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I Ein sonderbares Telefongespräch

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Christoph Kind war doch etwas „schwer“ nach Hause gekommen. Er nahm zwar jeden Abend an seinem Stammtisch in der kleinen Weinstube am Breitenbachplatz seinen gewohnten Trunk und palaverte mit einigen alten Freunden, aber heute hatte sich die Sitzung ungewohnt in die Länge gezogen. Zumhoff hatte eine Filmidee verkauft, und das wurde gefeiert. Aus der einen Flasche Gin waren drei und vier Flaschen geworden. Genau hatte Christoph Kind sie dann nicht mehr gezählt. Er war jedenfalls heilfroh, als er endlich seine Wohnung erreicht hatte. Während er mit einem Seufzer der Erleichterung den Rock abwarf, klingelte der Fernsprecher. Kinds erster Gedanke war, ihn ruhig klingeln zu lassen. Wahrscheinlich war es Zumhoff, der ihn zurücklotsen wollte. Dann fiel ihm ein, daß es auch Peter Kowitz sein konnte. Peter, der ihm heute abend Nachricht geben wollte, ob eine gewisse Hamburger Firma gewillt war, den alten Afrikaner Christoph Kind als Häuteaufkäufer an die Elfenbeinküste zu schicken. Es war sehr wichtig, zu wissen, ob aus dieser Sache etwas wurde oder nicht. Auf nicht ganz sicheren Beinen wankte Christoph Kind zum Schreibtisch, ließ sich der Sicherheit halber im Sessel nieder und hob den Hörer ab.

Es war nicht Peter Kowitz. Eine dunkle Frauenstimme kam aus dem Apparat.

„Guten Abend, Herr Kind. Ich nehme an, daß Sie selbst am Apparat sind?“

„Allerdings –“

„Sehr gut. Ich hatte schon Angst, Ihre Frau könnte an den Apparat kommen.“

Christoph Kind war unverheiratet. Jeder, der ihn kannte, wußte das und kannte seine Abneigung gegen die Ehe. Er stutzte und räusperte sich. „Verzeihung, aber ich glaube, Sie sind falsch verbunden, mein Fräulein.“

„Wieso? Ist dort nicht Oliva 8522?“

„Doch. Und Kind heiße ich auch. Aber – – entschuldigen Sie, mit wem spreche ich denn eigentlich?“

„Das tut vorläufig nichts zur Sache. Ich bitte Sie nur herzlich, mir ein paar dringende Fragen zu beantworten. Haben Sie etwas von der Geschichte mit Doktor Damm gehört? Natürlich haben Sie das! Alle Zeitungen schrieben ja darüber.“

Christoph Kind hielt die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu verbergen. Er war zwar allein im Zimmer, aber er telefonierte mit einer Dame. „Meinen Sie den Doktor Damm, der seine Frau – – —“

„Ja. Den Doktor Damm, der vor drei Tagen verhaftet worden ist unter dem Verdacht, seine Frau ermordet zu haben. Den meine ich. Aber Doktor Damm ist bestimmt unschuldig.“

Die Sache begann Christoph Kind zu belustigen. „Sie sind anscheinend doch falsch verbunden, mein Fräulein“, sagte er gutmütig. „Hier ist weder das Polizeipräsidium noch die hohe Staatsanwaltschaft, denen gegenüber die Versicherung von Doktor Damms Unschuld angebracht wäre, sondern nur ein harmloser alter Afrikaner namens Christoph Kind.“

„Das weiß ich doch. Gerade den Afrikareisenden Kind wollte ich sprechen.“

„Sehr erfreut. Aber vielleicht sagen Sie mir nun endlich, wer die hübsche Stimme am andern Ende der Leitung ist?“

„Eine alte Frau. Wenn es Sie interessiert: ich bin einundfünfzig Jahre alt, mittelgroß, gesund, noch ziemlich wohlerhalten, in Berlin geboren, berufstätig und nicht ohne Ersparnisse.“

„Famos. Wenn das ein Heiratsantrag sein soll, – bitte, sprechen Sie mit meiner Wirtin, ich bin nämlich noch unverheiratet.“

„Im Ernst, Herr Kind, es ist natürlich ungehörig, daß ich Sie so spät einfach anrufe, aber die Sache eilt.“

„Welche Sache denn, zum Donner ... entschuldigen Sie, aber ich habe immer noch keine Ahnung, wer Sie sind und was Sie denn eigentlich von mir wollen.“

„Nur fragen, ob Sie einem Menschen helfen können, der unschuldig in einen furchtbaren Verdacht geraten ist.“

„Etwa diesem Herrn Doktor Damm?“

„Ja. Ich kann beschwören, daß er die entsetzliche Tat, die man ihm vorwirft, nie und nimmer begangen hat.“

„Schön, mein Fräulein. Aber ich bin weder Detektiv noch Rechtsanwalt und begreife absolut nicht, wie ich dem Manne helfen könnte.“

„Vielleicht können Sie es doch. Darf ich ein paar Fragen stellen?“

„Wenn’s nicht zu lange dauert?“

„Ich werde kurz sein, Herr Kind. Sie waren doch lange in Afrika?“

„Na, im ganzen so an die fünfzehn Jahre.“

„Ja, ich weiß. Ich habe auch Ihr Buch gelesen.“

„Wenn man telefonisch Autogramme geben könnte, würde ich ja – – –“

„Ich bin kein Backfisch, Herr Kind. Darf ich weiter fragen?“ seine Frau – – –“

„Bitte!“

„Also hören Sie zu: In meiner Wohnung habe ich einen ausgestopften Leopardenkopf, ein altes Familienstück. Nein, ich war nicht in Afrika, wie Sie vielleicht vermuten. Das Stück stammt ganz prosaisch von einer Leipziger Pelzfirma. Aber nun sagen Sie mir bitte: Was an so einem Leopardenkopf kann einen Menschen, der in Afrika war, erschrecken?“

„Ich verstehe nicht recht, wohinaus Sie wollen ...?“

„Ich werde etwas deutlicher sein. Eine Bekannte besuchte mich vor einiger Zeit in meiner Wohnung. Sie war zum erstenmal bei mir. Als wir uns unterhielten, wurde sie plötzlich kreidebleich. Ihre Augen starrten mit einem entsetzten Ausdruck nach der Wand. Aber dort, wohin sie sah, war nichts als mein alter Leopardenkopf.“

„Vielleicht hat die Dame gefürchtet, das gute Tier könnte lebendig sein und sich auf sie stürzen? Oder sie hat den Kopf für ein Gespenst gehalten?“

„Schwerlich, Herr Kind. Meine Bekannte hat in ihrer Jugend selber drei Jahre in Afrika gelebt. Außerdem ist sie noch heute eine waidgerechte Jägerin.“

„Und warum haben Sie Ihre Bekannte nicht nach dem Grund ihres Erschreckens gefragt?“

„Das tat ich natürlich. Aber sie behauptete, ihr sei nur plötzlich schlecht geworden. Ich hätte der Sache auch keine Bedeutung beigemessen, wenn nicht inzwischen Dinge eingetreten wären, die ... also, ich kann’s Ihnen ebensogut gleich sagen: jene Bekannte ist Frau Imma Damm, die Gattin des vorhin erwähnten Doktor Damm. Sie werden aus der Zeitung wissen, daß Imma Damm vor kurzem auf einer Reise in die Lüneburger Heide spurlos verschwunden ist und daß man ihren Mann unter dem Verdacht des Gattenmordes festgenommen hat.“

Christoph Kind rieb sich die Augen mit der freien Hand. Das war ja ein reichlich sonderbares Gespräch. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, als läge er in seinem Bett und sein schwerer Kopf gaukle ihm Phantasien vor. Er mußte sich zusammennehmen, um sich zu erinnern, daß er wirklich hier am Telefon saß und eine sonderbar dunkle, wohlklingende fremde Stimme hörte.

„Eine seltsame Geschichte, meine Gnädigste. In der Lüneburger Heide gibt es ja nun bestimmt keine Leoparden. Aber ... wollen Sie nicht, bevor wir weiter sprechen, mir nun endlich Ihren Namen sagen?“

„Nachher, Herr Kind. Wenn es Ihnen möglich ist, dann beantworten Sie mir doch bitte die Frage, die mich Tag und Nacht quält. Warum erschrak Frau Damm so fürchterlich, als sie den Leopardenkopf sah? Von wem konnte sie sich bedroht fühlen? Denn das war es, wie ich glaube, was sie so entsetzt zur Wand starren ließ: sie fühlte sich bedroht! Aber wie ist das möglich? Sie ist ihrer Natur nach absolut nicht furchtsam und kennt Afrika aus eigener Anschauung. Es muß irgendein Erlebnis aus dieser Zeit sein, unter dessen Eindruck sie stand.“

„Schwer zu sagen. Der Leopard ist ein blutgieriger Räuber, dem zu begegnen nicht eben angenehm ist. Das heißt, wenn er lebt. Möglicherweise hat Frau Damm einmal ein böses Abenteuer mit solch einer Bestie gehabt und die Erinnerung daran hat sie überwältigt. Oder ... sie hat eine Erfahrung mit Leopardenmenschen gemacht.“

„Leopardenmenschen?“

„Ja. Maghena nennt man sie dort, oder auch Anyotas. Eine unheimliche Negersekte, halb religiös, halb verbrecherisch. Die Burschen pflegen in die Dörfer einzubrechen und Menschen zu rauben, die sie dann im Busch abschlachten, das Blut trinken und das Fleisch in den Kochtopf stecken.“

„Mir ist bei Gott nicht nach Scherzen zumute, Herr Kind!“

„Aber ich spreche in vollem Ernst! Es ist so. Die Verbrechen der Leopardenmenschen haben schon viel Aufsehen erregt. Leider gelingt es nur selten, einen der Burschen zu fassen. Ihr Name rührt daher, daß sie ihre Schandtaten dem Leoparden unterschieben. Sie kleiden sich bei ihren Mordzügen in Leopardenfelle und benutzen meist eine Leopardenklaue, um ihr Opfer zu zerreißen. Ich habe selber ...“

Ein kurzer, erstickter Laut im Fernsprecher ließ Christoph Kind verwundert abbrechen. Dann kam die Frauenstimme wieder, diesmal fast heiser, zitternd vor mühsam unterdrückter Erregung.

„Das ... das ist doch von allergrößter Wichtigkeit, Herr Kind! Sie wissen doch ... aber nein, das können Sie natürlich noch nicht wissen! Die Polizei hat in einem Weggraben in der Lüneburger Heide den Schal der verschwundenen Frau Damm gefunden. Dieser Schal war, wie mir der Kriminalkommissar sagte, zerrissen. Vielmehr, es gingen einige lange, scharfe Risse mitten durch das Gewebe. ‚Wie von einem mehrzinkigen Haken oder einer Kralle‘ – ja, so sagte mir der Beamte wörtlich! Und! nun sagen Sie ... großer Gott! Das unheimliche Erschrecken damals und dieser Krallenriß ... wenn ich das zusammenhalte ...“

„Eine etwas weit hergeholte Vermutung, Fräulein Detektiv.“

„Ach, ich bin kein Detektiv! Aber – was Sie sagen, stimmt wirklich?“

„Aber natürlich. Haben Sie denn noch nie von den Leopardenmenschen gehört? Ab und zu steht doch etwas in der Zeitung, wenn man auch noch herzlich wenig über die Bande weiß.“

„Ich habe noch nie davon gelesen. – Herr Kind, würden Sie morgen vormittag mit mir zum Polizeipräsidium gehen und dort Ihre Erzählung von den Leopardenmenschen wiederholen?“

„Na, hören Sie mal ...“ Christoph Kind lachte unwillkürlich auf. „Was soll denn die Polizei mit dieser Geschichte? Sie glauben doch nicht im Ernst, daß in der guten alten Lüneburger Heide Leopardenmenschen ihr Unwesen treiben?“

„Ich weiß nicht. Es ist soviel möglich. Und darum bitte ich Sie, Herr Kind! Bitte Sie so herzlich, wie ich kann! Es geht um einen Unschuldigen! Jede Kleinigkeit, jede noch so vage Spur ist dabei äußerst wichtig! Mich würde man auslachen, wenn ich mit dieser neuen Theorie käme, die wie eine unhaltbare Phantasie aussieht. Aber Sie, der Sie ein bekannter Forscher sind, sozusagen Fachmann.“

„Wer bearbeitet denn eigentlich den Fall?“

„Ein Kriminalkommissar Doktor Mohr.“

„So. Den kenne ich zufällig persönlich.“

„Um so eher wäre es doch möglich, daß Sie mit mir zu ihm gehen und mir helfen!“

„Schön. Ich werde kommen. Nicht, weil ich glaube, daß ich da etwas tun kann, sondern um unsere telefonische Bekanntschaft etwas zu vertiefen.“

„Sie kommen – das ist mir genug. Paßt es Ihnen um elf Uhr? Dann sagen wir also um elf beim Polizeipräsidium Portal II. Bitte, bitte, vergessen Sie es nicht!“

„Gut denn, ich werde da sein. Und ich werde mich freuen, die Inhaberin dieser sympathischen Stimme persönlich kennenzulernen. Aber wie erkenne ich Sie?“

„Erstens werde ich Sie auf Grund der Bilder in Ihrem Afrikabuch erkennen und zweitens trage ich ein dunkelgraues Kostüm.“

„Und Ihr Name? Vielleicht dürfte ich den jetzt erfahren?“

„Ach so, das hätte ich beinahe vergessen. Also ich heiße Ursula Helbis und bin Laborantin bei Doktor Damm.“

*

Als Christoph Kind den Hörer zurück auf die Gabel gelegt hatte, empfand er seine Müdigkeit fast gar nicht mehr. Dafür brummte ihm der Schädel desto mehr. Entschlossen, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, suchte er eine Flasche Kognak hervor und trank das Glas mit einem Zug leer. Das starke Getränk belebte ihn sichtlich.

„Wenn ich nicht vollständig wach wäre“, philosophierte er vor sich hin, „dann könnte ich mir einbilden, daß ich keinen Gin mehr vertrage und daß ich all diesen Unsinn nur im Rausch geträumt habe. Aber ich bin wach und leidlich bei Sinnen. Ich sitze hier in meiner Bude und habe ein langes Telefongespräch mit einer Unbekannten geführt. Ich weiß sogar, daß ich versprochen habe, diese Unbekannte morgen vormittag elf Uhr am Polizeipräsidium Portal II zu treffen. Also überlegen wir noch einmal diese komische Sache. Was kann dahinterstecken? Ein Witz? Es gibt böse Menschen. Wollen mich ein paar Ulkbrüder zum Alexanderplatz lotsen und mich auslachen, wenn ich da vergebens warte? Eigentlich wüßte ich keinen unter meinen Freunden, dem ich solch einen Dummenjungensstreich zutrauen könnte. Oder handelt es sich um ein Frauenzimmer, das sich interessant machen will, um eine Bekanntschaft auf diese Weise anzuknüpfen? Das wäre möglich, wenn es sich um ein junges Mädchen handeln würde, aber eine einundfünfzigjährige Frau – nein, kaum anzunehmen! Übrigens klang die Stimme noch verdammt jung. Die Frage, ob ich nach dem Alex gelockt werden soll, damit irgendein Gauner inzwischen in Ruhe bei mir einbrechen kann, erübrigt sich auch. In meiner Wohnung befinden sich keine Kostbarkeiten und mein Barbestand ist nicht des Zählens wert. Außerdem bin ich täglich viele Stunden hindurch abwesend. Zum Beispiel jeden Abend von sechs bis neun, wenn ich in meiner Stammkneipe hocke. Ein Einbrecher, der so raffiniert vorginge, hätte das natürlich längst beobachtet und wüßte, daß er mich nicht aus meiner Wohnung ‚fortzulocken‘ brauchte. Also bleibt nur die Annahme, daß sich tatsächlich alles so verhält, wie dieses Fräulein oder diese Frau Helbis am Apparat sagte.“

Christoph Kind langte sich das Fernsprechbuch und begann zu suchen. Ein Lokomotivführer Johann Helbis, Trautenauer Straße 99, stand verzeichnet. Eine Ursula Helbis dagegen war nicht zu finden. Nun, das wollte wenig besagen. Vielleicht hatte die alte Dame keinen eigenen Fernsprechanschluß oder sie wohnte bei Angehörigen oder in Untermiete.

„Muß doch mal nachsehen, wie das eigentlich mit dem Fall Damm war“, murmelte Kind vor sich hin und erhob sich, um in einem hinter dem Schreibtisch liegenden Stoß Zeitungen zu kramen. Nach einigen Minuten hatte er mehrere Blätter mit Datum der letzten Tage herausgesucht und machte sich an die Durchsicht. Es war nicht schwer, das Gewünschte zu finden. Einige Zeitungen trugen auf der Vorderseite dicke Überschriften, die sich auf den Fall bezogen. Auch im Innenteil der Blätter fand Kind Artikel über den „Fall Doktor Damm“.

Gattenmord in der Lüneburger Heide!

Angesehener Gelehrter unter dem Verdacht des Gattenmordes verhaftet!

Geheimnisvolles Verschwinden einer Frau!

Ein zweiter Tetzner?

An diese Überschriften erinnerte sich Christoph Kind ganz gut. Auch einige Bruchstücke der Zeitungsberichte hafteten noch in seinem Gehirn. Aber genau hatte er diese Sensationsberichte bisher noch nicht gelesen, da sie ihn nicht sonderlich interessierten. Erst jetzt, beim aufmerksamen Durchlesen der Zeitungen, bekam er ein klareres Bild von der Sache.

Etwas Geheimnisvolles war eigentlich an der Geschichte nicht. Im Gegenteil, sie schien ihm schon mehr als klar zu liegen. Ein Kellner in einem Gasthof zu Lüneburg hatte der dortigen Polizei einen Verdacht gemeldet. Am 2. September war ein Ehepaar in dem Gasthof abgestiegen, das sich als „Doktor Damm und Frau, Berlin“, ins Fremdenbuch eintrug. Der Kellner hatte nun folgendes beobachtet: Als die Herrschaften Kaffee tranken, schien es einen Streit zwischen den Eheleuten gegeben zu haben. Die Dame war plötzlich aufgestanden, hatte ihrem Mann halblaut etwas gesagt, den Stuhl zurückgestoßen und war auf ihr Zimmer gegangen. Gleich darauf folgte ihr der Herr. Sowohl der Kellner wie das Stubenmädchen hatten bald danach einen heftigen Wortwechsel aus dem Zimmer gehört und neugierig gelauscht. „Und es ist doch so!“, hatten sie die Dame laut und heftig sagen hören. „Du wolltest mich vergiften, damit der Weg zu deiner geliebten Usch frei wird!“ Viel mehr hatten weder Kellner noch Stubenmädchen vernehmen können. Das Ehepaar schien sich jedoch noch weiter gestritten zu haben. Nach einer knappen halben Stunde war die Dame herausgekommen, in Hut und Handschuhen, und hatte ohne ein Wort und sichtlich sehr aufgeregt, den Gasthof verlassen. Zehn Minuten später war auch der Herr erschienen und rasch aus dem Städtchen gegangen, in der gleichen Richtung, die vorher seine Frau eingeschlagen hatte. Der Kellner hatte ihm eine ganze Weile nachgeschaut. Um 23,30 Uhr abends war dann Doktor Damm allein zurückgekommen. Er hatte klingeln müssen, da die Hoteltür bereits geschlossen war, und der Kellner hatte ihm geöffnet. Letzterer hatte dabei die Beobachtung gemacht, daß Doktor Damm allein und sehr aufgeregt war. Seine Schuhe und der untere Rand seiner Beinkleider waren stark beschmutzt. Doktor Damm hatte dem Kellner ein übermäßig hohes Trinkgeld gegeben und hastig erklärt, er müsse dringender Geschäfte halber sofort nach Berlin zurückfahren. Der Kellner hatte den Hausknecht geweckt, der dann die Garage aufschloß. Nach einer Viertelstunde war Doktor Damm in seinem Wagen abgefahren. Seinen Koffer hatte er mitgenommen, die Sachen seiner Frau jedoch dagelassen.

Der Kellner hatte, an seine vorhergehenden Beobachtungen denkend, zunächst angenommen, daß es zwischen dem Ehepaar zu einem ernsten Zerwürfnis gekommen sei. Merkwürdigerweise war aber Frau Damm auch bis zum nächsten Morgen nicht wieder in dem Gasthof erschienen. Als sie drei Tage verschwunden blieb und auch niemand sich um ihre zurückgelassenen Sachen kümmerte, war dem Kellner die Sache verdächtig erschienen und er hatte seine Beobachtungen der Polizei mitgeteilt.

Die örtliche Polizei hatte zunächst den Angaben wenig Bedeutung beigemessen und sich damit begnügt, in Berlin einige Ermittlungen über das Ehepaar Damm anzustellen. Bald aber waren Tatsachen bekannt geworden, die dem Verdacht des Kellners eine ernste Unterlage gaben. Frau Damm war auch in ihrem Heim nicht wieder aufgetaucht. Ihr Mann erklärte auf Befragen, seine Frau habe ihn nach einem schweren, ehelichen Streit verlassen. Wohin sie sich gewandt habe, sei ihm unbekannt. Gleichzeitig wurde jedoch festgestellt, daß Doktor Damm erst vor vier Monaten seine Frau in eine Lebensversicherungsgesellschaft eingekauft habe, und zwar für die hohe Summe von 80 000 Goldmark. Noch verdächtiger wurde die Sache, als eine alte Tante der Frau Damm der Polizei einen Brief vorlegte, den sie vor einiger Zeit von ihrer Nichte Imma erhalten hatte. Es war ein ziemlich konfuser Brief, in dem Frau Imma Damm unter anderem auf das Testament ihrer Tante Bezug nahm. „Es ist lieb von Dir, Tante Margrete, daß Du mich zu Deiner Erbin einsetzen willst, aber ich glaube bestimmt, daß Du länger leben wirst als ich. Vielleicht sind meine Tage schon gezählt. Denke daran, wenn Du hörst, daß ich nicht mehr bin.“

Es waren auch einige andere schwerbelastende Dinge ans Licht gekommen. Ein Bauer aus der Umgebung von Lüneburg hatte in den Abendstunden ein Paar beobachtet, das auf einem Feldweg in der Richtung des großen Moores ging und sich heftig zu streiten schien. In der Heide, unweit der Moorfläche, hatten die Landjäger einen Seidenschal gefunden, in dem das Personal des Gasthofs in Lüneburg ein Tuch erkannte, das Frau Damm bei ihrem dortigen Aufenthalt getragen hatte. Auch Doktor Damm selbst mußte den Schal als Eigentum seiner Frau anerkennen. Die Hausgehilfin bei Damms bekundete, daß das eheliche Verhältnis zwischen den Gatten seit längerer Zeit getrübt war. Frau Damm hatte ihrem Gatten mehrfach heftige Vorwürfe gemacht über seine Freundschaft mit der Laborantin Ursula Helbis.

Hier gab es Christoph Kind einen Ruck. Ursula Helbis ... aber war das möglich? Eine Einundfünfzigjährige? Vielleicht handelte es sich um die Tochter der Dame, die bei ihm angerufen hatte? Aber hatte sie sich nicht selbst als Laborantin des Doktor Damm bezeichnet? Wie alt war denn dieser Doktor Damm eigentlich? Kind blätterte noch einmal die Zeitungen durch. Über das Alter des Verdächtigen war keine Angabe zu finden.

Jedenfalls war auf Grund all dieser Ermittlungen Doktor Damm in Untersuchungshaft genommen worden. Er selbst bestritt entschieden, über das Verschwinden seiner Frau irgend etwas zu wissen. Ebenso bestritt er, daß die Eifersucht seiner Frau begründet gewesen wäre. Sein Verhältnis zu Fräulein Helbis sei stets nur freundschaftlich gewesen. Befragt, ob er einen Selbstmord seiner Frau für möglich halte, sagte Doktor Damm entschieden, daß er dies für ausgeschlossen halte.

Dennoch wäre die Polizei geneigt gewesen, an einen Freitod zu glauben, wenn nicht zwei weitere Feststellungen Doktor Damm schwer belastet hätten. Erstens war es Doktor Damm unmöglich, nachzuweisen, welcher Art die Geschäfte waren, die ihn zu dem eiligen Verlassen Lüneburgs und zur Rückkehr nach Berlin zwangen, und zweitens hatten die von Berlin nach Lüneburg entsandten Kriminalbeamten bei einer Untersuchung des Gasthofes einen wichtigen Fund gemacht. In dem Sofa, auf dem das Ehepaar Damm in der Gaststube gesessen hatte, als es seinen Kaffee einnahm, entdeckte einer der Beamten zwischen Polster und Lehne eingeklemmt ein zerknülltes Papierchen, das offenbar als Umhüllung für ein Pulver gedient hatte. In den längst abgespülten Kaffeetassen waren natürlich keine Spuren mehr zu finden, aber die Untersuchung, die im Laboratorium der Kriminalpolizei angestellt wurde, ergab, daß das Papier winzige Spuren von Morphium enthielt. Die vorhandenen leichten Kniffe des Papiers wiesen darauf hin, daß es als Umhüllung für mehrere Morphiumtabletten in der handelsüblichen und auf ärztliches Attest hin verordneten Form diente. Damit gewann der Ausruf Frau Damms: „Du hast versucht, mich zu vergiften!“ eine ernste Bedeutung.

Doktor Damm war ein bisher unbescholtener, angesehener Gelehrter. Seine Vorgesetzten und Mitarbeiter im Laboratorium des Geheimrates Drusen stellten ihm sowohl als Mensch wie auch als Wissenschaftler ein glänzendes Zeugnis aus. Seine Vermögenslage war gut und durchaus geordnet. Doktor Damm verfügte neben seinem guten Gehalt über ein eigenes, nicht unbeträchtliches Vermögen, das sogar das Vermögen seiner Frau überstieg. Niemand hatte an ihm Neigung zu Verschwendung oder kostspieligen Liebhabereien bemerkt. Es erschien etwas merkwürdig, daß ein solcher Mann einen Versicherungsmord begangen haben sollte. Die Polizei neigte daher auch eher zu der Ansicht, eine Ehetragödie vor sich zu haben. Jedenfalls aber sprachen die Verdachtsmomente stark gegen Doktor Damm. Zur Zeit wurde fieberhaft nach der Verschwundenen gesucht. Aber wen die trügerische grüne Decke des Moores einmal verschluckt hatte, den gab sie nicht wieder her. Polizei und Öffentlichkeit vermuteten, daß Frau Imma Damm irgendwo unter der grundlosen Moorfläche der Ewigkeit entgegenschlief und die Zeitungen waren sich über die Schuld des Doktor Damm einig.

Christoph Kind trank nachdenklich noch einen Kognak. Er erinnerte sich jetzt, daß vor ein paar Tagen am Stammtisch auch über diesen Fall gesprochen wurde und daß zum Beispiel der Sanitätsrat Ebel von der Täterschaft des Doktor Damm überzeugt gewesen war. Es sah ja auch wirklich so aus, als ob es sich so verhielte. Die Aussagen des Kellners, die kürzlich abgeschlossene Versicherung, die Bekundung der Hausangestellten, das Morphium in der Sofaecke und nicht zuletzt das verdächtige Benehmen des Doktor Damm bei seiner Abreise von Lüneburg – das alles ließ eigentlich keinen Zweifel aufkommen.

Und nun hatte die Freundin Doktor Damms, Ursula Helbis, bei ihm angerufen und etwas von einem zerrissenen Seidenschal erzählt. Deshalb aber an Leopardenmenschen zu glauben, war Blödsinn! Freilich, Frau Damm war bei dem Anblick des ausgestopften Leoparden erschrocken, aber wer weiß, welche Erinnerung er in ihr auslöste. Wie sollten Leopardenmenschen in die Lüneburger Heide kommen? Ein Glück, daß Doktor Mohr, der alte Bekannte, die Sache bearbeitete. Ein anderer Beamter würde ihn grob anfahren, wenn er Dinge erzählte, die mit dem vorliegenden Fall gar nichts zu tun hatten. Mohr würde ihn höchstens furchtbar auslachen. Ob es überhaupt einen Sinn hatte, hinzugehen? Aber er hatte es versprochen, und ein wenig neugierig war er doch auf diese Frau Helbis, die sich da am Telefon so warm für Doktor Damm eingesetzt hatte. Außerdem interessierte ihn die ganze Sache allmählich.

Christoph Kind packte gähnend die Zeitungen zusammen und stellte bedauernd fest, daß er den Rest der Kognakflasche genehmigt hatte, während seine Gedanken dem Kriminalfall nachgingen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich nun doch ins Bett zu verfrachten. Trotz der nötigen Schwere konnte er lange nicht einschlafen. Seine Gedanken kreisten hartnäckig um Afrika, quälten ihn mit Erinnerungen an seine eigenen abenteuerlichen Erlebnisse mit Leopardenmenschen. Er sah sich selbst in dem fernen Urwalddorf nachts aus dem Schlaf auffahren, hörte den gellenden Schrei seines Hüttennachbars: „Zu Hilfe!!! Der Maghena hat meinen Vater geholt!“ Er dachte an die Stunde, da er, im Busch versteckt, dem grausigen Tanz der Leopardenmänner um den Bluttopf zusah. Jede Sekunde konnte er selbst entdeckt werden und unter den Messern und Keulen der Wilden enden. Dann sah er wieder die gefangenen Leopardenmenschen, die in schweren Ketten in das Gefängnis zu Kinshassa eingebracht wurden. Ganz deutlich sah er ihre Gesichter vor sich, diese starren, ausdruckslosen. Gesichter mit dem unheimlichen, raubtierhaften Blick.

„Verflucht und zugenäht! Schon drei Uhr!“

Christoph Kind griff nach dem Wecker und stellte ihn ein. Dann warf er sich auf die Seite, zog die Decke hoch ans Kinn und befahl sich energisch den Schlaf. Aber auch durch seine Träume geisterte noch der Maghena.

Maghena

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