Читать книгу Lore kommt für alles auf- Roman einer Tanzkapelle - Axel Rudolph - Страница 5
2. Kapitel
ОглавлениеGanz abgesehen davon, daß die Kapelle Begas Schlafwagen als einen unnötigen Luxus betrachtet, es denkt niemand daran, diese nächtliche Bahnfahrt zu verschlafen. Musiker sind nun einmal Nachteulen. Der Beruf zwingt sie meist, bis ein Uhr nachts zu spielen, und dann — na ja, dann will man gern noch ein oder zwei Stündchen „zivil“ beisammen sitzen in irgendeiner soliden, billigen Bierkneipe. Kein Wunder, daß man unter den Menschen dieses Berufes wenig Frühaufsteher findet.
Die Lichter von Wittenberge flitzen bereits draußen vorbei, und immer noch sind die beiden von der Kapelle Begas belegten Abteile voller Lärm und Lachen. Lore Glant weigert sich hartnäckig zu erzählen, wie sie es angestellt hat, die überspannte Dame aus Brüssel abzuhalftern.
„Geschäftsgeheimnis,“ lacht sie, als die „Jungs“ zum fünfundsiebzigsten Male in sie dringen, einen ausführlichen Bericht vom Stapel zu lassen. „Aber soviel will ich euch verraten: Ich hatte einen Bundesgenossen dabei. Der wohlproportionierte Herr, der sie begleitete — Delorme oder so ähnlich nennt er sich — war ganz konsterniert, als er erfuhr, was Madame im Berliner Konzerthaus zu bestellen hatte. Er sekundierte mir mit Begeisterung, und ich glaube, Madame selber legte einigen Wert darauf, ihm zu beweisen, daß Hans Böge ihr nicht so unentbehrlich sei.“
„Das walte Gott!“ seufzt Hans Böge herzlich. Lore blitzt ihn herausfordernd an.
„Dir wünsch ich noch ’ne ganz andere Frau als Madame Kerkh, die vielleicht ’n bißchen verdreht, aber sonst ganz passabel ist! So eine, die ’ne Hand hat wie der Dönhoffplatz, die dich am Schlafittchen kriegen und schütteln kann, bis du die Engel im Himmel Ciribiribin heulen hörst! Eine, die dich an der Strippe hält, die jedem Abend mit dem Punktroller hinter der Tür steht, wenn du ’ne halbe Stunde zu spät heimkommst, eine, die ...“
„Kurz — ne Schwester von Auguste Erlenkamp!“
Die „Jungs“ lachen schallend zu dem Zwischenruf und blinzeln dem Klavierspieler Erlenkamp zu, der außerhalb seines Berufs immer ein Gesicht macht, als wollte er irgend jemand totschlagen. Es ist allgemein bekannt, daß seine Frau, die würdige Auguste Erlenkamp, ein richtiges Hauskreuz ist. Auch Lore lacht mit, wendet sich aber dann gleich wieder hitzig an den sorglos grinsenden Hans Böge.
„Ich kann doch nichts dafür,“ verteidigt der sich. „Die gute Yvonne läuft mir ...“
„Ach was, ich red’ gar nicht von der Belgierin! Bei dir ist ja immer ein halbes Dutzend Mädel im Fahrwasser! Du weißt ja nie, ob dich die Luise in der Charlottenstraße erwartet oder umgekehrt, und wenn man dir zu nahe kommt, riechst du wie’n Lawendelbeet! Von all den rosa Briefchen, die du in den Taschen hast! Pfui Deubel! Geh in dich, Hans, und bessere dich! Oder heirate in Gottes Namen! Ich hab’ dir heut’ zum letztenmal geholfen, darauf kannst du sämtliche Gifte nehmen!“
„Bravo, Lore! Gib ihm Saures!“
„Ach, Quatsch! Es verlohnt sich ja nicht. Ich red’ lieber gar nicht mehr mit dem Herrn.“ Lore wirft Hans Böge noch einen vernichtenden Blick zu und sieht sich im Abteil um. „Wo ist denn Kellner?“
„Sitzt allein nebenan und komponiert: Kleopatras letzter Seufzer, Opernmusik mit achtundzwanzig Fagotten!“
„Dann geh’ ich ’nüber zu ihm. Laßt mich mal durch!“
Lore entwindet sich der lustigen Gesellschaft und findet wirklich mutterseelenallein den Meister des Saxofons, Urban Kellner, der stumm und gedankenschwer den Kopf in die Hand stützt. Urban Kellner leidet schwer unter der Last des Lebens. Schon der Name allein, den sein Vater ihm auf den Weg gegeben hat, quält ihn. Kommt er mal in ein Lokal, wo die Kameraden sitzen, so brüllen ihm jedesmal ein halbes Dutzend Kehlen entgegen: „Kellner! Zahlen!“ Der Witz ist abgestanden, aber unsterblich in der Kapelle Begas. Und Urban Kellner fährt jedesmal ein Schrecken in die Glieder, wenn er unvermutet den befehlenden Ruf hört. Denn zu wirtschaften versteht er nun einmal nicht, und unbezahlte Rechnungen hängen immer wie Damoklesschwerter über seinem Haupte. Doch das ist das Wenigste. Viel quälender und bitterer sind die Schatten, die seine Seele umdüstern. Urban Kellner ist ein anerkannter Meister seines Instruments, ein Künstler von Gottes Gnaden. Alle, auch Silvester Begas, erkennen das an. Er selber aber träumt von viel höheren Dingen. Urban Kellner ist davon überzeugt, daß in ihm ein Beethoven oder doch zürn mindesten ein Strauß schlummert. Sein Hirn steckt voller Kompositionen. Wenn man nur Zeit hätte, sie zu Papier zu bringen! Die Kameraden lachen gutmütig darüber. Selbst Silvester Begas hat eine Sinfonie, die er einmal in Schmerz und Nöten geboren und die er seinem Kapellmeister vorgelegt hat, nur kurz betrachtet und die Brauen hochgezogen. Nun ja, mag sein, daß die Sinfonie nicht ganz wohlgelungen war. Man kann nicht arbeiten, wenn man Abend für Abend in einem Hotelsaal spielt und bei Tage dann todmüde ist. Die Kameraden sind gewiß gute Kerle, aber das Höchste, das Beste verstehen sie nun einmal nicht. Urban Kellner ist dankbar, daß Lore da ist. Lore Glant versteht es, ihm ernst und ruhig zuzuhören, wenn er von seinen Träumen spricht. Sie macht keine billigen Witze darüber, sondern bemüht sich wenigstens, ihn zu verstehen und mit ihm zu sprechen.
Auch jetzt nickt er ihr dankbar zu, als sie die Abteiltür hinter sich zuzieht und sich ohne Umstände neben ihn setzt.
„Störe ich, Kellner? Wieder in höheren Regionen?“
Der zukünftige Musikheros schüttelt den Kopf. „Ich versuche es, Lore, aber es will nicht gehen. Es geht überhaupt nicht, solange ich bei der Kapelle bin.“
„Solange ...?“ Lore erschrickt. „Was soll das heißen? Du willst doch nicht etwa fort von uns?“
„Es wäre das Beste,“ sagt Urban Kellner nachdenklich. „Sieh, Lore, Silvester Begas ist sicherlich ein tüchtiger Musiker ...“
„Ach nee! Du merkst auch alles!“
„Und die anderen auch,“ fährt Kellner fort, ohne den Einwurf zu beachten. „Wir sind beliebt, eine Kapelle, die sich sehen lassen kann. Ich bin sogar überzeugt, Silvester Begas könnte sich ruhig mit Barnabas von Geczy oder Johst messen. Aber es ist doch nicht das Richtige für mich. Ich gehöre hinter den Schreibtisch, ans Notenpult, und dann ...“ Urban Kellners Augen glänzten — „... dann in die Philharmonie oder — die Oper! Hier ersticke ich und mit mir all das Ungeborene, das in mir gärt und pocht!“
„Immer langsam mit die jungen Pferde!“ Lore hat seine Hand ergriffen und hält sie eine Weile fest. Ganz ernst und sachlich, ohne jede Ironie ist ihre Stimme. „Mag schon sein, daß du ’ne fabelhafte Nummer bist, Kellner. Ich versteh’ ja nichts davon. Aber daß du von uns fort willst, sieh mal, das ist blanker Unsinn. Wovon willst du denn leben? Ich hab’ mir sagen lassen, daß auch berühmte Komponisten zuweilen jahrelang sich durchschlagen müssen, ehe ihr Genie sich in bare Münze umsetzen läßt. Bei Silvester hast du dein festes Gehalt, bist gesichert, weißt, wo du hingehörst. Wer hindert dich daran, außerdem zu Hause auf deiner Bude die tollsten Opern und Sinfonien zu komponieren?“
„Meine Umgebung, Lore,“ sagt Urban Kellner gequält. „Ich brauche Zeit, Ruhe, Sammlung, Einsamkeit!“
„Mein Bruder Harry ist zwar kein Genie, aber er hat auch kämpfen müssen,“ gibt Lore ernst zurück. „Der Junge hatte schon als Kind keinen anderen Gedanken, als Musiker zu werden. Vater wollte ihm die Idee austreiben. Klavierstunden? Unterricht auf der Geige? Keinen Pfennig für solche ‚Firlefanzereien‘, wie er das nannte. Mit vierzehn Jahren ist mein Bruder von zu Hause getürmt und hat erst mal bei einem Dorfküster Trompete blasen gelernt. Weißt du, so in Wind und Wetter oben vom Turm herab. Dann ist er mit der Fiedel als wandernder Musikant auf die Dörfer gegangen und hat zur Kirchweih aufgespielt. Du weißt ja, was er kann. Meinst du, Harry hätte Zeit, Ruhe, Sammlung, Einsamkeit gehabt, um sich zu einem guten Musiker auszubilden? Aber erreicht hat er’s deshalb doch. Heute braucht er nicht mehr Mtata, mtata zu machen in irgendeiner Dorfwirtschaft. Du, Kellner, willst noch höher hinaus. Aber, glaub’ mir, wenn du’s nicht schaffst, auch unter schwierigen Verhältnissen, dann schaffst du’s überhaupt nicht.“ Und Lore fügt einen Satz hinzu, der nicht aus ihrem Köpfchen, sondern aus ihrem Herzen kommt: „Jedes Genie muß durch Dornenhecken gehen, ehe es in den Rosengarten kommt!“
*
„Recht hat sie jedenfalls, das mußt du zugeben, Hans.“
Hans Böge nickt resigniert den Kameraden zu. „Ihr wißt ja, wie es unsereinem ergeht. Man ist ein leidlich netter Kerl, man sitzt da und spielt ... Es war einmal ein Musikus und so weiter! Erst waren’s die kleinen Mädchen, die einen anhimmelten und einem durch den Ober blödsinnige Zettelchen zustecken ließen. Nachher, als man im Adlon, bei Bertolini und im Savoy spielte, kamen die Damen, die mehr oder minder unverstandenen Frauen. Ehe man sich’s versieht, hat man Bekanntschaften gemacht, wird eingeladen, kriegt lange Briefe — na ja, natürlich hat die Lore recht! Ich bin ein ausgemachter Leichtfuß. Ich muß nun mal drauf reinfallen, wenn eine hübsche Frau mich anlächelt. Ich denke mir nichts dabei. Aber glaubt mir’s, oder laßt’s bleiben: Jetzt hab’ ich genug davon! Ich mache Schluß! Auch für den Tannhäuser gab’s doch noch ’ne Umkehr, besonders wenn er, wie ich, so ziemlich wider seinen Willen in den Hörselberg geraten ist.“
„Möcht’ ich erleben, daß du vernünftig bist,“ sagt Silvester Begas trocken.
Hans Böge faßt sich energisch an die Krawatte. „Jawohl, ich werd’ vernünftig! Ich seh’s ein, daß es höchste Zeit ist. Ich muß eine Frau haben, ein Heim, ein geordnetes Leben. Ich ... ich ... hol mich der Geier ... ich werde die Lore heiraten.“
„Du! Wenn du keinen besseren Witz weißt ...“ Silvester Begas runzelt unwillig die Brauen, aber Hans läßt sich nicht einschüchtern. Ein verklärtes Lächeln liegt plötzlich auf seinem leichtśinnigen hübschen Jungengesicht.
„Lieb hab’ ich sie schon längst. Bloß, ich hab’ mich bisher noch nicht losreißen können von dem dummen Herumpoussieren. Aber jetzt ist’s aus mit Luisen, Gerdas, Yvonnes und Marys! Radikal aus! Die Lore ist die einzig richtige Frau für mich!“
Da fallen sie alle über ihn her, die Kameraden, wie ein Rudel losgelassener Wölfe.
„Untersteh’ dich, Mensch!“
„Die Lore ist tausendmal zu gut für dich, du wildgewordener Casanova!“
„Wenn du ihr ein Wort sagst von deinen blödsinnigen Absichten, kannst du nächstes Jahr die Kartoffeln von unten wachsen sehen.“
„Ruhe!“ Silvester Begas wehrt die Musiker, die gewalttätig auf den sich zur Wehr Setzenden eindringen wollen, ab. „Und du, Böge — werd’ vernünftig und laß dein dummes Flirten. Aber Lore Glant rührst du mir nicht an. Mit keinem Gedanken! Sonst verdresch’ ich dich unbarmherzig, verstanden?“
„Oho!“ Hans macht wütend Miene, seine Ärmel aufzustreifen und seinen Bizeps vorzuweisen, trotz des beistimmenden Geheuls, das Silvester Begas in der Runde erntet.
„Es hätte auch nicht den geringsten Zweck,“ sagt aus der Fensterecke Harry Glant, der Bruder Lores, ruhig. „Lore schwärmt für einen ganz anderen.“
„Was? Wer? Wo ist der Kerl?“
„Natürlich irgendein Geldonkel,“ ruft eifersüchtig der Schlagzeugmann Beppo von Pollinger. „Einer, der Schwielen an den Händen hat, vom Kuponabschneiden!“
„Nein, Schwielen an den Händen hat er nicht,“ sagt der ruhige Harry milde. „Er geigt.“
Weiter sagt er nichts. Aber er sieht dabei Silvester Begas an, mit einem wissenden, gütigen Lächeln.
Da fragt keiner mehr. Hans Böge brütet mit finsterer Stirn vor sich hin. Die Kameraden verschlucken alles weitere und beginnen, das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken. Silvester Begas aber steht am Fenster und blickt sinnend in die Nacht hinaus. Seine schlanken, schönen Geigerhände streicheln unwillkürlich leise das grobe Tuch des Fenstervorhanges.
„Die Lore ...“
*
Mit dem Morgengrauen, das kühl und feucht hereinschimmert, kommt nun doch die Müdigkeit. Einer nach dem andern drückt sich in seine Ecke, schlägt fröstelnd den Rockkragen hoch und versucht zu schlafen. Auch Urban Kellner ist hereingekommen, nachdem er im Nebenabteil leise die Fenstervorhänge zugezogen und Lore allein gelassen hat. In ihren Mantel gehüllt und noch dazu mit dem Plaid Kellners zugedeckt, schläft sie dort, lang ausgestreckt, auf der Bank, außer ihrem guten Gewissen noch ein kleines Luftkissen unter dem blonden Kopf. Silvester Begas ist der einzige, der völlig wach bleibt. Er hat seinen Platz dem finsteren Albrecht Erlenkamp überlassen und patrouilliert auf dem Korridor vor dem Abteil Lores. Wie ein Soldat, der gute Wache hält.
„Uah! Wo sind wir jetzt?“ Gähnend recken sich die Jungs und ziehen die Vorhänge von den Fenstern. Die Morgensonne knallt in das Abteil und weckt auch die letzten Schläfer.
„In einer halben Stunde kommt die Grenze!“
„Schon? Also Paß zur Hand, Köfferchen aufgemacht! Habt ihr auch alle eure zehn Reichsmark?“
Cäsar Testing, der junge Zweitgeiger, erkundigt sich interessiert: „Muß man zehn Mark an der Grenze haben?“
„Jawohl. Zehn Mark in bar sind das Höchste der Gefühle.“
Cäsar Testing hat trotz seines heroischen Vornamens ein schüchternes, kindliches Gemüt. Manchmal ist er sogar etwas zu naiv, eine liebwerte Eigenschaft, die sein Kamerad Max Schamek, der Berliner, lieblos mit „doof“ bezeichnet. Das heißt, nicht in der Musik, da beileibe nicht. Aber gegenüber den praktischen Anforderungen des Lebens ist Cäsar Testing, wie gesagt, manchmal etwas hilflos. Und von den Ausführungsbestimmungen der Devisengesetze hat er nun schon gar keinen Schimmer. Er fummelt in seiner Westentasche herum und macht plötzlich ein so klägliches Gesicht, daß die Kameraden aufmerksam werden.
„Warum siehst du denn plötzlich aus wie eine Katze, wenn’s donnert, Cäsario?“
„Weil ... ach Gott, ich hab’ gar nicht mehr an die zehn Mark gedacht. Ich hab’ mir doch auf dem Lehrter Bahnhof ein paar belegte Brötchen und Schokolade gekauft, und nun ...“ Er fördert einige Silberstücke aus seiner Tasche zutage und hält sie den Kameraden entsetzt hin ... „loh hab’ nur noch acht Mark!“
Eine Sekunde stutzen die Musiker. Ist das ein Witz? Oder glaubt er wirklich ...?
„Tja, das ist eine böse Sache, mein Lieber,“ sagt Beppo von Pollinger dann todernst. „Wie willst du da über die Grenze kommen?“
„Ihr müßt mir helfen!“ Cäsar sieht aus seinen bangen wasserblauen Augen die Kameraden der Reihe nach flehend an. „Einer von euch muß mir die fehlenden zwo Mark leihen.“
Die Musiker haben plötzlich alle ebenso ernste wie teilnehmende Gesichter. Sie suchen in ihren Taschen und schütteln bedauernd die Köpfe. „Ausgeschlossen, Cäsar. Wenn wir dir was pumpen, dann haben wir ja zu wenig. Es hat doch keiner mehr als die zehn Mark bei sich!“
„Um Gottes willen, was mach’ ich denn da?“
„Du wirst an den Grenzstation zurückbleiben müssen!“ prophezeit Albrecht Erlenkamp mit Grabesstimme.
„Man kann sich notfalls an der Grenze mit der Devisenstelle in Verbindung setzen,“ tröstet Max Schamek.
„In besonders dringenden Fällen wende man sich direkt an den Reichsfinanzminister,“ fällt Silvester Begas ein, nur mühsam das Lachen verbeißend.
„Wie wär’s, wenn du dich verstecktest?“ schlägt Hans Böge vor.
Cäsar Testing ist unglücklich. Er kennt seinen Mozart, seine alten und neuen Meister aus dem Effeff, aber von dieser Sache versteht er wirklich nichts. Und er hat sich doch noch vor ein paar Tagen so vorsorglich erkundigt. Zehn Mark muß man an der Grenze vorzeigen, haben die Kameraden gesagt. Cäsar Testing hat das ganz in der Ordnung gefunden. In seinem Hirn spukt irgend etwas, das er mal gelesen hat, eine unbestimmte Erinnerung an die Geschichte eines Amerikafahrers, der bei der Einreise eine bestimmte Summe in Dollar vorzeigen mußte.
„Ich ... ich werde Lore Glant fragen!“
„Lore schläft noch.“ Die Kameraden halten den Ratlosen, der ins Nebenabteil hasten will, am Rockschoß fest. „Und überhaupt, diesmal kann auch Lore dir nicht helfen. Junge, Junge, was wird das geben!“
Die Bremsen kreischen, langsam gleitet der Zug in die Grenzstation. Deutsche Zollbeamte sind plötzlich da, gehen von Abteil zu Abteil. Ein Polizeibeamter prüft kurz die Pässe.
„Entschuldigen Sie, bitte, ich habe nur acht Mark!“ Cäsar Testing hält dem Beamten treuherzig die Silberstücke entgegen. „Ich hatte ganz vergessen ... bitte, ich hatte Hunger und ... da hab’ ich mir etwas gekauft ...“
„Nanu?“ Der Beamte blickt bald die Geldstücke, bald den aufgeregten jungen Mann verständnislos an. „Was wollen Sie denn ...?“
Der Blick des Kontrollierenden geht unwillkürlich von dem angstvollen Antlitz Cäsar Testings über das Abteil, trifft die hinter ihm stehenden grinsenden Gesichter, das lustige Blinzeln der Augen. Plötzlich beginnt auch der ernste Beamte zu schmunzeln.
„Hm. Sie haben also nur acht Mark bei sich?“
„Jawohl. Ich hatte zehn, aber wie gesagt ...“
„N-n-a!“ sagt der Beamte ernst. „Dann wollen wir Sie mal ausnahmsweise mit den acht Märkern passieren lassen. Morjen!“
Hinter ihm ist das Abteil ein einziges, brüllendes Gelächter.
*
Jenseits der Grenze, auf der dänischen Zollstation, steigt ein einzelner Herr in den Zug, der mit sicherem Blick sofort auf das Abteil der Kapelle Begas zusteuert.
„Da sind Sie ja. Alles in Ordnung, meine Herren?“
„Was soll denn nicht in Ordnung sein?“ August Erlenkamp wirft dem Herrn einen düsteren Blick zu. Er kann den gönnerhaften, jovialen Ton des Managers nun mal nicht leiden. „Hoffentlich haben Sie gute Quartiere für uns in dem Kaff.“
„Seien Sie froh, wenn Sie immer in einem solchen ‚Kaff‘ spielen können.“ Herr Mallik zupft gekränkt die Bügelfalten seiner tadellosen hellgrauen Sommerhosen glatt. „Sie scheinen über Fanö ja eine nette Vorstellung zu haben, mein Bester.“
„Ich habe vor zwei Jahren in Westerland gespielt.“
„Was ist das schon!“ Herr Mallik kehrt dem ärgerlichen Klaviervirtuosen den Rücken und wechselt einen Händedruck mit Silvester Begas, seine Worte fortan nur noch an den Kapellmeister richtend. „Das Seebad Fanö kann sich in jeder Hinsicht mit Westerland messen. Ich hoffe, Sie schätzen es, daß es meinen Bemühungen gelungen ist, Sie für diesen Monat dort anzubringen. Der Kontrakt ...“
„Nun, der Kontrakt ist so von der Mittelsorte, nicht wahr?“
„Man muß sich nach der Decke strecken, lieber Begas.“
Herr Mallik neigt würdevoll ein wenig den Kopf. „Die dänische Valuta steht nicht sonderlich hoch. Die Gage ist für hiesige Verhältnisse ausgezeichnet. Sie wohnen teils im Kurhotel, teils in sehr schönen Dependancen. Die Preise sind ...“
„Hoffentlich haben Sie auch ein gutes Quartier für Fräulein Glant?“
„Ah, Fräulein Glant ist mitgekommen?“ Der Manager sieht sich suchend um und macht kein allzu freundliches Gesicht. Er kann es nicht recht leiden, daß diese junge Dame immer und überall dabei sein muß. Ehrlich gesagt, es wäre ihm sogar bedeutend lieber, wenn sie endlich daheim bliebe. Das Mädel hat einen so unverschämt klaren Blick und eine unheimliche Sicherheit in allen Geldangelegenheiten. ‚Keine Stunde möchte ich sie in meinem Büro haben,‘ denkt Herr Mallik und strömt im nächsten Augenblick über vor Herzlichkeit, denn Lore Glant ist aus dem Abteil auf den Gang getreten. „Küß die Hand, meine Gnädigste! Entzückt, daß Sie uns hier in Dänemark die Ehre geben. Wirklichkeit, sehr entzückt! War allerdings nicht vorauszusehen. Ich muß gestehen, daß ich bei der Bestellung der Zimmer nicht an Sie ... Nun, es wird sich machen lassen, wird sich trotzdem machen lassen.“
„Haben Sie keine Sorge, Herr Mallik,“ sagt Lore kühl, ihre Finger aus der fleischigen Hand des Managers lösend. „Ich such’ mir schon selbst etwas. Braucht ja nicht gerade das Kurhotel zu sein.“
Herr Mallik lacht fett und rasselnd. „Geht alles in Ordnung, meine Gnädigste. Überlassen Sie die Dispositionen nur mir! Mit mir ist noch niemand schlecht gefahren, was, lieber Begas?“ Zustimmung heischend, suchen seine unter dicken Fettpolstern fast versteckten Augen den Kapellmeister. Dann wendet er sich mit Generalstabsmiene an die Musiker.
„Wir falhren bis Esbjerg. Von dort mit dem Fährboot zur Insel Fanö ...“
„Wir hätten den Weg auch ohne Ihre freundliche Belehrung gefunden,“ knurrt Erlenkamp. Herr Mallik zuckt, gegen Begas gewendet, vornehm die Achseln. „Ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen entgegenzufahren und Sie zu betreuen. Meines Wissens spricht niemand von Ihrer Kapelle dänisch?“
„Kaum, Herr Mallik. Ich bin Ihnen natürlich dankbar für Ihre Bemühung.“
Herr Mallik nickt befriedigt und greift plötzlich mit schadenfrohem Lächeln in die Brusttasche. Einen kleinen Pfeil hat er noch für seinen persönlichen Feind, den Herrn Albrecht Erlenkamp.
„Verzeihung, ich vergaß, Herr Erlenkamp. Ein Telegramm für Sie. Heute früh angekommen. Aus Berlin. Ich glaube, von Ihrer verehrten Frau Gemahlin.“
„Komme morgen nach. Auguste,“ liest Erlenkamp und läßt erbittert das Papier sinken. „Sie kommt wirklich! Nicht einmal die paar Sommertage kann man hier in Ruhe verleben!“
„Erlenkamp, du bist ein grober Hunne!“ sagt Lore Glant empört. „Freu dich lieber, daß deine Frau kommt! Das ist doch wirklich nett!“
„Sehr nett,“ bestätigt Albrecht Erlenkamp gehorsam. Sein Gesicht sieht aus wie ein Nokturno.