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Inspektor Kollund ruft von seinem Büro aus seine Frau an.

„Hallo, Dagmar? Tut mir leid, aber heute komme ich wieder mal nicht zum Mittagtisch nach Hause. Nein, unmöglich. Ich muß schon hierbleiben. Auch heute abend wird’s wahrscheinlich spät werden. Ja, schade, sehr schade um die Frikadellen. Weißt du was, heb mir ein paar davon auf. Ich eß sie kalt, wenn ich heut abend heimkomme. Geht wirklich nicht anders, mein Lieb. Wie, bitte? Nein, nein, ich bleibe hier im Büro und laß mir aus der Kantine etwas zu essen holen. Was los ist? Du weißt doch, so was kann ich dir am Fernsprecher nicht erzählen. Du meinst ...? Ja, hast richtig geraten. Der Fall ist es. Auf Wiedersehen also.“

Mittagspause. Fräulein Bendixen, die Sekretärin, ist zum Mittagessen gegangen. Assistent Nörholm ist unterwegs. Die meisten Beamten vom Innendienst sind in der Kantine oder auf einen Sprung nach Hause. Nur der wachthabende Kriminalbeamte sitzt im Vorzimmer und teilt seine Aufmerksamkeit zwischen einem vor ihm liegenden Bericht und einer halben Flasche Carlsberger.

Inspektor Kollund rückt sich in seinem Stuhl zurecht und greift nach dem Aktenband, den Nörholm vor seinem Weggang auf den Schreibtisch gelegt hat. Mordsache Steeg. Bericht der Mordkommission. Fotos vom Tatort. Gutachten der Ärzte und Sachverständigen. Ermittlungsberichte. Vernehmungsprotokolle. Meldungen. Dienstliche Anordnungen. Der Steckbrief gegen Christian Larsen. Sorgfältig registrierte Fingerabdrücke, mit Anmerkungen des Erkennungsdienstes versehen. Alles ist gut und reichlich geordnet. Nichts fehlt, — nichts, als die Spur des Mörders.

Es ist ja leider nicht das erstemal, daß die Polizei vor einem Rätsel steht, aber noch nie hat Kollund die Unzulänglichkeit des menschlichen Hirns und aller menschlichen Maßnahmen so bitter empfunden wie in diesem Fall. Denn noch nie hat ein Fall die Gemüter so aufgeregt wie der Mord an Ingrid Steeg. Dänemark ist ein kleines Land. Kopenhagen, obwohl Großstadt, besitzt zum Glück keine Gangsterbanden oder ähnliche Errungenschaften der Zivilisation. Die „Kunden“ der Polizei sind allesamt bekannt, und meistens weiß man ziemlich genau, wo sie sich gerade befinden. Es sind nur wenige darunter, denen man überhaupt einen Mord zutrauen könnte, und schwere Jungens aus dem Ausland verlaufen sich selten hierher. Kopenhagen ist kein London oder Neuyork, in dem man unauffindbar untertauchen kann, und die Grenzen sind leicht zu überwachen.

Solange Kollund im Amt ist, hat sich in „des Königs Kopenhagen“ kein Fall ereignet, in dem einer der einheimischen Verbrechergilde einen Mord begangen hätte. Wohl kommen von Zeit zu Zeit solche Kapitalverbrechen vor. Aber dann handelt es sich stets um Tragödien, die sich außerhalb der bekannten beruflichen Verbrecherwelt abgespielt haben. Mord aus persönlichem Haß, Versicherungsmord, Mord aus Eifersucht, Lustmord, Verbrechen, bei denen sich die Fahndung sofort auf einen kleinen Personenkreis beschränken kann, Fälle, die durch die Ergreifung des Täters rasch und restlos aufgeklärt werden.

Keiner dieser früheren Fälle hat jedoch ein solches Aufsehen erregt wie die Ermordung Ingrid Steegs. Ein zwanzigjähriges junges Mädchen, Pflegetochter eines bekannten und angesehenen Kopenhagener Gelehrten, auf bestialische Weise in einem übel beleumundeten Fremdenheim ermordet! Kein Wunder, daß ein Schrei der Entrüstung durch Kopenhagen ging. Kollund denkt seufzend an die ersten acht Tage nach dem Mord, als Hunderte und aber Hunderte von Meldungen auf die Polizeidirektion niederregneten. Anzeigen, Hinweise, Beobachtungen, Denunziationen, vertrauliche Mitteilungen. Er hat damals drei Leute von Jörgensens Abteilung sich ausborgen müssen, um die Flut der einlaufenden Mitteilungen bewältigen, die sich zu Dutzenden meldenden Zeugen vernehmen zu können. Mitarbeit des Publikums? Sehr schön, aber in diesem Falle hat sie leider auch nicht den geringsten Erfolg gebracht.

Dabei sah der Fall zunächst kriminalistisch so klar und einfach aus. Ein Pärchen hatte sich abends in dem Fremdenheim eingemietet, natürlich als „Ehepaar“. Am nächsten Morgen war der Mann verschwunden, das Mädchen ermordet. Vielleicht Lustmord, vielleicht auch Eifersuchtstragödie oder einfacher Raubmord. Das Motiv würde sich schon herausstellen. Über den Täter war man sich ja im klaren. Das Signalement des verschwundenen „Ehegatten“ stand fest, sogar ein verhältnismäßig sehr gutes Signalement. Wenn auch der Name natürlich falsch war, man würde den Burschen schon bald kriegen.

Erste Enttäuschung, als die Ermordete als die Pflegetochter des Professors Frydendal identifiziert wurde. Erste bedenkliche Frage: Wie kam diese junge Dame in das üble Fremdenheim? Inspektor Kollund hat damals dieser Frage nicht den gleichen entscheidenden Wert beigelegt wie der junge Anker Frydendal es tut. Er hat schon zu viel Merkwürdiges erlebt. Auch die Feststellung, daß der angebliche Christian Larsen ein älterer Herr und durchaus kein Adonis gewesen sei, hat ihn nicht sonderlich erschüttert. Er hatte sich als nüchterner Kriminalist an die Tatsachen gehalten. Ingrid Steeg war im besten Einvernehmen mit dem angeblichen Larsen in das Fremdenheim gekommen, ohne zu ahnen, was ihr bevorstand.

Von da ab jedoch waren alle Spuren hoffnungslos im Sande verlaufen. Christian Larsen? Es gibt eine Menge Leute dieses Namens in Dänemark. Da, bei den Akten, liegt die Liste aller Christian Larsens. Trotz ihrer Überzeugung, daß dieser Name nur fingiert sei, hat die Polizei gewissenhaft Ermittlungen eingezogen über alle Leute dieses Namens. Keiner davon kommt in Frage. Was noch schlimmer ist: Nirgends hat man in den Kreisen der vielen Christian Larsens einen Anhaltspunkt finden können, der mit dem wirklichen Mörder oder mit Ingrid Steeg in Beziehung gebracht werden könnte.

Der Verdacht gegen Frau Jespersen, die Pensionsinhaberin, hat sich auch nicht aufrechterhalten lassen. Ebensowenig ein paar andere Verdachtsmomente, die im Laufe der Ermittlungen auftauchten.

So sind die Monate vergangen. Rastlose Arbeit, aber nicht der geringste Erfolg. Die Überreste Ingrid Steegs sind längst zur letzten Ruhe bestattet worden. Die Stimmung der öffentlichen Meinung aber ist mit jeder Woche gereizter geworden gegen eine Polizei, die unfähig war, ein solch scheußliches Verbrechen aufzuklären und zu sühnen.

Die Monate sind vergangen und haben neue Arbeit gebracht. Natürlich lief die Fahndung im Falle Steeg automatisch weiter. Zwei der besten Beamten der Kopenhagener Kripo waren ausschließlich auf diese Spur gesetzt worden. Kollund selber hatte immer wieder neue Ermittlungen und Vernehmungen durchgeführt. Aber der Tag verlangte sein Recht. Neue Fälle waren zu bearbeiten. Das tägliche Arbeitspensum mußte erledigt werden. Als auch die letzte Hoffnung versandete, die Möglichkeit, durch die ausländischen Polizeizentralen, denen das Signalement Christian Larsens übermittelt worden war, auf eine Spur gebracht zu werden, hatte Inspektor Kollund ganz im geheimen das Hoffen aufgegeben und dafür die trübe Überzeugung gewonnen, daß der Fall Steeg fortan nur in der Liste der „unaufgeklärten Fälle“ sein Leben weiterführen werde.

Und nun soll die Ermordete gar nicht Ingrid Steeg gewesen sein?

Kollund blättert in dem Aktenband. Noch einmal den ganzen Fall durcharbeiten! Sich jede Einzelheit ins Gedächtnis rufen. Das ist jetzt das Wichtigste.

Die Durchsicht der einzelnen Meldungen und Berichte kann er sich sparen. Wo ist denn ...? Vernehmungsbericht Jespersen. Vernehmung des Kaufmanns Jörgen Madsen, Aussage des Professors Frydendal — aha, hier haben wir’s ja! Zusammenfassender Bericht für die Staatsanwaltschaft. Kollund biegt den Aktendeckel um, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und vertieft sich in diesen Bericht.

*

„Am 4. Februar morgens 9 Uhr wurde im Fremdenheim der Frau Jespersen, Jakobsgade 35, durch die dort in Stellung befindliche Hausangestellte Gerda Nielsen, im Zimmer Nr. 9 eine bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leiche gefunden.

Die Mordkommission stellte fest, daß es sich um die Leiche einer jungen Frau oder eines jungen Mädchens handelte. Sie war nicht verbrannt, sondern durch Vitriol entstellt. Gesicht, Haar, Hände und Hautgewebe waren völlig unkenntlich. Blutspuren auf dem Bett und an den Wänden deuteten darauf hin, daß außer der ätzenden Säure noch eine andere Waffe angewendet worden war. Eine Wunde war zunächst infolge der Zerstörung der Hautgewebe nicht zu erkennen. Bei der Obduktion stellte jedoch der Polizeiarzt fest, daß der Hals der Toten von einem scharfen Instrument, wahrscheinlich einem Messer, durchbohrt worden war. Nach dem Gutachten der Ärzte ist der Tod durch diese Stichwunde verursacht, die Leiche erst später durch Übergießung von Vitriol unkenntlich gemacht worden.

In einer im Mordzimmer gefundenen Damenhandtasche wurde ein in blaues Leder gebundenes kleines Merkbuch gefunden, in dem unter anderem die Verabredung mit einer gewissen Karen Hansen notiert war. Die noch am gleichen Tage ermittelte Kindergärtnerin Karen Hansen, Vodroffsvej 71, erkannte in dem Merkbuch das Eigentum ihrer Schulfreundin Ingrid Steeg, Pflegetochter des Professors Frydendal in Hellerup. Professor Frydendal, dessen Frau und die Hausangestellte Jensine Kramm erkannten sowohl in dem gefundenen Ring wie in den Kleidungsstücken der Toten das Eigentum Ingrid Steegs. Durch Messungen, die der hinzugezogene Hausarzt der Familie Frydendal, Dr. Monsen, vornahm, wurde die Übereinstimmung der Leiche mit den Größenverhältnissen der Ingrid Steeg festgestellt. Ein Zweifel an der Identität erschien um so weniger möglich, als sowohl Frau Jespersen wie die Hausangestellte Gerda Nielsen ohne Zögern in dem vorgelegten Bild der Ingrid Steeg die Dame wiedererkannten, die das Zimmer Nr. 9 in der letzten Nacht bewohnt hatte.

Nach diesen Feststellungen wurde die Leiche polizeilicherseits zur Bestattung freigegeben.

Über den mutmaßlichen Täter sagte Frau Jespersen aus:

‚Am Abend gegen 22 Uhr klingelte an meiner Tür ein Herr, der fragte, ob ich ein Doppelzimmer frei habe. In seiner Begleitung befand sich eine junge Dame. Ich führte die Herrschaften in die Diele und legte ihnen pflichtgemäß das Fremdenbuch vor. Der Herr, den die Dame mehrfach ‚Christian‘ nannte, trug eine Binde um den rechten Handballen. Er sagte mir, er habe sich beim Schließen der Autotür geklemmt und bat mich, der Einfachheit halber selber seine Personalien einzutragen. Dies tat ich auch. Nach seinem Diktat schrieb ich in das Fremdenbuch: Christian Larsen, geboren 12. 10. 1883 zu Vordingborg, Kaufmann, wohnhaft Vordingborg. Wie gebräuchlich wurden die Personalien seiner Frau nicht aufgeschrieben, sondern nur der Vermerk ‚mit Ehefrau‘ gemacht.

Während dieser Zeit unterhielten sich die beiden Gäste leise und anscheinend sehr lustig miteinander, denn die Dame lachte mehrmals. Ich führte die Herrschaften dann zu dem freien Zimmer Nr. 9 und wünschte ihnen gute Ruhe. Herr Larsen sagte mir noch, er wolle am nächsten Morgen nicht geweckt werden. Er bezahlte auch im voraus den geforderten Zimmerpreis für die Nacht. Das Geld, einen Fünfkronenschein, entnahm er einer dunkelbraunen, sehr großen Brieftasche.

Wenige Minuten später schickte ich meine Hausangestellte in das Zimmer Nr. 9, um frische Handtücher auf den Ständer neben dem Waschtisch zu hängen. Sie hat das Ehepaar Larsen in ruhigem Gespräch angetroffen, im Begriff, sich für die Nachtruhe fertig zu machen. Gepäck führten die Gäste nicht mit sich.

Ich hatte keinen Grund, an der Richtigkeit der angegebenen Personalien zu zweifeln.

Herr Larsen mochte etwa 50 Jahre alt sein. Er hatte graumeliertes, kurzgeschnittenes Haar, bartloses Gesicht, einen sehr dünnen Mund, dessen Winkel in zwei scharfen Falten endigten und ihn so unverhältnismäßig breit erscheinen ließen, graue Augen und starkknochige Hände, auf denen die Adern sehr hervortraten. Bekleidet war er, soviel ich sehen konnte, mit einem schwarzen Mantel, einem zweireihigen dunkelgrauen Anzug, braunen Schuhen mit Gummisohlen, weichem, dunklem Filzhut und hellbraunem, weißgetupftem Selbstbinder.

Seine Frau war etwas größer als er und sehr schlank. Sie muß mindestens zwanzig Jahre jünger gewesen sein als ihr Mann, hatte blondes, welliges Haar, lebhafte, braune Augen und war weder geschminkt noch gepudert. Ihre Bekleidung bestand aus einem dunkelblauen Jackenkleid, weißem kurzem Sportpelz, einer sportlichen weißen Mütze und grauen Handschuhen. An die Farbe der Schuhe kann ich mich nicht erinnern.

Ob Herr und Frau Larsen Trauringe trugen, habe ich nicht bemerkt.‘

Die Aussage der Frau Jespersen wurde zunächst mit Vorbehalt aufgenommen, da die Jespersen der Polizei bekannt ist und bereits mehrfach im Verdacht der Kuppelei gestanden hat. Ihr Fremdenheim gilt allgemein als eine Art Absteigequartier und wird meist von Liebespärchen besucht.

Da der Verdacht einer Mitwisserschaft oder Begünstigung vorlag, wurde Frau Jespersen zunächst in Haft behalten.

Weitere Ermittlungen ergaben indes, daß auch die Aussagen der unbescholtenen Hausangestellten Gerda Nielsen sowie eines zufälligen Logiergastes, des unbescholtenen Kaufmanns Madsen, mit der Darstellung der Jespersen übereinstimmten. Gleichfalls wurde festgestellt, daß die Jespersen die ganze Nacht über im gleichen Zimmer wie ihre Hausangestellte geschlafen und dieses Zimmer nicht verlassen hatte.

Daraufhin wurde die Entlassung der Frau Jespersen verfügt.

Die Zeugin Karen Hansen erkannte in den Kleidern der Ermordeten die gleichen Kleidungsstücke, die ihre Freundin Ingrid Steeg am Mordtage getragen hatte. Auch die Handtasche gehörte unzweifelhaft der Ingrid Steeg.

Die Zeugin Hansen sagte ferner aus:

‚Ingrid Steeg, mit der ich seit Jahren befreundet bin, kam um 18 Uhr zu mir in meine Wohnung. Etwas Besonderes konnte ich ihr nicht anmerken. Sie war freundlich und gelassen wie immer. Wir aßen zusammen Abendbrot und sprachen über meinen Kindergarten und über Sport. Ingrid erzählte mir, sie sei am Vormittag wieder im Schwimmbad Helgoland gewesen und habe heute im Kraulen Rekord geschwommen. Ich wollte sie bereden, noch länger zu bleiben, aber um 20 Uhr erklärte Ingrid, sie müsse nun eilig fort, denn sie habe noch eine wichtige Verabredung. Ich begleitete sie bis zur Ecke Vesterbro und suchte sie noch einmal umzustimmen, da ich gern noch eine Stunde mit ihr geplaudert hätte. Als Ingrid wieder auf ihre Verabredung hinwies, neckte ich sie damit, daß sie gewiß von einem Herrn erwartet werde. Dazu lächelte sie, ließ sich jedoch nicht weiter darüber aus.‘

Weitere Ermittlungen haben ergeben:

1 Über die Person der Ermordeten läßt sich feststellen, daß es sich um ein unbescholtenes junges Mädchen handelt, das allerseits den besten Ruf genoß. Ingrid Steeg betätigte sich sportlich, besonders im Schwimmen und Turnen. Sie hat vor zwei Jahren zusammen mit ihrem Pflegebruder Anker Frydendal einen Gymnastikkursus in Niels Buckhs Hochschule zu Ollerup absolviert. Im Hause ihrer Pflegeeltern versah sie die Pflichten einer Haustochter und führte gewissermaßen die Oberaufsicht über die Küche. Sie hat ihr Präliminarexamen gemacht und zeigte besonderes Interesse für Gartenbau und Botanik. Liebschaften Ingrid Steegs sind nicht bekannt. Ihr Verkehr bestand aus einigen etwa gleichaltrigen Schulfreundinnen, ihren Sportkameraden, einigen Schulfreunden ihres Pflegebruders sowie den im Hause Frydendal verkehrenden Bekannten, letztere meist ältere Herren und Damen. Aus diesem Bekanntenkreis kommt, wie die Ermittlungen ergeben haben, niemand als Täter in Frage. Weder die Pflegeeltern noch sonstige Freunde haben etwas von einer geheimen Bekanntschaft oder einem Liebesverhältnis Ingrid Steegs wahrgenommen.

2 Über den angeblichen Christian Larsen hat sich bisher nichts ermitteln lassen. Die im Fremdenheim Jespersen angegebenen Personalien treffen zu auf den in Vordingborg ansässigen Fischer Christian Larsen. Es wurde sofort einwandfrei festgestellt, daß der genannte Fischer Larsen nicht mit dem Begleiter der Steeg identisch sein kann. Fischer Larsen, dessen Signalement in keiner Weise dem des mutmaßlichen Täters entspricht, hat seinen Wohnsitz in Vordingborg um die fragliche Zeit nicht verlassen. Am kritischen Tage und in der darauffolgenden Nacht befand er sich in seinem Heim in Vordingborg im Kreise seiner Familie und zweier Berufskameraden, die bei ihm in Kost und Logis wohnen. Er kennt weder die Familie Frydendal noch Ingrid Steeg. Auch vermag er nicht anzugeben, wie der mutmaßliche Täter zu seinen Personalien gekommen ist, da er niemand kennt, der dem Signalement entsprechen könnte. Fischer Larsen ist im Juni 1933 zum letztenmal in Kopenhagen gewesen. Bei Frau Jespersen hat er nie gewohnt.

Die umfangreiche Fahndung nach ‚Christian Larsen‘ hat bisher zu keinem Ergebnis geführt.

Die im Mordzimmer gefundenen Fingerabdrücke rühren sämtlich von früheren Gästen her.

Die Einvernahme der Pflegeeltern der Ermordeten hat folgendes zutage gebracht:

Ingrid Steeg ist die uneheliche Tochter der verstorbenen amerikanischen Bürgerin dänischer Abstammung Eline Steeg. Die Mutter war seit vielen Jahren Haushälterin des Mr. F. O. Andrige in Neuyork, dessen Tochter May im Jahre 1910 den Professor Frydendal heiratete und nach Kopenhagen übersiedelte.

Als F. O. Andrige im Jahre 1921 starb, nahm Frau Frydendal, geborene May Andrige, im Einverständnis mit ihrem Mann die kleine Ingrid Steeg in ihr Heim auf. Das Ehepaar Frydendal reiste damals selbst nach Neuyork, um den Nachlaß des Schwiegervaters zu regeln und das Kind abzuholen.

Dabei stellte sich heraus, daß das Vermögen F. O. Andriges bedeutend größer gewesen war, als man angenommen hatte. Den Frydendals fiel ein nicht unbedeutender Teil zu. Testamentarisch hatte jedoch F. O. Andrige bestimmt, daß am Tage der Vermählung der kleinen Ingrid Steeg die Hauptmasse des Vermögens — es handelt sich um etwa zwei Millionen Dollar — abzüglich einiger Legate auf Ingrid übergehen solle.

Befragt, wie er sich dieses sonderbare Testament erkläre, sagt Professor Frydendal aus:

‚Mein Schwiegervater, Mr. Andrige, hatte in seinem Leben reichlich den Fluch des Geldes kennengelernt. Als ich um May warb, gewann ich vor allem die Zuneigung Andriges dadurch, daß ich von vornherein erklärte, ich lege auf Vermögen keinen Wert, da ich in meinem Beruf genug verdiene, um meine Familie ernähren zu können und nicht daran dächte, meine Wissenschaft aufzugeben. May war durchaus mit mir einverstanden. Mit meinem Schwiegervater standen wir in dauerndem herzlichen Briefwechsel. Er freute sich, daß wir im Rahmen unserer Verhältnisse glücklich und zufrieden lebten. Trotzdem überhäufte er uns jedes Jahr mit kostbaren Geschenken, die wir nicht ablehnen konnten, ohne ihn zu kränken. Wie groß sein Vermögen war, erfuhren May und ich erst bei der Testamentseröffnung.

Für seinen Enkel, unseren Jungen, zeigte Andrige stets großes Interesse. In seinen letzten Briefen schrieb er unter anderem, er hoffe, Anker und Ingrid würden eines Tages ein Paar werden. Wir wußten damals nicht, ob er dies im Ernst oder scherzhaft meinte. Durch seinen Anwalt und Testamentsvollstrecker erfuhren wir jedoch, daß es tatsächlich ein Lieblingsgedanke des alten Herrn gewesen war, eines Tages seinen Enkel und Ingrid Steeg als Paar zu sehen. Ich nehme daher an — und auch der Anwalt ist dieser Meinung — daß mein Schwiegervater gehofft hat, durch die Art seines Testaments werde eines Tages sein Vermögen beiden Kindern — sowohl Anker wie Ingrid — zugute kommen.

Von dieser Testamentsbestimmung wußten nur der Anwalt des Erblassers und wir, also meine Frau und ich. Wir hielten es für richtig, Ingrid vorläufig noch nichts von dem sie erwartenden Reichtum zu sagen, um ihre Entwicklung nicht zu beeinflussen.

Übrigens soll laut Testament bei einem etwaigen vorzeitigen Tode Ingrids meine Frau als Universalerbin gelten.‘

Die Polizei ist dieser Spur, die zunächst ein Tatmotiv darzustellen schien, in weitem Umfange nachgegangen.

Der Verdacht, die Frydendals könnten Ingrid Steeg aus dem Wege geräumt haben, um in den Besitz des Vermögens zu kommen, mußte fallen gelassen werden. Professor Frydendal und seine Frau leben in guten, durchaus geordneten Verhältnissen und haben nie Begehrlichkeit nach größerem Vermögen gezeigt. Beiden Personen ist nach ihrem ganzen Charakter und ihrem Lebenslauf ein derartiges Verbrechen nicht zuzutrauen. Auch hat das Ehepaar Frydendal jetzt, nachdem ihnen durch den Tod Ingrid Steegs das Vermögen zugefallen ist, die Bestimmung getroffen, daß dieses gesamte Vermögen gemeinnützigen Stiftungen zugeführt werden soll.

Die Frage, ob jemand Ingrid Steeg ermordet hat, um sich in den Besitz der Erbschaft zu setzen, muß verneint werden. Ein Täter würde in diesem Falle sein Vorhaben nicht ausgeführt haben, bevor das Testament in Kraft getreten war, also bevor Ingrid Steeg verheiratet wäre. Allen Ermittlung zufolge stand die Ermordete jedoch keineswegs im Begriff, sich in absehbarer Zeit zu verehelichen. Es sind auch nach dem Tode der Steeg weder hier noch in Neuyork Ansprüche geltend gemacht worden, die sich etwa auf eine heimliche Trauung stützen.

Die Annahme, daß die Ermordung der Steeg direkt mit dem Testament zusammenhängt, muß daher als unwahrscheinlich bezeichnet werden. Wahrscheinlicher erscheint die Annahme, daß es sich im Falle Steeg um einen Lustmord handelt. Auch ein Raubmord erscheint nicht ausgeschlossen, da in der Handtasche der Ermordeten weder Geld noch Wertsachen gefunden wurden, Frau Frydendal jedoch versichert, ihre Pflegetochter habe immer in ihrer Handtasche einen Betrag für unvorhergesehene kleine Ausgaben sowie ihre goldene Taschenuhr mitgeführt.“

*

Inspektor Kollund legt den Aktenband hin und grübelt. Ja, das war der Fall Steeg. Daß doch immer die Fälle, die am einfachsten aussehen, die schwersten Rätsel aufgeben! Was ist nicht alles versucht und getan worden, um diese Mordsache aufzuklären! Kollund selber hat mit fast pedantischer Genauigkeit alle Einzelheiten im Leben der Frydendals erforscht, hat seine Ermittlungen auf sämtliche Bekannten der Familie ausgedehnt, auch auf solche, die seit vielen Jahren nicht mehr mit den Frydendals in direktem Verkehr standen. Er ist den Spuren Ingrid Steegs nachgeschlichen wie ein verliebter Schuljunge. Er hat das gesamte „fliegende Korps“, die beste Abteilung der Kriminalpolizei, auf die Fährte des angeblichen Christian Larsen gehetzt. Vergeblich alles. Das Ehepaar Frydendal hat nichts zu verbergen, und in ihrem Bekanntenkreis ist niemand, der als Täter auch nur in Frage kommen könnte. Ingrid Steegs junges Leben bietet gleichfalls keine Geheimnisse. Sie hat Freundschaften geschlossen, sowohl mit andern jungen Mädchen wie mit einigen jungen Männern. Wenn man will, kann man einige der letzteren als harmlose Jugendliebeleien bezeichnen. Nirgends aber die Spur eines ernsthaften Verhältnisses, und noch viel weniger eine Andeutung von Abenteuerlust oder geheimen Trieben.

Alles, aber auch alles ist ergebnislos geblieben. Die Beamten Kollunds haben Männer genug ringsum in Dänemark aufgestöbert, deren Äußeres dem Signalement des angeblichen Larsen entsprach. Alle jedoch vermochten ein einwandfreies Alibi beizubringen, oder sie kamen ihrer ganzen Persönlichkeit nach nicht in Betracht, oder Frau Jespersen und ihre Hausangestellte erklärten bei der Gegenüberstellung, die Betreffenden seien nicht identisch mit dem Mann in Ingrid Steegs Begleitung.

Eine besondere Hoffnung hatte Kollund auf das Vitriol gesetzt. Die Drogerien und Apotheken in Kopenhagen, in der Provinz, selbst jenseits des Sundes von Malmö bis Göteborg sind durchgekämmt worden. Nirgends ist man auf die Spur einer Person gestoßen, die Vitriol bezogen hat und auch nur entfernt mit dem Mörder verglichen werden konnte.

Denunziationen sind eingelaufen. Ein paar Tage lang hat Kollund sogar aufatmend geglaubt, den Faden in der Hand zu halten. Eine der Polizei wohlbekannte Frauensperson aus dem Nörrebroviertel hat behauptet, einer ihrer früheren Bekannten, ein gewisser Jens Skovgaard, besser unter dem Spitznamen „Casanova“ bekannt, habe den Mord begangen und sei seither verschwunden. In der Tat, dieser „Casanova“ kam in Betracht. Er war schon Mitte der Vierzig, jedoch ein gut und solide aussehender Bursche, gewandt und von guten Formen, der schon oft auf jüngere Mädchen einen unheilvollen Einfluß ausgeübt hatte. Er war mehrfach wegen Heiratsschwindeleien vorbestraft, und einige seiner Opfer hatten sogar sehr guten Kreisen angehört. Auch wegen eines Sittlichkeitsdeliktes war er bereits bestraft. Vor allem aber: Dieser „Casanova“ war tatsächlich verschwunden. Nirgends in Dänemark vermochte man ihn festzustellen. Die Polizei schien endlich den Faden in der Hand zu halten. Dann aber war der Tag gekommen, an dem Inspektor Kollund aus München die niederschmetternde Nachricht erhielt, daß der dänische Staatsangehörige Jens Skovgaard, alias Casanova, wegen mehrerer Betrügereien und Schwindeleien im Gefängnis zu Weilheim saß, und zwar schon seit vier Monaten. Die Denunziantin, scharf ins Verhör genommen, gestand denn auch ein, daß sie ihrem früheren Freunde „Casanova“, der sie schmählich hatte sitzenlassen, nur aus Rache „eins auswischen wollte“.

Lange hatte Inspektor Kollund sich an die Geschichte mit der Erbschaft des Mr. F. O. Andrige geklammert. Aber auch hier führte nichts zu dem Mord an Ingrid Steeg hin. Die Angaben des Professors Frydendal haben sich in jeder Beziehung als richtig erwiesen. Ingrid Steeg hat nichts von der ihr bevorstehenden großen Erbschaft gewußt und also auch niemand davon erzählen können.

Diese Ingrid Steeg! — Kollund sucht aus dem Aktenband die Photographie der Ermordeten heraus, ein Bild, das erst wenige Wochen vor dem gräßlichen Ereignis aufgenommen worden war, und betrachtet es lange. Das Bild eines schlanken, frischen Mädels. Keine ausgesprochene Schönheit, aber doch anziehend und hübsch. Mutwillig sich um Stirn und Schläfen ringelndes Blondhaar, die schlanken, festen Linien eines sportlich trainierten Körpers, klare, lustig dreinblickende Augen. Nur der Mund paßt nicht ganz zu diesem Bild unbeschwerter Jugend. Um den Mädchenmund liegt ein herber, willensstarker Zug. Kein Zweifel, Ingrid Steeg war imstande gewesen, ihren Willen durchzusetzen. Auf den Mordfall angewandt hieß das: Ingrid Steeg war bestimmt kein Mädel, das sich von irgendeinem Mann beschwatzen ließ, ihm zu folgen. Darin hatte der junge Frydendal schon recht: Es lag ein Geheimnis dahinter, wie Ingrid Steeg in später Abendstunde mit einem Manne in das Fremdenheim Jespersen gehen konnte, um dort zu übernachten.

Wenn sie wirklich die Ermordete war!

Denn das war jetzt der Kardinalpunkt des ganzen Falles. Da, auf dem Schreibtisch, noch uneingeheftet, liegen die Briefe. Der geheimnisvolle Brief aus Neuyork, frühere Briefe Ingrids, die Professor Frydendal vorsorglich zum Vergleich mitgebracht hat. Dicht daneben liegt das ausführliche Gutachten des Schriftsachverständigen, der sofort den Neuyorker Brief einer eingehenden Untersuchung unterzogen hat. Kollund greift noch einmal danach und liest es nachdenklich.

„Die mir übergebenen Schriftproben der Ingrid Steeg und des mit ‚Ingrid‘ unterzeichneten Neuyorker Briefes stimmen in allen wesentlichen Merkmalen überein. Beide zeigen in Raumverteilung, Druckbetonung und Buchstabenbildung eine ungewöhnliche Ähnlichkeit. Die Anbringung der Interpunktionszeichen ist in beiden Schriftproben die gleiche, ebenso die typische ‚d‘-Bildung sowie die Neigung, den letzten Bindestrich von ‚n‘ und ‚m‘ linksschräg zu stellen und unter die Zeile zu ziehen.

Das gleiche gilt für den Arkadenduktus. Die Flüssigkeit der Schrift widerspricht der Vermutung, daß es sich bei dem Neuyorker Brief um eine Fälschung oder eine verstellte Handschrift handelt. Alle Anzeichen für eine absichtliche Schriftverstellung fehlen.

Entscheidend ist für mich der Buchstabe ‚g‘. In den Briefen der Ingrid Steeg erscheint die Schleife des Buchstaben ‚g‘ in der normalen Schrift fast durchweg völlig vernachlässigt. In zwei Fällen (innerhalb von fünf verschiedenen Briefen) weist jedoch das ‚g‘ eine ausgesprochene Schleife auf. Auch in dem Neuyorker Brief findet sich das gleiche Symptom. Das ‚g‘ ist nur einmal mit Schleife geschrieben, sonst durchweg ohne. Beide Schreiber haben also die wahrscheinlich unbewußte Angewohnheit, den Buchstaben ‚g‘ ab und zu mit einer Schleife zu versehen. Unbedingt zu folgern ist daraus, daß der Schreiber des Neuyorker Briefes zum mindesten die Schrift der Ingrid Steeg ungewöhnlich genau kennen muß und ihm nicht etwa nur eine einzelne Schriftprobe zur Nachahmung vorgelegen haben kann.

Da jedoch in dem Neuyorker Brief alle typischen Fälschungsanzeichen fehlen, komme ich zu der Überzeugung, daß sowohl dieser Brief wie die Briefe der Ingrid Steeg von ein und derselben Person geschrieben sein müssen.

Das Gegenteil müßte das Werk einer geradezu genialen Nachahmungskunst sein, wie sie die Erfahrungen der Graphologie bisher nicht kennt.

Dr. Sjömod,

vereidigter Sachverständiger.“

Inspektor Kollund läßt das Schriftstück langsam sinken und blickt fragend auf. Assistent Nörholm hat die Tür des Nebenzimmers geöffnet.

„Herr Professor Frydendal und sein Sohn sind draußen.“

„Gut, Nörholm. Lassen Sie die Herrschaften rein.“

Professor Frydendal, ein Mann, dessen aufrechter Haltung man die Jahre nicht ansieht, nimmt etwas hastig auf dem angebotenen Stuhl Platz und fährt sich nervös mit dem Zeigefinger in den Kragen. „Es ließ mir keine Ruhe, Herr Kollund. Haben Sie den Brief schon prüfen lassen? Sie sagten ...“

Ein bestätigendes Nicken macht die weiteren Worte unnötig. Kollund blickt noch eine volle Minute grübelnd auf die Schriftstücke, die vor ihm liegen, hebt dann den klaren, ruhigen Blick zu dem Besucher.

„Damit wir uns recht verstehen, Professor — diese Briefe hier, die alten, die Sie mir brachten, hat also unzweifelhaft Ingrid Steeg geschrieben?“

„Ich verstehe nicht ... Natürlich sind das Ingrids Briefe.“

„Ich meine, eine Verwechslung kann da nicht vorliegen?“

„Wie sollte denn das möglich sein? Sehen Sie, das hier — das ist ein Brief, den Ingrid an uns geschrieben hat, als sie in Ollerup auf dem Gymnastikkursus war. Es steht auch noch ein Gruß von meinem Sohn Anker darunter, wie Sie sehen.“

„Jawohl“, fällt Anker rasch ein. „Ich kann sogar bezeugen, daß Ingrid diesen Brief in meiner Gegenwart geschrieben hat.“

„Das genügt allerdings. Wir haben ja auch die Schriftproben aus dem bei der Leiche gefundenen blauen Merkbuch Ingrid Steegs zum Vergleich. Ich fragte nur, um jeden Irrtum auszuschließen. Ja, hm — demnach ...“ Kollund macht eine kleine Pause und sieht den Professor unverwandt an. „Das Gutachten des Sachverständigen liegt vor. Es lautet dahin, daß Ingrid Steeg wirklich die Schreiberin des Neuyorker Briefes ist.“

Anker Frydendal stößt einen kurzen, wilden Laut aus. Sein Atem keucht. „Hörst du’s, Vater? Also — also lebt Ingrid noch! Ingrid lebt!“

Das Gesicht des Professors sieht fast verstört drein. „Ich hab doch gleich Ingrids Schriftzüge erkannt. Mutter auch. Aber dennoch, ich — ich kann mir noch immer nicht vorstellen, daß Ingrid, die wir als tot beweint und begraben haben, noch unter den Lebenden weilen soll. Das ist — geradezu phantastisch ist das!“

Inspektor Kollund nickt dem Erregten zu. „Es fällt schwer, daran zu glauben, nicht wahr? Ich muß gestehen, ich für mein Teil glaube auch noch nicht daran.“

„Aber das Gutachten?“ fährt Anker auf. „Halten Sie denn Ihren eigenen Sachverständigen nicht für kompetent, Herr Inspektor?“

„Nur ruhig“, winkt Kollund freundlich ab. „Natürlich setze ich in das Gutachten keinen Zweifel. Dr. Sjömod ist eine anerkannte Autorität auf graphologischem Gebiet. Übrigens verstehe ich mich auch selber ein wenig auf Handschriften. Ich hätte vielleicht gezweifelt, wenn das Gutachten im gegenteiligen Sinne ausgefallen wäre. So aber stimmt es mit meiner eigenen Überzeugung vollkommen überein.“

„Nun also! Dann ...“

„Bitte, beherrsche dich, Anker“, wehrt Professor Frydendal dem Ungestüm seines Sohnes. „Was ist Ihre Meinung, Herr Kollund?“

„Nun, ich glaube, daß der Neuyorker Brief allerdings von Ingrid Steeg geschrieben worden ist“, sagt Kollund langsam und bedächtig, gleichsam, als überprüfe er noch einmal eine Gedankenreihe. „Aber es erscheint mir voreilig, daraus den sicheren Schluß zu ziehen, daß die Schreiberin noch lebt. Die Möglichkeit ist vorhanden, daß Ingrid Steeg diesen Brief bereits viel früher geschrieben hat.“

„Aber warum in aller Welt sollte sie das getan haben?“

„Ja, das ist wohl schwer zu sagen. Man könnte sich vorstellen, daß jemand sie gezwungen hat, diesen Brief zu schreiben. Etwa in der Nacht, da sie ermordet wurde. Dieser Jemand kann den Brief dann später in Neuyork zur Post gegeben haben.“

„Also um den Anschein zu erwecken, daß Ingrid noch lebe?“

„Ganz recht.“

„Und aus welchem Grunde?“

„Diese Frage, lieber Professor, werde ich Ihnen beantworten können, sobald wir das Motiv wissen, aus dem Ingrid Steeg ermordet wurde. Vorläufig nur eine Gegenfrage: Wenn amtliche Zweifel an dem Tode Ingrid Steegs laut würden, so würde das die Auszahlung der Erbschaft an Sie beziehungsweise Ihre Gattin verhindern?“

„Natürlich. Aber meine Frau und ich, wir wünschen dieses Erbe ja gar nicht. Wir haben ja bereits dem Anwalt in Neuyork geschrieben, welchen Stiftungen es zugute kommen soll.“

„Also haben Sie die Erbschaft immerhin angetreten und darüber verfügt. Aber auch diese Verfügungen würden wohl aufgeschoben werden durch die Nachricht, daß Ingrid Steeg noch lebt oder daß ihr Tod zum mindesten zweifelhaft ist?“

„Ja, das mag wohl sein. Der Anwalt wird in diesem Falle wohl jede Auszahlung zurückhalten. Aber ich begreife nicht, Herr Kollund, warum Sie immer auf diese Testamentsgeschichte zurückkommen. Sie wissen doch, uns liegt gar nichts daran. Es ist wirklich ganz gleichgültig für uns, ob die Erbschaft bei dem Anwalt meines verstorbenen Schwiegervaters liegen bleibt oder nicht.“

„Ihnen vielleicht, lieber Professor. Es mag aber Leute geben, denen das nicht so gleichgültig ist.“

„Ingrid lebt!“ stößt Anker Frydendal heraus, unfähig, sich länger zu beherrschen. „Vor wenigen Stunden, als ich von der Möglichkeit eines hypnotischen Einflusses auf Ingrid sprach, haben Sie das ins Reich der Phantasie verwiesen, Herr Inspektor. Und nun kommen Sie selber mit einer Theorie, die genau so phantastisch ist!“

„Wir wollen auf der Erde bleiben, junger Freund“, meint Kollund sanftmütig. „Ich gebe zu, daß meine Theorie, Ingrid Steeg könnte zum Schreiben dieser Zeilen gezwungen worden sein, ebenfalls etwas Phantastisches hat. Aber inzwischen haben sich ja auch die Tatsachen erheblich geändert. Inzwischen liegt uns nämlich dieser geheimnisvolle Neuyorker Brief vor.“

„Ließe es sich nicht feststellen, wo und von wem der Brief in Neuyork aufgegeben worden ist?“

„Wir werden unser möglichstes tun, Professor, und sofort die amerikanische Polizei um entsprechende Recherchen ersuchen. Der Erfolg bleibt abzuwarten.“

„Und ich sage noch einmal: Ingrid lebt!“ ruft Anker mit dem ganzen Ungestüm seiner Jahre. „Stellen Sie lieber gleich mal fest, wer die Unbekannte ist, die wir begraben haben!“

Kollund runzelt leicht die Stirn. „Sie wissen doch, die Leiche war so entstellt, daß eine Indentifizierung seitens der Behörde aussichtslos ist. Ein besonderes Merkmal am Körper hatte Ingrid Steeg nicht, außer einer winzigen Narbe an der linken Schläfe. Nun, das Gesicht der Toten war so zerfressen und unkenntlich, daß keine Hoffnung besteht, diese Narbe zu finden. Auch die Hände waren leider so zerfressen, daß Fingerabdrücke nicht in Frage kommen. Ich fürchte daher, die Staatsanwaltschaft wird einen Antrag auf Exhumierung als zwecklos ablehnen. Es sei denn, daß Sie, Herr Professor, die bündige Erklärung abgeben können, daß Sie Ihre frühere Aussage zurücknehmen und nun nicht mehr davon überzeugt sind, daß die Tote Ihre Pflegetochter Ingrid Steeg ist?“

„Ja, nach dem Brief da ...“

„Einen Augenblick, lieber Professor. Stellen Sie sich vor, daß dieser Brief nicht gekommen wäre. Wie gesagt, er kann trotz allem eine Fälschung in dem vorhin angedeuteten Sinne sein. Vergessen Sie ihn also einmal völlig oder geben Sie sich wenigstens Mühe, es zu tun. Und dann antworten Sie mir nach bestem Wissen und Gewissen: Sind Sie der festen Überzeugung, daß sowohl Sie wie Ihre Familienmitglieder und Ihr Arzt sich damals geirrt haben? Daß die Tote nicht Ingrid Steeg war?“

Eine Minute herrscht tiefes Schweigen. Dann sagt Professor Frydendal, sich über die Stirn streichend, leise: „Sie haben recht, Herr Kollund. Nein, ich vermag als gewissenhafter Mensch die Versicherung nicht zu geben.“

„Aber ich!“ braust Anker abermals auf und ballt unwillkürlich die Fäuste. „Herr Inspektor Kollund, ich, Anker Frydendal, erkläre hiermit ausdrücklich, daß ich mich damals geirrt habe, als auch ich die Tote als meine Jugendgespielin Ingrid identifizierte! Ich bin heute der festen Überzeugung, daß Ingrid lebt!“

„Ja, ja, die Jugend“, nickt Kollund begütigend, als der Professor seinem Sohn die Heftigkeit verweisen will. „Ihr Gefühl in Ehren, junger Freund, aber haben Sie außer dem Brief da irgend etwas, auf das sich Ihre Überzeugung stützt?“

„Ich sollte meinen, der Brief Ingrids genügt!“

„Uns nicht“, sagt Kollund achselzuckend. „Und der Staatsanwaltschaft wird er auch nicht genügen. Trotzdem will ich mich gern für eine Exhumierung einsetzen. Obwohl ich nicht glaube, daß mehr an der Leiche festzustellen ist, als was wir bereits festgestellt haben.“

Professor Frydendal erhebt sich. „Tun Sie, was Sie für richtig halten, Herr Kollund. Nur — Sie begreifen die Aufregung, in der meine Frau und ich nun wieder sind — nicht wahr, Sie benachrichtigen uns, wenn irgend etwas Neues vorliegt?“

„Gern, lieber Professor. Darauf können Sie sich verlassen.“

*

„Arbeit für Sie, Nörholm“, sagt Inspektor Kollund, als die Besucher ihn verlassen haben. „Notieren Sie sich, bitte, mal: 1. Diensttelegramm an die Polizeizentrale Neuyork, Abteilung Erkennungsdienst. Ersuchen um Feststellung, ob eine Ingrid Steeg, Personalien und so weiter, in den Vereinigten Staaten lebt oder gelebt hat. — 2. Flugpostsendung des Briefumschlags an die Neuyorker Polizei. Ersuchen um Nachforschungen, wann, wo und von wem der Brief aufgegeben worden ist. Herkunft des Papiers. Untersuchung des Fingerabdrucks, der sich auf dem Briefumschlag befindet. Na, Sie wissen ja, worauf es ankommt. Haben Sie’s?“

„Jawohl, Herr Kollund.“

„Dann 3. Genaue Untersuchung des Schreibzeugs in der Pension Jespersen. Der Brief ist mit einer sehr spitzen Feder geschrieben. Stellen Sie fest, ob es solche Federn bei der Jespersen gibt oder gegeben hat. — 4. Informieren Sie unsere gesamte Abteilung von den neuen Tatsachen im Falle Steeg. Die Fahndung nach Christian Larsen ist unter Berücksichtigung dieser Tatsachen energisch weiter zu betreiben. Hol mich der Böse, wenn wir doch nur diesen Burschen einmal packen könnten!“

„Wird schon kommen“, tröstet der Assistent, der ob seiner phlegmatischen Ruhe in Kollegenkreisen „Buster“ genannt wird. „Wir wissen ja, wie so was geht. Monatelang tappen wir ganz verzweifelt im Dunkel und dann — fallen wir sozusagen plötzlich über den Gedanken. Wird alles schon kommen.“

„Gott geb’s! Halt, Nörholm, da wäre noch eines. Sie können auch gleich mal an den Anwalt des Mr. Andrige schreiben. Teilen Sie ihm die Sachlage mit und bitten Sie ihn, die Erbschaft an niemanden auszuzahlen, bevor er von uns weitere Nachricht erhält.“

„Geht in Ordnung, Herr Kollund.“

„Monatelang tappen wir im Dunkel, und dann fallen wir plötzlich über den Gesuchten“, wiederholt sich im Geiste Kollung die Worte, als der Assistent im Nebenraum verschwunden ist. Ja, es ist manchmal, als ob das Schicksal sich den unziemlichen Scherz mache, mit einer hohen Polizeibehörde zu spielen. Da hat er schon recht, der Nörholm. Aber mir scheint ... hm, mir scheint, als ob es uns diesmal doch selbst gelingen sollte, Licht in das Dunkel zu bringen. Der Brief, dieser geheimnisvolle Brief, ist unschätzbar. Gehen wir mal von der Testamentsgeschichte aus. Jawohl, für mich ist es sicher, daß der Tod der armen Ingrid irgendwie mit den Dollarmillionen zusammenhängt. Überlegen wir mal! Da ist jemand, der Absichten auf den fetten Brocken hat. Er kann Ingrid Steeg nicht einfach verschwinden lassen, also bringt er sie um. Logisch. Um zu verhindern, daß die Erbschaft an Professor Frydendal ausgezahlt wird, muß er aber begründete Zweifel an dem Tode Ingrids erregen. War von vornherein seine Absicht. Also zwingt er die Unglückliche durch Drohungen oder durch einen verdammten Trick, eigenhändig diese Zeilen zu schreiben, bevor er sie ins ewige Dunkel schickt, und sorgt dafür, daß der Brief später dem Professor Frydendal, also damit der Polizeibehörde, in die Hände kommt. Wieder logisch. Der Verdacht, daß Professor Frydendal und dessen Frau — die einzigen, die aus dem Tode Ingrids einen Vorteil haben — die Urheber des Mordes sind, scheidet dann gänzlich aus. Stimmt genau mit meiner Überzeugung überein, denn ich glaube nun und nimmer, daß die Frydendals solche Banditen sind. Hm, die Kette scheint logisch und folgerichtig geschlossen. Halt, nein! Verflucht und zugenäht, da ist noch ein Loch! Meine Theorie vorausgesetzt, warum beläßt der Täter dann seinem Opfer Wertgegenstände und Kleider, die seine Identität verraten müssen, obwohl er den Körper unkenntlich entstellt hat? Wenn die Tote aus der Pension Jespersen nicht als Ingrid Steeg erkannt, sondern besagte Ingrid nur einfach verschwunden wäre, so müßte es doch viel leichter sein, sie später wieder auftauchen zu lassen. Auch ein Brief von ihr würde dann viel eher Glauben finden.

Inspektor Kollund zieht eine Weile gedankenvoll die Unterlippe zwischen die Zähne. Oho, auch dafür gibt es Erklärungen! Der Täter kann die Absicht gehabt haben, durch die verhältnismäßig rasche Identifizierung der Toten uns davon abzuhalten, allzu gründliche Nachforschungen nach dem Verbleib Ingrids anzustellen. Oder er hat einfach keine Möglichkeit mehr gehabt, Kleider und Wertsachen der Toten mitzunehmen. Er kann gestört worden sein oder sich gestört geglaubt haben. Selbst der abgebrühteste Verbrecher begeht so eine Scheußlichkeit nicht mit ganz kaltem Blut. Nein, die Kette ist richtig. Sollte mich gar nicht wundern, wenn demnächst bei dem Neuyorker Anwalt eine falsche Ingrid Steeg frischlebend auftaucht und Anspruch auf die Erbschaft erhebt.

Inspektor Kollund nickt seiner Sekretärin, die von der Mittagspause zurückkommt, zu und geht langsam zum Fenster. Blickt auf die Straße hinaus, ohne etwas zu sehen von dem Verkehrstrubel da draußen.

Wenn wir nur eine Spur des angeblichen Christian Larsen hätten, gehen seine Gedanken weiter. Freiwillig folgt so ein sauberes, gesund empfindendes Mädel wie Ingrid Steeg nicht einem Unbekannten abends in ein Fremdenheim. Die Auffassung des jungen Frydendal hat etwas für sich — hm — hat etwas für sich. Bei dem Täter kann es sich also nur um jemand aus dem engeren Bekanntenkreis der Steeg handeln, jemand, dem sie vertraut hat, denn an Hypnose glaub ich nicht. Menschen, die unter schwerer Hypnose stehen, zeigen Symptome, die sowohl Frau Jespersen wie den andern Zeugen aufgefallen sein müßten.

Aber wer zum Geier könnte das sein? Wir haben doch den ganzen Bekanntenkreis durchgekämmt, ohne auch nur auf den Schatten eines Verdachts zu stoßen. Wäre es möglich, daß die Tote wirklich nicht Ingrid Steeg ist? Daß die Leiche eben deshalb unkenntlich gemacht wurde, um dies zu verbergen? Wenig wahrscheinlich. Die Frydendals, der Hausarzt, alle waren damals der Überzeugung, Ingrid Steeg vor sich zu haben. Und nicht nur der Kleider wegen. Das sonst unbegreifliche Verschwinden der Steeg, die Zeugenaussagen aus der Pension Jespersen, alles sprach dafür. Professor Frydendal glaubt es heute im Innersten noch, trotz des seltsamen Briefes aus Neuyork. Laß sehen. Der oder die Täter — hm — müßten, wenn meine Theorie richtig ist — ein Interesse daran haben, daß man an die Echtheit des Briefes glaubt, also daß Ingrid Steeg noch lebt.

Noch lebt! So betonte der junge Frydendal ja so sehr energisch. Hm, hm. Der junge Mann ist der einzige, der felsenfest davon überzeugt ist, daß die Botschaft aus Neuyork stimmt. Möchte mir diese Überzeugung auch aufdrängen. Sollte am Ende dieser junge Mann ...? Merkwürdig, auf was für Gedanken man so kommt. Der junge Anker Frydendal? Aber das geht doch nicht so! Das muß erst mal ruhig und gründlich durchgedacht werden.

Inspektor Kollund dreht sich mit einem Ruck um und stürzt sich, um seinen plötzlich wie toll kreisenden Gedanken zu entgehen, kopfüber in die praktische Arbeit.

„Fräulein Bendixen, rufen Sie mal die ‚Forenede Dampskibs Selskab‘ an. Bitten Sie um eine Liste aller Passagiere, die seit dem 4. Februar mit einem der Überseedampfer nach Neuyork ausgereist sind. Dann Anruf an die Staatspolizei. Ich bitte um Bericht, ob es festzustellen ist, wieweit die an den Grenzübergangsstellen visierten Pässe der seit dem 4. Februar Ausgereisten ein USA.-Visum trugen. Jawohl, sämtliche Grenzübergangsstellen.“

Unaufgefordert erscheint

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