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2. Kapitel.

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„Gottlob, daß Sie da sind!“

Auch oben im Zechendorf wiederholte sich der Ausruf, als Frau Irene, von dem Reviersteiger begleitet, aus dem Förderkorb stieg. Die Herren von der Verwaltung fühlten sich wirklich erleichtert. Ob nun den Assessor, der unten im Bergwerk den Cicerone gemacht hatte, das Verschulden der Unachtsamkeit traf oder nicht, — es wäre jedenfalls mehr als peinlich gewesen, wenn einem Gast, der zum Bekanntenkreise des mächtigen Industriellen Körner gehörte, ausgerechnet hier im Pütt etwas zugestoßen wäre. Die jüngeren Herren, die Frau Irene im Triumph zum Waschzimmer des Verwaltungsgebäudes führten, strahlten. Nur der Betriebsleiter, der bärbeißige, stiernackige Bergrat Scholz sah ihr und ihrem Gefolge von seinem Bürofenster aus brummig nach. Diese Besuche! Er, Scholz, wies sonst grundsätzlich alle Leute ab, die um Erlaubnis zur Besichtigung der Grube nachsuchten, selbst die Herren von der Presse. Besichtigung der Anlagen über Tage, des Förderturms und der Kokereien — herzlich gern. Aber einfahren ist nicht! Der Pütt da unten ist eine Arbeitsstätte, kein Tummelplatz für Neugierige! Aber da telefoniert einem von Dortmund aus der Geheimrat Körner, daß einige Freunde ihn gebeten hätten, bei der Durchreise einmal ein Bergwerk besichtigen zu dürfen. Was kann man da machen. Man muß den Liebenswürdigen spielen und dem Wunsch des „alten Mannes“ nachkommen. Na, dem Himmel sei getrommelt und gepfiffen, daß die Geschichte gut ausgegangen und nun zu Ende war.

Da kam die Dame ja schon aus dem Haus zurück, frisch gewaschen und leidlich frisiert. Ohne den „kleidsamen“ Arbeitsanzug. Donner ja, schick und elegant sah sie schon aus. Und hübsch war sie auch! Das sorgsam abgetönte Rotblond des Haares, die geschmeidige Gestalt, das ausdrucksvolle Mienenspiel ihres schmalen Gesichtes, — na, die würde noch manchem Kopf und Kragen verdrehen im Leben.

Bergrat Scholz fand es nicht für nötig, sich persönlich von den Besuchern zu verabschieden. Das mochten die jüngeren Herren des Büros machen. Er hatte seine Pflicht getan, den Freunden des Chefs die Einfahrt in den Schacht erlaubt. Und er war froh, daß das jetzt erledigt war. Vor dem Zechentor wartete ja schon das Auto der Gesellschaft.

Es waren nicht viel Leute um diese Zeit im Zechenhof. Ein paar Mechaniker und Monteure in blauen Arbeitsanzügen sahen einen Augenblick neugierig aus dem Kesselhaus heraus, als die kleine Gesellschaft über den Hof schritt. Und vorne, unter dem grauen Torbogen, über dem in rauchgeschwärzten, kaum noch leserlichen Buchstaben der Name „Zeche Constantin VIII“ stand, lungerten ein paar halbwüchsige Kinder herum, und zwei junge Frauen, die Markttasche am Arm, musterten mißmutig den großen, eleganten Tourenwagen, der da vor dem Zechentor hielt.

Eine dieser beiden Frauen war Paula Becker, die Tochter des Schießmeisters August Becker. Sie war einkaufen gewesen und hatte beim Rückweg vom Kaufmann festgestellt, daß nur noch zwanzig Minuten bis zum Schichtwechsel fehlten. Da konnte man ja gleich auf den Vater warten. Und auf Karl Kühne, der schon seit zwei Jahren als Untermieter beim alten Becker wohnte.

Frau Irene Sellenthin achtete nicht auf das Mädchen in dem billigen Kattunkleid, an dem sie vorüberschritt. Paula Becker aber sah sie sehr gut. Allerdings, sie sah etwas ganz anderes als der Bergrat, der vom Fenster her den Besuchern nachschaute. Sie sah mit dem scharfen Blick der Frau sofort jede kapriziöse Einzelheit der Kleidung, die diese Fremde trug: das hechtgraue Kostüm, dessen flaumige Weiche man ahnte, auch ohne es zu befühlen, die schwere Seide der Bluse, die unter dem kurzen Jäckchen hervorblitzte, das Gefunkel der winzig kleinen Brillantuhr am Handgelenk, die merkwürdig geschwungene, goldschwere Spange an dem verwegenen, kappenförmigen Hütchen.

Paula Becker war ein nüchternes Kind der Roten Erde, ohne falschen Ehrgeiz und ohne Illusionen. Sie empfand keinen Neid und keine Sehnsucht beim Anblick dieser Herrlichkeiten, nur einen leisen Unwillen: Was will denn die hier im Pütt? Die soll doch bleiben, wo sie hingehört.

Das Auto fauchte und zwitscherte davon.

Zehn Minuten später saßen Frau Irene und ihre Begleiter bereits im Restaurant des Park-Hotels, in einer Umgebung, die durch nichts mehr an die düstere Kohlenwelt der Zeche erinnerte. Aber selbstverständlich bildete Frau Irenes Erlebnis unter Tage immer noch den Gesprächsstoff.

„Ich hätte wirklich gern gewußt, wer mein Führer da unten gewesen ist, der sich ohne Abschied auf einmal verzogen hatte,“ sagte Frau Irene nachdenklich. „Ein Kavalier war er jedenfalls, aber einer, der da unten Bescheid wußte.“

Einer der Herren setzte ein wissendes Gesicht auf. „Ich glaube, da kann ich Ihnen dienen, gnädige Frau. Nach allem, was Sie von dem Herrn erzählen, kann ich nur annehmen, daß Sie an Willy Körner geraten sind, Körner junior, den einzigen Filius unseres verehrten Geheimrats.“

„Lächerlich! Der junge Körner wird Besseres zu tun wissen, als da unten in den Gruben seines alten Herrn herumzukriechen!“

„Sagen Sie das nicht, Verehrteste,“ mischt sich nun auch der lange Baron Rottländer in das Gespräch. „Ich kenne den jungen Herrn zwar persönlich ebensowenig wie Sie. Man sieht ihn ja nie bei den Gesellschaften des Geheimrats. Aber man spricht um so mehr von ihm. Soll ja so ’ne Art Sonderling sein. Arbeitsfanatiker, sozialer Reformer und so weiter. Er begnügt sich nicht damit, die Berg-Akademie zu besuchen. Er arbeitet praktisch in den Gruben, genau wie jeder andere Bergmann. Wäre schon möglich, daß Sie ihm da unten begegnet sind.“

„Aber — dann hätte er sich doch vorgestellt!“

Der Baron wiegt den Kopf. „Möchte ich auch nicht ohne weiteres annehmen. Nach allem, was ich von dem jungen Körner weiß, legt er wenig Wert auf gute Gesellschaft. Selbst auf die Gesellschaft einer so wunder-wunderschönen Frau.“ Er küßte Frau Irene flüchtig die Hand und fuhr dann achselzuckend fort: „Er geht vollständig in seiner Arbeit auf. Das Bergwerk und die Bergarbeiter — etwas anderes gibt es für ihn kaum. Soll sogar einem ‚on dit‘ zufolge monatelang in einer Arbeiterkolonie gewohnt haben, um die sozialen Verhältnisse dort zu studieren.“

„Also gut.“ Frau Irene lacht belustigt. „Nehmen wir an, daß mein Führer der Sohn vom Geheimrat Körner persönlich war. In diesem Falle kann der alte Körner stolz sein. Guter Schlag, sein Junge. Ich werde es ihm bei Gelegenheit sagen.“

„Wir könnten ja einen Abstecher nach Dortmund machen und den alten Körner besuchen. Er wollte doch Ende dieser Woche aus Schweden zurück sein.“

Frau Irene klopft energisch mit ihrem Ring an die Tischplatte. „Keine Extratouren, lieber Freund. Wir halten uns an unser Programm. Von hier geht’s nach Pyrmont. Der Doktor hat mir nun mal die vierwöchentliche Kur verschrieben und würde mich schon mächtig anfauchen, wenn er wüßte, daß wir erst diese Fahrt durch Westdeutschland gemacht haben. Im übrigen — nach dem heutigen Erlebnis in dieser finsteren Unterwelt hab’ ich wirklich genug von dem Kohlenland hier. Ich will Sonne, Wald, Grün und Ruhe.“

Der lange Baron erhob sich phlegmatisch. „Dann will ich den Wagen nachsehen. Erledigen Sie inzwischen die Rechnung, lieber Joachim.“

*

„Wo steckst du, Kumpel? Steiger hat schon zweimal nach dir gefragt!“

Der Schlepper Dombrowski empfing seinen Hauer mit bedenklichem Gesicht und schlenkerte erschrocken mit der Hand, als habe er sie verbrannt, als er den Mantel betrachtete, den Karl Kühne auszog, um ihn wieder in den Verschlag zu hängen. „Au weh! Was hast du gemacht mit Mantel, Kumpel? Ist sich ja großes Loch drin!“

„Tja.“ Karl Kühne besah tiefsinnig den langen Riß, der sich über die halbe Seite des Mantels hinzog. „Wie ich eben zurückging durch den Hauptstollen, bin ich mit dem dämlichen Ding an einer der Hunde hängen geblieben. Hoffentlich merkt der Steiger nix.“

Die Hoffnung erwies sich als trügerisch. Karl hatte kaum den Mantel fortgehängt, als Dombrowski einen scheuen Blick rückwärts warf und ihn anstieß:

„Der Jagdhund!“

Da war auch schon der Steiger Kaminski. Er gab sich kaum Mühe, das übliche „Glück auf“ zu brummen.

„Was fällt Ihnen denn ein, Kühne! Fortlaufen, mitten in der Schicht! Der Dombrowski hat seit ’ner Stunde nichts als Dreck gefördert!“

„Mußte ’ne Frau zum Schacht bringen, die sich verirrt hatte,“ brummte Karl, ohne mit der Arbeit innezuhalten.

„Besuch vom Alten.“

„So?“ Kaminski stemmte die Arme in die Hüften. „Und da ziehen Sie sich einfach meinen Mantel an? Hab’ schon vom Schachtmeister gehört, wie Sie angegeben haben!“

„Na, sollt ich mich vielleicht nackt vor die Frau hinstellen?“ Karl hieb auf den Fels ein, daß die Gesteinsbrocken dem Steiger um die Ohren spritzten. Kaminski setzte ein höhnisches Gesicht auf.

„Hab’ ich gar nicht gewußt, daß Sie so feinfühlig sind.“ Er holte den Mantel aus dem Verschlag und begann plötzlich wütend zu zetern. „Also das ist doch ... so was von Frechheit! Der Mantel ist ja kaputt! Sie haben meinen Mantel zerrissen, Sie ...! Vorgestern hab’ ich ihn erst gekauft! Kostet zwoundzwanzig Mark! Jawohl! Zwoundzwanzig! Und Sie ...“

Karl Kühne spuckte aus. „Wat brauchen Sie auch so ’n Dings mit unter Tag zu nehmen, Steiger! Konnten Sie ja in der Waschkaue lassen!“

Kaminski fluchte wie ein reaktionärer Alttürke. „Geht Sie gar nichts an, Kühne! Ich kann anziehen, was mir paßt! Ich tu meine Arbeit darum genau so gut wie Sie!“

„Hat ja keiner was von gesagt.“ Karl griff wieder nach der Hacke, aber der Steiger hielt seinen Arm fest.

„Zwoundzwanzig Mark! Sie werden mir den Mantel ersetzen! Einen zerrissenen Mantel kann ich nicht brauchen! Schadenersatz, oder ich melde Sie beim Reviersteiger!“

„Häng dich auf, du dämlicher ...“

„Sechs Uhr, Steiger,“ unterbrach der kleine Dombrowski freundlich seinen Kumpel und drängte sich, seine dicke, altmodische Zwiebel emporhaltend, vor den Steiger hin. „Acht Stunden von Seilfahrt bis Seilfahrt. Die Schicht ist rum.“

„Wir sprechen uns oben noch, Kühne!“ Der Steiger knüllte den Mantel zusammen und schob ihn unter den Arm. Seine Schritte verhallten im Stollen.

Karl Kühne packte bedächtig sein Gezähe zusammen, zog sich an und machte sich ebenfalls auf den Weg zum Schacht. Wie ein treuer Hund trippelte auf seinen kurzen, krummen Beinchen der Schlepper Dombrowski neben ihm her, leckte sich unterwegs das Blut von der Hand, wo ihn bei der Arbeit ein spitzer Steinbrocken getroffen hatte.

Die Schritte der beiden knirschten auf dem Kohlenbelag der Sohle. Aus den Nebenstollen tauchten tanzende Fünkchen auf, verdrossenes, mürrisches „Glück auf“, Kumpels mit hängenden Schultern, geschwärzten, schweißtriefenden Gesichtern und Nacken sickerten aus den Gängen, wurden zu grauen Klumpen, zu einem Strom, der sich durch den dunklen Leib des Berges dem Schacht entgegenwälzte, von dem schon ein anderer grauer Strom entgegenflutete, die Schichtablösung.

Karl Kühne machte lange Schritte, um nicht in das Gedränge hereinzukommen. Der kleine Dombrowski konnte kaum mit. Dann hockten sie mit vierzig anderen Kumpels im Förderkorb. Fünf Schläge. Aufwärts ging die Fahrt. Wer’s nicht gewohnt war, dem verschlug’s den Atem. Aber wer war das nicht gewohnt?

Grubenlichter flogen vorbei, triefende Verschalung. Wenn jetzt das Seil riß! Ist oft genug schon vorgekommen, daß der Förderkorb in die Tiefe gesaust ist und zermalmt hat, was drinnen war. Aber niemand von den Männern denkt daran. Man fährt ein, man fährt aus. Und wenn es so sein soll, dann bleibt man eines Tages da unten bei der Kohle. Bergmannslos.

Die Fahrt wurde langsamer. Mit einem harten Ruck hielt der Förderkorb über Tage. Karl Kühne blinzelte aus schmalen Augenlidern. Es war nur die matte, kraftlose Sonne des Kohlenlandes, die aus halbverhangenem Himmel schien. Den Männern der Tiefe aber war es, als ob ihnen das grellste Tropenlicht in die Augen knallte.

Heute war Löhnungstag. Von der Waschkaue ging es hinüber zum Lohnbüro. Karl Kühne zählte mißmutig den Inhalt seiner Tüte: Neununddreißig Mark sechzig. Er sonderte zweiundzwanzig Mark davon ab und drückte sie dem kleinen Dombrowski in die Hand.

„Drüben steht der Jagdhund. Lauf rüber und gib ihm das Geld, Dombrowski. Sonst sorgt er noch dafür, daß ich morgen meine Papiere kriege.“

Der verdammte Mantel! Mit schweren Schritten ging Karl Kühne über das Steinpflaster des Zechenhofs. Aber als er das Tor erreichte, hatte seine Stirn sich schon wieder geglättet. Da stand unter der Menge von Frauen und Kindern, die sich inzwischen angesammelt hatten, die Paula und nickte ihm zu.

Karl Kühne gab ihr die Hand.

„Vater ist schon nach Haus gegangen,“ sagte das Mädchen ruhig. „Aber ich hab auf dich gewartet.“

„Daß ich durchgehe und den Abschlag versaufe, was Paula?“ lachte der Hauer neben dem Mädchen herschreitend. Sie zuckte nur die Achseln, ohne auf seine Neckerei einzugehen. Paula Becker verstand sich überhaupt nicht auf Neckereien. Sie war immer ernst und ruhig. Das Leben im Kohlenland hatte das so mit sich gebracht. Wenn man von seinem vierzehnten Lebensjahr an mit kargem Geld einen Haushalt führen, für Vater, Bruder und jetzt auch noch für den Karl sorgen muß, verliert man leicht den Sinn für harmlose Scherze. Und außerdem war das doch Quatsch. Sie kannte doch wahrhaftig den Karl Kühne gut genug. Der vertrank sein Geld nicht. Der war ein grundsolider Mensch, und die Paula machte kein Hehl daraus, daß sie sich ihre Zukunft als Frau Kühne dachte.

„He! Kühne! Warten Sie mal!“

Der Steiger Kaminski holte die beiden ein und hielt dem gereizt Aufschauenden ein Bündel hin. „Was Recht ist, ist Recht. Sie haben den Mantel gezahlt, also gehört er auch Ihnen.“

„Was soll ich damit?“ Karl hätte am liebsten eine Grobheit hinzugefügt, aber auf den fragenden Blick Paulas bequemte er sich zu einer kurzen, mürrischen Erklärung.

Das Mädchen hatte, während er sprach, den Mantel auseinandergefaltet und betrachtete den Schaden. Auch ihr Gesicht war finster geworden. „Zweiundzwanzig Mark für so ’nen Fetzen?“

„Was Recht ist, muß Recht bleiben,“ erklärte Kaminski noch einmal und lüftete die Mütze vor Paula. „Schönen guten Abend, Fräulein Becker.“

Karl Kühne sah ihm nach und zerquetschte ein Schimpfwort zwischen den Zähnen. Dann griff er nach dem Bündel in Paulas Händen.

„Schmeiß das Ding doch weg! Kann sich ’n Hund an den Schwanz binden!“

Aber Paula, die praktische, hausfrauliche Paula hielt den Mantel fest. „Nee, wo du ihn doch nun mal bezahlt hast, Karl. Da behalt doch wenigstens den Mantel. Den Riß flick ich schon aus.“

Die Stimmung wurde nicht besser, während sie weitergingen. Beiden lag das unnütz fortgeworfene Geld auf der Seele. Zweiundzwanzig Mark! Das war ein halber Wochenlohn. Eine halbe Woche schwerer, schwitzender Frondienst da unten im Schacht. Wenn die Menschen alle wüßten, wie schwer und mühevoll das Geld oft verdient wird, sie würden es mit mehr Achtung behandeln.

Lastautos mit Kumpels, die zu den entfernter liegenden Arbeiterkolonien fuhren, rasselten vorüber. Grußworte flatterten vorüber, Gesprächsfetzen, derbe Scherze. Ein struppiger Köter jagte eine Strecke heulend und kläffend neben einem der Wagen her.

In den Türen der grauen Häuserreihen, an denen sie der Weg vorbeiführte, standen Arbeiterfrauen. Kinder spielten auf dem Bürgersteig und in den Hausgängen, die wie dunkle Höhlen aussahen. Dann stapften sie eine knarrende, schiefgetretene Holzstiege empor.

Oben hatte sich August Becker, der alte Schießmeister, bereits lang auf das Bett geworfen. Seine grauen Wollsocken staken über die Bettkante hinaus.

„’n Abend, Vatter.“ Paula sah sich in der Wohnküche um. „Wo ist denn Franz?“

„Noch nit da.“ Der alte Becker brummelte ärgerlich. „Wenn der Bengel sich heut widder rumtreibt, versohl ich ihn.“ Er griff sich stöhnend an die Hüfte und schnitt ein Gesicht. Das verfluchte Bein! Das wollte immer noch nicht so recht, seitdem damals vor vier Jahren ihm auf der Zeche „Friedrich der Große“ ein „Sargdeckel“ die rechte Seite eingeklemmt hatte. Zuerst, im Knappschafts-Krankenhaus, hatte es geheißen, er würde pensioniert werden. Aber dann hatten sie ihn doch wieder arbeitsfähig geschrieben. Und im Grunde war es ihm recht so. Der alte Becker konnte sich keine rechte Vorstellung davon machen, was er den Tag über anstellen sollte, wenn es für ihn keine Schicht mehr gäbe. Und den vollen Arbeitslohn konnte man, weiß Gott, auch gebrauchen.

Paula rumorte am Küchenherd mit Bratpfanne und Töpfen. Die Bratkartoffeln zischten und brodelten im Fett. Karl war in seine Schlafstube gegangen, um sich umzuziehen.

„Wat war denn dat heut für en Gedöhns bei euch, Karl?“ fragte die Stimme des alten Becker durch die halbgeöffnete Tür. „Alarm auf Sohle III? Is da wat passiert?“

„Nee. Da hatt’ sich bloß einer verlaufen, ’n Besuch von der Verwaltung.“ Karl Kühne ärgerte sich. Nun mußte ihn der Alte auch wieder an die dumme Geschichte erinnern. Und an die zweiundzwanzig Mark.

Aber es kam vorläufig zu keinem weiteren Meinungsaustausch über das Erlebnis des Tages. Die Tür wurde so rasch aufgerissen, daß sie gegen die Wand schlug und den in der Ecke hängenden Handfeger herunterwarf. In der Tür stand ein sechzehnjähriger Bursche, den speckigen Hut in den Nacken geschoben.

„Kannste nit anständig die Tür aufmachen?“ Vater Becker warf seinem jüngsten Sprößling einen nicht gerade liebevollen Blick zu. „Wo haste dich wieder herumjetrieben? Die Paula wartet all mit ’m Essen!“

Der Junge schloß etwas vorsichtiger die Tür und kam langsam vollends in das Zimmer. Ein typisches Kind des Kohlenlandes war der Franz. Ein wenig klein geraten, ein bißchen krummgewachsen, etwas bläßlich. Er schaffte in der Lampenbude, putzte und rieb seit einem Jahr die Grubenlampen und pfiff die „Waldeslust“ dabei. Seine Gestalt war noch unausgeglichen, seine Bewegungen schlacksig. Nur seine Augen waren schon entsetzlich alt. Die hatten schon allerhand gesehen in ihrem jungen Leben: Zerschundene Menschen, die auf Bahren aus dem Förderkorb getragen worden waren, heulend, oft auch steif und kalt, Betrunkene, die viehisch um sich schlugen, haßglühende Streikpostengesichter und gramzerfressene Frauenaugen, die stumm am Zechentor auf Nachricht harrten. So jung er war, der Franz, er kannte den Pütt genau und wußte nur zu gut, wie viele Kumpels im Jahr unter Tag verrecken, ganz abgesehen von den großen Grubenkatastrophen, von denen alle Welt spricht.

Aber heute stand die helle Freude in seinem Gesicht. Er kümmerte sich nicht um das Knurren des Vaters. Er reckte sich, plötzlich Mann geworden, warf den Beulenhut in eine Ecke und stolzierte gravitätisch zu seinem Platz auf der Küchenbank, schwer und wuchtig, wie ein Kumpel geht.

„Wat haste denn, — dumme Jung!“ Der alte Becker betrachtete verwundert das Gehaben des Jungen. „Haste am Automat ’nen Jroschen gewonnen? Du sollst dat Bajazzo-Spielen lasse! Ich mag dat nit!“

Franz machte eine abwehrende Handbewegung, sah dann, den Kopf in beide Hände gestützt, die Ellenbogen aufgestemmt, über den Tisch triumphierend Vater und Schwester an.

„Vatter!“ Seine Augen glänzten wie zwei feuchtschimmernde Kohlenstückchen. „Der Steiger hat et mir eben gesagt: Ich darf am Montag einfahren!“

Paula rumorte stärker und energischer am Herd mit ihrem Geschirr. Der alte Bergmann stopfte sich schweigend seine Tabakpfeife. Nachdenken war sonst nicht August Beckers Sache, aber in diesem Augenblick ging ihm doch so allerlei im Kopf herum. Also der Franz war nun auch so weit, fuhr als richtiger Kumpel in die Tiefe. Er dachte an sein eigenes Leben, ein langes Arbeitsleben zwischen Schicht und Schicht, an die Frau, die den Franz und die Paula geboren hatte und die schon viele Jahre auf dem kleinen Friedhof schlief, an seinen Ältesten, den Willem, den sie bei dem großen Unglück auf „Minister Stein“ tot heraufgebracht hatten, an viel tausend andere Kumpels, die tagaus, tagein im Ruhrgebiet zur Schicht fuhren. Und der Franz würde also jetzt auch hinunterfahren in die Kohle, Tag für Tag, Jahr für Jahr, wie er selbst, wie der Karl Kühne, wie hunderttausend Kumpels im Land der Roten Erde.

Der Alte räusperte sich und klopfte die Tabakpfeife in der hohlen Hand aus. „Morgen is Sonntag, Jung,“ sagte er bedächtig. „Da kannste dir dein Arbeitszeug zurechtmachen und dir aus dem Werkzeugkasten ’n anständiges Gezähe zusammensuchen.“

Franz nickte. „Darf ich dat vom Willem haben, Vatter?“ Das alte, leidvolle Wissen in den Kinderaugen war verschwunden, ausgelöscht die Erinnerung an die Schwere und Not des Bergmannslebens, in dessen Schatten er aufgewachsen war. Mitten im Essen hielt er plötzlich inne. Die Gabel mit der dampfenden Kartoffel blieb in der Luft stehen, und noch einmal quoll es dem jetzt aus dem Nebenzimmer eintretenden Karl Kühne entgegen wie ein Jubelschrei:

„Ich fahre morgen ein!“

Der Mann aus der Tiefe

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