Читать книгу Unaufgefordert erscheint - Axel Rudolph - Страница 4

1

Оглавление

„Was kann schon passieren!“ grient der kleine, vierschrötige Mann, der in dem nüchternen, hellen Amtszimmer vor dem Arbeitstisch des Polizeiinspektors Kollund steht. „Ne kleine Reise auf’s Land, was?“

„Diesmal wird’s wohl ’ne kleine Reise übers Wasser, Mortensen. Nämlich ins Zuchthaus nach Horsens. Wie oft sind Sie nun schon rückfällig geworden?“

„Na, Horsens ist auch vergänglich. Denn also auf Wiedersehen, Herr Kollund. So in ein — zwei Jährchen, was?“

Ein Beamter führt den Vernommenen ab. Inspektor Kollund lächelt ihm einen Augenblick nach. Er hat bei aller Strenge eine kleine Schwäche für „seinen“ Ole Mortensen, diesen Unverbesserlichen, den er nun schon zum Gott weiß wievielten Male wegen Diebstahls zwischen den Fingern hat.

„Das übrige können wir uns zusammenreimen“, wendet Kollund sich an den Assistenten Nörholm. „Nach dem, was Mortensen vorhin eingestanden hat, ist der Fall ja klar. Mortensen hat den Einsteigediebstahl in der Blaagaardsgade ausgeführt, Frandsen hat Schmiere gestanden, und „Kylling“ hat die Gelegenheit ausbaldowert und Mortensen von der Abwesenheit des Ladeninhabers benachrichtigt.“

„Wenn Mortensen die Wahrheit gesagt hat.“

„Doch, Nörholm, das Geständnis enthält sicher die Wahrheit. Ole Mortensen belügt mich nicht.“

„Hm. Sie trauen Ole ziemlich viel, Herr Kollund.“

Das stille Lächeln im Gesicht des Inspektors verfliegt. Auf einmal hat Kollund ein trockenes, nüchternes Beamtengesicht. „Wir haben Grund, ihm diesmal zu trauen, Nörholm. Ole Mortensen hofft, noch einmal am Zuchthaus vorbeizukommen. Daher sein bereitwilliges Geständnis. Er weiß, daß unser Bericht ausschlaggebend dafür sein wird, ob der Richter sich überhaupt überlegt, wie weit er noch einmal Gnade walten und auf eine Gefängnisstrafe erkennen soll. Mortensen wird uns bestimmt nicht verärgern wollen, indem er uns belügt und falsche Geständnisse auftischt.“

„Allerdings, Herr Kollund. Wenn man’s so nimmt ...“

„Geben Sie das neue Material an Oberwachtmeister Helmers. Er kann mal zum Vestergefängnis rausfahren und den Frandsen dort vornehmen. Unnötig, daß wir ihn deshalb noch mal hierher transportieren lassen.“

„Jawohl, Herr Kollund. Ich bin überhaupt gegen die ewigen Transporte. Unterwegs im Gefangenenwagen finden die Burschen immer wieder Gelegenheit, miteinander zu sprechen oder zu kassibern. Die Vernehmungen könnten ebensogut samt und sonders draußen in der Strafanstalt stattfinden.“

„Ganz Ihrer Meinung. Ich werde bei Gelegenheit mal mit dem Chef darüber reden.“ Kollund hat die Bogen mit dem Geständnis Ole Mortensens durchgesehen, mit einer kurzen handschriftlichen Bemerkung versehen und zusammengepackt. „So, das wäre für den Augenblick wohl alles. Oder haben Sie sonst noch was, Nörholm?“

„Nein. Höchstens wäre ... Haben Sie heute schon die ‚Politiken‘ gelesen, Herr Kollund?“

„Noch nicht.“ Der Inspektor langt nach der Zeitung, die druckfrisch und zusammengefaltet auf dem Tisch liegt. ‚Steht denn was Besonderes drin?“

„Hier, Herr Kollund.“

Inspektor Kollund liest die Stelle, die ihm der Assistent weist, zieht erst ein wenig die Brauen hoch und kneift dann ärgerlich die Lippen zusammen. Auch in Nörholms Gesicht steht schwer verhaltene Entrüstung.

„Wir gedenken zum Osterfest ein Preisausschreiben zu veranstalten“, wiederholt Nörholm erbittert die Zeitungsnotiz, die ihm Wort für Wort im Gedächnis geblieben ist. „Unsere verehrten Leser sollen uns einmal ihre Meinungen sagen, wo der noch immer nicht gefundene Mörder Ingrid Steegs seinen Ostersonntag verbringt. Jedermann kann sich beteiligen, — auch die Polizei!“

„Frech!“ fügt Assistent Nörholm hinzu. „Es ist eine Schande, daß diese Zeitungsskribenten alles schreiben dürfen, was sie wollen! Und lesen Sie nur mal weiter, Herr Kollund, was da über den Fall Ingrid Steeg noch verzapft wird!“

Der Inspektor liest bedächtig zu Ende und legt ruhig die Zeitung weg. „Ich bekomme da ordentlich eins auf den Hut. Ist ja auch verständlich, da ich nun mal den Fall in Händen habe. Übrigens ist das hier nicht der erste zarte Wink. Ich las schon vorige Woche in der ‚Nationaltidende‘ einen ähnlichen Erguß, in dem ich als Dummkopf und unfähiger Ignorant hingestellt werde. Das hier ist wenigstens noch leidlich witzig.“

„Aber man sollte ...“

„Recht, Nörholm. Man sollte mit solchen Dingen keine Witze treiben. Das Schicksal der armen Ingrid Steeg ist wirklich zu traurig für solche Zeitungsmätzchen.“

„Nein, man sollte beim Staatsadvokaten Antrag stellen auf Beleidigungsklage gegen den verantwortlichen Journalisten! Wegen grober Beleidigung der Kriminalpolizei!“

Inspektor Kollund fährt sich mit der Hand über die Stirn und unterdrückt einen Seufzer. „Es trifft uns nicht, lieber Nörholm. Wir haben unsere Schuldigkeit getan, und mehr als das. Die weisen Herren in den Redaktionen können uns glauben, daß wir ebenso zähneknirschend erbittert sind wie sie. Monate sind vergangen, und wir haben noch immer nicht die geringste Spur entdecken können, die uns zu dem Mörder Ingrid Steegs führt! Na, was hilft’s! Wir können nichts tun, als weiter die Augen offenhalten und hoffen, daß uns eines Tages der große Kollege Zufall zu Hilfe kommt. Sonst noch was, Nörholm?“

„Für unsere Abteilung nichts. Fällt mir nur ein — der junge Herr Frydendal sitzt draußen im Flur und wartet. Weil wir gerade vom Fall Steeg sprechen.“

„Frydendal?“ Kollund wirft einen fragenden Blick auf seinen Notizblock. „Haben wir den vorgeladen?“

„Nein. Er hielt mich vor einer Stunde an, als ich Mortensen zur Vernehmung geholt hatte, und fragte nach Ihnen. Meine Frage, ob er eine Aussage in Sachen Steeg machen wolle, verneinte er und sagte nur, er möchte Sie gerne sprechen, Herr Kollund. Da Sie gerade die wichtige Vernehmung in Sachen Mortensen hatten, ersuchte ich den jungen Mann, draußen zu warten. Wollen Sie ihn jetzt sprechen, falls er noch draußen ist?“

Inspektor Kollund nickt. „Gut, Nörholm. Holen Sie ihn mal herein.“

*

Ein vierundzwanzigjähriger junger Mann sitzt vor dem Inspektor Kollund, heiße Erregung in dem offenen, sympathischen Gesicht, verhaltene Spannung in seiner ganzen Haltung. Anker Frydendal ist in den ersten Tagen nach dem Verschwinden Ingrids mehrfach und ausführlich vernommen worden. Aber das geschah stets daheim im Hause seiner Eltern. Hier auf dem Polizeipräsidium ist er heute zum erstenmal. Fräulein Bendixen, die Sekretärin, wirft unwillkürlich einen verstohlen wohlwollenden Blick auf den gut gekleideten und noch besser aussehenden jungen Mann, während sie das Protokoll aus der Maschine nimmt und ihrem Chef hinüberreicht.

„Ich lese es Ihnen also noch mal vor, Herr Frydendal“, sagt Inspektor Kollund geschäftsmäßig und überfliegt mit den Augen die sauber beschriebenen Bogen.

„Unaufgefordert erscheint

der Student Anker Kai Frydendal, geboren am 6. Mai 1911 zu Kopenhagen, wohnhaft Hellerup, Cottagevej 17, evangelisch, ledig, nicht vorbestraft

und erklärt:

Ich bin der Sohn des Professors Harald Frydendal, in dessen Haus Ingrid Steeg lebte. Ingrid Steeg und ich sind wie Geschwister zusammen aufgewachsen. Wir standen zueinander in einem herzlichen, geschwisterlichen Verhältnis. Ich kenne Ingrid genau und weiß, daß sie keinerlei Liebschaften oder Liebeleien hatte. Ihre Herrenbekanntschaften erstreckten sich auf meinen eigenen Bekanntenkreis. Es ist ausgeschlossen, daß Ingrid Steeg freiwillig am Abend des 3. Februar zusammen mit einem unbekannten Manne in die Pension der Frau Jespersen gegangen und dort ein Zimmer genommen haben soll.

Am Tage vor der Auffindung der Leiche in der Pension Jespersen war Ingrid Steeg vormittags von 8 bis. 10 Uhr mit mir zusammen im Hallenschwimmbad Helgoland. Nachmittags war sie meines Wissens bei ihrer Freundin Karen Hansen. Wo sie den Abend verbracht hat, weiß ich nicht.

Den bei der Leiche gefundenen Ring und das Merkbuch habe auch ich gesehen, als sie meinen Eltern vorgelegt wurden, und habe beide Gegenstände gleichfalls als Eigentum Ingrid Steegs erkannt.“

Kollund hält inne und reicht dem jungen Mann das Blatt. „So, Herr Frydendal, wollen Sie das bitte unterschreiben.“

Als die Unterschrift vollzogen und abgetrocknet ist, reicht der Inspektor seiner Sekretärin den Bogen. „Zu den Akten Mordsache Steeg, Fräulein Bendixen. Und sehen Sie doch gleich mal zu, ob Sie bei der Staatspolizei Herrn Elk erwischen können. Ich möchte ihn in Sachen Hanke gern sprechen.“

Während die Sekretärin das Zimmer verläßt, betrachtet Inspektor Kollund nachdenklich den jungen Mann, der sich unschlüssig erhoben und nach seiner weißen Studentenmütze gegriffen hat.

„Ja, nun sagen Sie mal, Herr Frydendal, was versprechen Sie sich denn nun von Ihrer Erklärung?“

„Ich wollte die Polizei darauf hinweisen, Herr Inspektor, daß hier unbedingt eine irrtümliche Annahme in bezug auf Ingrid vorliegen muß. Ingrid kann unter keinen Umständen freiwillig in die Pension Jespersen gekommen sein.“

Kollund wiegt den Kopf und macht eine einladende Handbewegung nach dem Stuhl. „Nehmen Sie doch noch einen Augenblick Platz, Herr Frydendal. Ihren Glauben in Ehren. Uns selber ist es sehr unglaubhaft vorgekommen, daß Fräulein Steeg sich aus freien Stücken in dieses etwas anrüchige Fremdenheim begeben haben sollte. Über den Charakter und die Lebensweise Fräulein Steegs haben unsere Ermittelungen nur Gutes ergeben. Dennoch können wir uns vor den klaren Tatsachen nicht verschließen. Soll ich Ihnen die Aussage der Zimmervermieterin vorlesen? Frau Jespersen hat im Verhör ausgesagt, daß die Dame gegen 22 Uhr abends in Begleitung eines Mannes kam, der sich in das Fremdenbuch der Frau Jespersen als ‚Christian Larsen und Frau‘ eintrug. Die beiden haben dann das ihnen von Frau Jespersen angewiesene Zimmer Nr. 9 bezogen, das Zimmer, in dem Ingrid Steeg am nächsten Morgen ermordet aufgefunden wurde. Frau Jespersen bezeugt ferner, daß sie mindestens zehn Minuten mit den beiden Gästen gesprochen und sie auch persönlich in das Zimmer geführt hat. Wenn der Mann — wie Sie anzunehmen scheinen — irgendeinen Zwang auf Fräulein Steeg ausgeübt hätte, so müßte doch wohl die Vermieterin etwas davon gemerkt haben. Auch hätte Fräulein Steeg Gelegenheit genug gehabt, sich zu wehren oder um Hilfe zu bitten. Frau Jespersen erklärt aber ausdrücklich, daß die Dame sich ruhig und freundschaftlich mit ihrem Begleiter unterhielt.“

„Ich weiß, Herr Inspektor, und eben das will mir nicht in den Kopf. Kann diese Frau Jespersen nicht die Unwahrheit gesagt haben?“

„Den Einwand habe ich erwartet“, nickt Kollund. „Ich gebe gern zu, daß die Zeugin Jespersen nicht unbedingt glaubwürdig ist. Aber daß sie sich der Gefahr aussetzen sollte, durch lügenhafte Angaben in eine Mordsache verwickelt zu werden, das glaube ich nicht. Wir haben nichts unversucht gelassen und auch in bezug auf Frau Jespersen umfangreiche Ermittelungen angestellt. Es hat sich nichts ergeben, das auf eine Mittäterschaft oder Mitwisserschaft der Frau hindeuten könnte. Sie hat auch keinen Vorteil durch das Verschweigen von Tatsachen zu gewärtigen. Außerdem aber sind wir nicht auf ihr Zeugnis allein angewiesen. Das Hausmädchen Gerda Nielsen und der Logiergast Kaufmann Madsen haben beide ebenfalls das Paar gesehen. Letzterer kam gerade nach Hause, als Frau Jespersen im Flur mit ihnen sprach, und das Hausmädchen hat im Zimmer Nr. 9 in Gegenwart der beiden Gäste frische Handtücher ausgelegt. Beide Zeugen bestätigen, daß die Dame und der angebliche Christian Larsen in bestem Einvernehmen waren. Auch nachher, im Laufe der Nacht, haben die nebenan wohnenden Gäste nichts gehört, das auf einen Streit auf Zimmer Nr. 9 schließen ließ.“

Inspektor Kollund macht eine Pause und schüttelt dann ein wenig den Kopf. „Sie sehen also, Herr Frydendal, wir müssen schon davon ausgehen, daß Fräulein Steeg tatsächlich aus freien Stücken mit dem Unbekannten das Fremdenheim aufgesucht hat. Selbstverständlich kann es sich nur um jemand handeln, zu dem Fräulein Steeg seit längerer Zeit in einem — hm — sehr nahen Verhältnis stand. Und das ist der Punkt, an dem alle unsere Ermittelungen bisher versagt haben. Einen Christian Larsen gibt es im Bekanntenkreis Fräulein Steegs nicht. Nun, das will wenig besagen. Der Name ist natürlich fingiert. Pärchen, die sich abends in so einem Fremdenheim einlogieren, pflegen gern einen falschen Namen anzugeben. Aber auch sonst ... Ist Ihnen das Signalement des angeblichen Larsen bekannt, Herr Frydendal?“

„Ich kann es auswendig. Es hat ja an allen Litfaßsäulen gestanden. Ingrid kennt keinen Mann, der so aussieht!“

„Sie können uns da also auch keinen Fingerzeig geben?“

„Nein. Leider. Aber kann der Mörder nicht doch einen Zwang auf Ingrid ausgeübt haben? Hypnose? Suggestion?“

Kollund lächelt mitleidig. „Wir wollen uns nicht in Phantasien verlieren, Herr Frydendal. Wir wollen auch nicht vergessen, daß die Freundin Fräulein Steegs, die eben von Ihnen selbst erwähnte Karen Hansen, erklärt hat: Ich habe mich um 20 Uhr von Ingrid verabschiedet und sie bis zur Ecke Vodroffsvej-Vesterbro begleitet. Ingrid sagte, sie müsse heute abend noch jemand treffen, und tat sehr geheimnisvoll. Als ich sie neckte, dieser Jemand sei gewiß ein Herr, lächelte sie, wollte aber nichts weiter sagen. — Das sieht doch danach aus. daß Fräulein Steeg an jenem Abend tatsächlich eine Verabredung hatte, zu der sie höchst freiwillig ging. Oder halten Sie die Zeugin Hansen auch für unglaubwürdig?“

„Nein, sicher nicht. Fräulein Hansen ist ein ehrliches junges Mädchen.“

„Ja, dann weiß ich wirklich nicht, was Sie eigentlich zu mir geführt hat und warum Sie so sehr darauf bestanden, daß Ihre Aussage zu Protokoll genommen wurde.“

Das junge Gesicht Anker Frydendals sieht zerquält aus.

„Weil ich weiß, daß in diesem Falle von einer falschen Voraussetzung ausgegangen wird. Vielleicht erklärt sich dadurch die traurige Tatsache, daß man noch immer keine Spur des Mörders hat. Ich weiß genau, daß Ingrid nie und nimmer aus freien Stücken einem Mann in dieses Haus gefolgt ist!“

„Aber Sie können es leider nicht beweisen, Herr Frydendal. Wir hingegen haben klare Beweise dafür, daß es sich doch wohl so verhalten haben muß.“

„Herr Inspektor!“ Anker Frydendal ist hochgefahren und sieht den Beamten zornig an. „Ich dulde das nicht! Ich dulde nicht, daß man Ingrids Andenken schmäht! Ihr vorwirft, sie solle wie eine Straßendirne bei Nacht und Nebel mit einem fremden Manne ...“

„Nun mal ruhig, junger Freund“, unterbricht ihn Kollund begütigend. „Niemand denkt daran, den Ruf Fräulein Steegs anzutasten. Ich persönlich, das dürfen Sie mir glauben, habe inniges Mitgefühl mit der so unselig ums Leben Gekommenen.“

„Aber durch alle Zeitungen ist Ingrids Name geschleift worden! Überall berichtet man, das — dasselbe, was Sie sagen!“

„Traurig, aber nicht zu vermeiden, Herr Frydendal. Bedenken Sie, in einem Kopenhagener Fremdenheim wird ein junges Mädchen ermordet aufgefunden! Können Sie es der Öffentlichkeit verdenken, daß sie von diesem bei uns gottlob so seltenen Verbrechen alarmiert wird? Vielleicht hätte man Einzelheiten unterdrücken können, wenn es gelungen wäre, den Täter sofort zu fassen. Das war ja nun leider nicht der Fall, und auch Sie, Herr Frydendal, können uns also da nicht helfen. Übrigens — Sie standen zu Fräulein Steeg in einem besonders herzlichen Verhältnis? Sie haben sie — lieb gehabt?“

„Nein!“

Das klingt so schroff und bitter, daß Inspektor Kollund stutzt und bei sich beschließt, auf diesen Punkt vorläufig nicht weiter einzugehen.

„Und was sagen nun Ihre Eltern dazu?“ lenkt er rasch ab.

Anker Frydendals Mund verzieht sich schmerzlich. „Meine Eltern sagen das gleiche wie Sie, Herr Inspektor. Sie wissen nicht, daß ich hierhergegangen bin, um noch einmal mit Ihnen zu sprechen. Aber, mag die ganze Welt sagen, was sie will! Es ist nicht wahr! Ich, jawohl ich, Herr Inspektor, kannte Ingrid Steeg besser als sonst jemand! Sie war ein liebes, an Geist und Körper gesundes Mädel, ehrlich, offen und — rein.“

Leise, fast scheu kommt das letzte Wort. Inspektor Kollung empfindet etwas wie Rührung, als er in das heiße, erregte Gesicht des jungen Mannes sieht. Ach ja, das Leben schreibt grausame Tragödien, spielt oft genug höhnisch mit unseren heiligsten Gefühlen.

„Es ist nicht wahr!“ wiederholt Anker, den Kopf jäh in den Nacken werfend. „Ingrid hätte so etwas nie getan! Warum haben Sie den Mörder nicht finden können, Herr Inspektor? Warum hat die Polizei nach so langer Zeit noch nicht die leiseste Spur? Weil ihr alle von vornherein auf dem Holzwege gewesen seid! Weil der Schurke Ingrid durch irgendeinen teuflischen Betrug oder eine unbekannte Macht in das Mordhaus gelockt hat. Davon müssen Sie ausgehen! Dann finden Sie vielleicht den Schlüssel!“

Anker Frydendals Stimme bricht. Nur noch eine aufgebende, müde Handbewegung macht er. Die Tür geht. Die Sekretärin Bendixen kommt mit der Nachricht, Oberwachtmeister Elk werde in einer halben Stunde herüberkommen. Sie wirft einen neugierigen Blick nach dem offenbar sehr erregten jungen Mann und setzt sich in die andere Fensterecke an ihre Schreibmaschine.

Inspektor Kollund hat eben überlegt, daß es zwecklos sei, diese Unterredung fortzusetzen. Nur ein paar gute, aufmunternde Worte will er noch dem jungen Menschen da sagen. Da surrt der Fernsprecher auf Fräulein Bendixens Tisch.

„Herr Professor Frydendal möchte Sie sprechen, Herr Inspektor“, verkündet die Sekretärin und spricht, als Kollund nach seinem eigenen Apparat greift, wieder in die Muschel. „Einen Augenblick, Herr Professor. Ich verbinde.“

„Kollund.“ Der Inspektor hat seinen Hörer abgenommen. „Guten Tag, Herr Professor. Sie wollen wohl wissen, ob Ihr Sohn ...? Er ist noch hier bei mir und — Wie!?“

Kollunds Züge haben den Ausdruck höchster Spannung angenommen. Seine Augen, die über den Apparat hinweggehen, drücken grenzenloses Erstaunen aus, was bei ihm als altem Polizeibeamten selten genug vorkommt.

„Bitte noch einmal, Herr Professor! Ganz langsam und deutlich!“ Kollunds Hand greift seitwärts nach einem Bleistift, beginnt während des Abhörens eifrig zu schreiben. „Poststempel Neuyork? Und Sie sagen, die Schrift? Gut. Ich danke, Herr Professor ... Nein, etwas Bestimmtes kann man da noch nicht sagen. Es wäre mir lieb ... Jawohl, kommen Sie gleich her. Den Brief natürlich mitbringen! Gut, sehr gut. Ich erwarte Sie also in einer Stunde.“

„Das ist — allerhand!“ macht Kollund seinem Erstaunen Luft, als er den Hörer hingelegt hat. Seine Augen gehen in einer Pause scharfen Nachdenkens durch das Zimmer und bleiben an dem jungen Mann haften, der sich vorgebeugt und gespannt den ihm unverständlichen Bruchstücken des Ferngesprächs gelauscht hat. „Das ist wirklich ... Ja, Herr Frydendal, wenn Sie noch ein Stündchen hierbleiben wollen, können Sie gleich mit Ihrem Vater heimgehen.“

„Mein Vater will hierherkommen?“

„Ja.“ Kollund sieht wieder eine Minute wie geistesabwesend vor sich hin. „Da ist nämlich — Ihre Eltern haben vor einer knappen Stunde mit der Mittagspost einen Brief bekommen. Hm, ja — einen Brief, der angeblich von — Ingrid Steeg herrührt.“

„Ich — ich verstehe nicht! Einen — alten Brief Ingrids?“

„Nein, eben nicht. Der Brief ist erst vor acht Tagen in Neuyork aufgegeben worden und trägt auch dieses Datum. Jemand hat da an Ihre Eltern geschrieben.“ Kollund schaut nachdenklich auf die gemachten Notizen und liest mechanisch ab — „Ich ersehe eben aus einer Zeitung, daß Ihr mich für tot haltet. Zu Eurer Beruhigung kann ich Euch mitteilen, daß dies nicht der Fall ist. Ich lebe und bin gesund. Also beunruhigt Euch nicht und forscht bitte nicht weiter nach mir. Ich werde Euch bald wieder schreiben. — Unterzeichnet ist der Brief mit: Eure Ingrid.”

Anker Frydendal stößt einen leisen, heiseren Laut des Schreckens aus. „Das ist doch — unmöglich! Das ist ein — ein häßlicher Scherz!“

„Hm, ja. Ihre Eltern behaupten, dieser Brief trage unverkennbar die Schrift Ingrid Steegs.“

Weit offen stehen Anker Frydendals Augen. Ein kurzer, unartikulierter Laut preßt sich aus seiner Kehle, wird zu einem erlösten Schrei:

„Ingrid — lebt!!!“

„Ruhe! Ruhe, junger Freund!“ Kollund greift schnell zu, denn der Kopf Ankers ist vornübergesunken, droht mit seiner Schwere den ganzen Körper aus dem Stuhl zu reißen und zu Boden zu werfen. „Fassung! Wir wissen ja noch nicht — Fräulein Bendixen, ein Glas Wasser! — Hier, trinken Sie mal, Herr Frydendal!“

Gehorsam nippen Ankers zitternde Lippen an dem Glas, gehorsam reißt er sich zusammen und blickt den Inspektor an. Aber seine Augen sind noch verständnislos, meilenweit entfernt.

„Wir haben sie doch begraben“, stöhnt er vor sich hin. „Ingrid — sie schläft doch draußen auf dem Vesterkirchhof. Wir haben ihre Kleider erkannt — ihren Ring — ihr kleines, blaues Merkbuch — tot ist sie — tot — und nun soll ein Brief gekommen sein — eine Botschaft — aus dem Jenseits —?“

„Lassen Sie uns mal in Ruhe darüber sprechen“, sagt Inspektor Kollund und fühlt, daß er selber diese Aussprache nötig hat, um seine Gedanken zu ordnen. „Die Post aus dem Jenseits kommt nicht in Kopenhagen an. Der Brief kam aus Neuyork. Ob er wirklich von Ingrid Steeg herrührt, muß sich erst herausstellen. Ich fürchte, es steckt eine dumme, häßliche Mystifikation dahinter, obwohl ich mir nicht denken kann, weshalb jemand —“

„Aber Sie sagten doch eben, meine Eltern hätten gesagt —“, stammelt Anker verwirrt. „Vater und Mutter kennen doch Ingrids Schrift genau!“

„Ihre Eltern nehmen an, daß es wirklich Ingrid Steegs Schrift ist, und sind natürlich in schwerster Erregung. Eine Ähnlichkeit muß die Schrift also jedenfalls aufweisen. Aber jedermann kann sich täuschen. Wir müssen die Schrift erst haargenau untersuchen, bevor wir ein Urteil fällen können.“

„Ingrid lebt!“ Anker klammert sich wie ein Ertrinkender an die beiden Worte. „Dann wäre also — Sagen Sie mir doch, Herr Inspektor, wer um Gottes willen ist dann die andere? Die wir begraben haben? Kann denn ein Irrtum —?“

Kollund starrt sinnend auf seine Bleistiftnotizen. „Hm, ja. Die Leiche der Ermordeten war durch Vitriol bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Die Identifizierung gelang nur durch Kleider, Ring und Merkbuch. Allerdings stimmten auch Größe und Gestalt. Ihre Eltern, Herr Frydendal, und auch Ihr Hausarzt Dr. Monsen erklärten die Leiche für die sterblichen Überreste Ingrid Steegs. Dazu kommt das Zeugnis der Frau Jespersen, die in dem Lichtbild Ingrid Steegs die Dame erkannte, die als Frau Larsen bei ihr wohnte. Scheint also kaum möglich, daß — aber immerhin, irren ist menschlich.“

„Man hat also —“, sagt Anker atemlos, „man hat also eine — eine andere ermordet und als Ingrid ausstaffiert!“

„Eine Möglichkeit“, sagt Kollund bedächtig, „aber nicht sehr wahrscheinlich. Wie käme der Mörder dann an Kleider und Wertsachen Fräulein Steegs? Vor allem aber: Herr Frydendal, können Sie sich einen Grund denken, warum Ingrid Steeg heimlich nach Amerika gegangen sein und sich bis jetzt verborgen haben sollte?“

„Nein, weiß der Himmel, das kann ich nicht!“

„Hat sie jemals von Amerika gesprochen? Mit jemand drüben Briefe gewechselt? Eine Vorliebe für dortige Verhältnisse gehabt?“

Anker schüttelt verzweifelt den Kopf. „Nein, nichts von alledem, Herr Inspektor. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum Ingrid nach Neuyork gereist sein sollte! Noch dazu in solcher Heimlichkeit. Wenn sie unbedingt eine Reise machen wollte, hätte sie es uns doch sagen können!“

„Sehen Sie“, atmet Kollund auf, „das ist der Haken. Und darum glaube ich nicht daran, daß dieser geheimnisvolle Brief von Ingrid Steeg stammt.“

„Sie meinen, daß Ingrid nicht —?“

„Ich meine nach wie vor, mein junger Freund, daß Ingrid Steeg in ihrem Grabe der ewigen Ruhe entgegenschläft. Aber vielleicht kann uns dieser merkwürdige Brief auf irgendeine Spur des Mörders bringen. Nun, wir wollen abwarten, bis wir das Objekt hier haben und unter die Lupe nehmen können. Fräulein Bendixen, verbinden Sie mich mal gleich mit dem Erkennungsdienst und dann mit dem Graphologen Doktor Sjömod. Rufen Sie auch mal Nörholm an. Er wird im Sekretariat sein. Soll mir gleich die Akten Steeg herbringen. Was Sie anbelangt, Herr Frydendal, - fühlen Sie sich wieder gekräftigt?“

„Ja, danke. Ich war nur vorhin — es nahm mich sehr mit. Aber jetzt fühle ich mich ganz wohl.“

„Dann haben Sie die Freundlichkeit, draußen auf dem Flur noch etwas zu warten, bis Ihr Vater kommt. Ich muß jetzt noch einiges —“

Mit einer kleinen Verbeugung, noch immer völlig wirr im Kopf, verabschiedet sich Anker Frydendal. Die Sekretärin spricht bereits im Fernsprecher mit dem Erkennungsdienst.

Unaufgefordert erscheint

Подняться наверх