Erst als das Gesichtchen sich tränenüberströmt an seinem Monturrock emporhebt, erkennt er seine Schwester und verzieht den Mund zu einem breiten, herzlichen Lachen.

„Potzlot, Dorte! Ick dacht schon, ne Demoiselle hätt meines Vaters ältesten Sohn für einen Offizier estimiert!“

„Bist du’s wirklich, Fritz! Und blessiert? Du Armer!“

„Halb so schlimm, Schwesterlein! Eben arriviert und wollt gleich mal zu Muttern. Sind doch gesund, die Alten, was?“

„Ja, ja, Fritz! Aber wie kommst du …?“

„Ist eine lange Historie, Schwester. In der verdammten Affaire von Kunersdorf …“

„Daß du nur da bist, Fritz! Daß wir dich wieder haben!“ Weinend und lachend wirft sich Dorothea Peetz abermals dem Bruder an den Hals.

*

Eine Stunde später läuft die halbe Spandauer Straße zusammen vor dem Hause des Zuckersieders Peetz. Frauen, Männer und Buben füllen die Stube, und die draußen vor den Fenstern drücken sich die Nasen platt, um den Heimgekehrten zu sehen. Die Peetzin rumort in der Küche und heult zum Steinerweichen. Vater Peetz aber sitzt breit und zufrieden auf der Bank und lauscht der Erzählung seines Jungen, der die langen Gamaschenbeine behaglich unter dem väterlichen Tisch ausgestreckt hat. Der Krieg ist ein Unglück, und das Leben beginnt verdammt knapp zu werden, das steht fest. Aber der alte Peetz hört trotzdem um vieles ruhiger und behaglicher den Soldatenerzählungen seines „Langen“ zu als vorhin den weisen Worten des Professors Euler. Verwehrt auch dem Johann und den beiden Enkelkindern nicht, daß sie Maulaffen feilhalten und dem großen Bruder die Worte begierig vom Munde abknöpfen.

„Nu aber raus, ihr Leute! Der Fritz muß seine Suppe in Ruhe essen!“ Vater Peetz macht dem Geschnatter ein Ende und drückt die neugierigen Nachbarn aus der Stube. Sein „Langer“ sieht sich in allen Ecken um.

„Na, nu kenn’ ich die Stube erst wieder. Alles noch am alten Platz.“

„Alles,“ bestätigt die Peetzin und streichelt heimlich den Rücken des schmutzigen, mitgenommenen Monturrockes. „Nur unser Dortchen ist nicht mehr da.“

„Sagt’ es schon, Frau Mutter, ick hab’ sie getroffen. Potz Blitz, war das eine Überraschung! Saß doch rektement wie eine Demoiselle in einer Portechaise, daß ick mir fast schämte in meiner Kriegsmontur!“

„Ja, sie ist nun ganz nach Charlottenburg gezogen zum Herrn Professor Euler.“ Das Gesicht der Peetzin erglüht vor Stolz. „Und wer weiß, was noch alles werden kann!“

„Hum!“ Vater Peetz’ Gedanken werden von dem Namen Eulers in eine bestimmte Richtung gelenkt. Er stößt seinen Jungen vertraulich an. „Was denkst du, Fritz? Ihr Soldaten müßt’s ja wohl am besten wissen. Ist der Krieg jetzt aus?“

Der Grenadier kratzt sich nachdenklich. „Wär’ nicht schlecht, Herr Vater. Wird aber noch ein Weileken dauern.“

„Aber die Niederlagen!“

„Es sieht schlimm aus,“ bestätigt Fritz, begierig in den Suppentopf langend, den ihm die Mutter vorgesetzt hat. „Wahr ist’s, wir haben viele Kanons und Fahnen verloren. Ist auch Mangel an Rekruten wie an Offiziers. Aber kein gut Ding, das sich nicht bessert. Haben ein großes Lamentieren gemacht nach der Bataille von Kunersdorf und geschrien, der König sei gefallen und mausetot. War aber nicht an dem. Wisset, Herr Vater, die Österreicher und Russen haben so oft ihre Senge bezogen, ergo kann man den armen Ludersch auch mal gönnen, daß sie eine Bataille gewinnen. Nur vom Regiment Ramin …“ Der gefüllte Löffel bleibt einen Moment in der erhobenen Hand vor dem Munde stehen, denn Fritz Peetz muß erst etwas anderes herunterschlucken als warmen Brei „ … ja, vom Regiment Rammin werden wenig übrig sein!“

Was weiter an diesem Tag geschieht, ist schnell erzählt. Nach dem Essen hebt im Hause Peetz ein großes Schrubben und Putzen an. Die Peetzin holt aus dem Wäscheschrank eine Garnitur reiner Leibwäsche, und Vater Peetz sagt kein Wort dazu, obwohl er genau sieht, daß es seine eigene Sonntagswäsche ist. Der sechzehnjährige Johann bürstet und schmiert mit wahrer Begeisterung die kotigen Stiefel des Heimgekehrten, und Fritz Peetz selber putzt trotz seines verbundenen Armes stundenlang an seiner Montur herum, bis sie wieder einigermaßen passabel aussieht. Und als der Abend gekommen ist, wandert Vater Peetz mit seinem Langen in den Stelzenkrug zu einer „Blonden“. Aus der einen werden viele. Es gibt ein Kanasterrauchen, Trinken und Schwadronieren bis tief in die Nacht hinein. Fritz Peetz hält mit, ohne daß es ihm viel Spaß macht, genau so, wie er im Glied mitgehalten hat, wenn der Generalmarsch geschlagen wurde und die Stück- und Musketenkugeln pfiffen. Er hält so gründlich mit, daß er beim Nachhausewege stolpert und auf seinen wunden Arm fällt.

Am nächsten Morgen ist der Arm geschwollen, und die Wunde beginnt wieder zu eitern. Alles Gejammer der Peetzin und alles Schimpfen des Grenadiers helfen nichts. Der Medikus zieht ein bedenkliches Gesicht und verordnet kategorisch, daß der Blessierte sofort zum Militärhospital gebracht werden muß, das im alten Kalandshof eingerichtet ist.

Einer vom Regiment Rammin

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