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II Kommissar Mohr lacht nicht

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Christoph Kind vergewisserte sich durch einen Blick, daß er vor dem Portal II stand, und durch einen zweiten auf seine Armbanduhr, daß es Punkt elf war. Eben wollte er sich suchend umsehen, als eine junge Dame im dunkelgrauen Kostüm auf ihn zutrat.

„Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Herr Kind!“

„Bitte?“ Kind musterte überrascht die schlanke, feste Gestalt und das jugendlich frische, wenn auch schmale und fast zarte Gesicht. „Habe ich denn das Vergnügen mit ...“

„Mit Ursula Helbis – ja.“

„Die Stimme glaube ich allerdings wiederzuerkennen. Aber alle Achtung, Fräulein Helbis, für Ihre einundfünfzig Jahre haben Sie sich wirklich vorzüglich konserviert!“

„Verzeihen Sie die Notlüge. Wenn ich am Apparat gesagt hätte, daß ich vierundzwanzig bin, so würden Sie mich wahrscheinlich für ein Mädel gehalten haben, das mit Ihnen anbändeln möchte.“

„Wahrscheinlich wäre ich auch dann gekommen“, lachte er, „aber die Überraschung ist so natürlich größer. Ich hatte, offen gesagt, eine dolle Spinatwachtel erwartet, und sehe mich nun einer sehr reizenden jungen Dame gegenüber.“

„Danke für das Kompliment. Sie selbst sehen übrigens auch viel jünger aus, als ich Sie mir vorgestellt habe. Sie haben doch immerhin fünfzehn Jahre Afrika hinter sich ...“

„Wenn Sie bedenken, daß ich schon mit siebzehn Jahren nach Südwest ging, so kommen, trotz der Tatsache, daß ich seit drei Jahren wieder in der Heimat bin, nur die bescheidene Anzahl von fünfunddreißig Jährchen heraus. Aber nun verraten Sie mir um Gottes willen, wie Sie darauf verfallen sind, ausgerechnet mich anzurufen und meine Mitwirkung in einem Kriminalfall zu wünschen?“

„Sie waren nicht der erste.“ Ursula Helbis lächelte flüchtig, wurde jedoch sofort wieder ernst. „Ich hatte vorher schon versucht, alle Herren zu erreichen, die mir als Afrikaner durch Bücher oder Artikel bekannt waren. Herr Benthin war nicht im Telefonbuch aufzufinden, Herr von Osterode meldete sich nicht, Herr Reith war nicht zu erreichen. Sie waren der vorletzte in meiner Liste.“

„Schmeichelhaft. Aber ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen und bin eigentlich nur hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß meine Kenntnisse über Afrika Ihnen gar nichts nützen können. Ich habe gestern abend noch alles über den Fall Damm nachgelesen, was die Zeitungen gebracht haben, und die Überzeugung gewonnen, daß diese Geschichte nicht das geringste mit Afrika zu tun hat. Wollen wir nicht lieber gemütlich zusammen eine Tasse Kaffee trinken? Oder bestehen Sie immer noch darauf, daß ich mit Ihnen in dies Haus da hineingehe und Doktor Mohr eine Räubergeschichte über Leopardenmenschen auftische?“

Ursula Helbis sah ihn aus großen Augen an. Diese Augen waren von einem tiefen, dunklen Blau, sie erschienen fast schwarz. „Sie haben mir versprochen, das zu tun, Herr Kind! Und wieso: Räubergeschichte? Sie sagten mir doch, daß alles auf Tatsachen beruht??“

„Herrgott, ja, natürlich. Aber an so etwas in Deutschland zu denken ist absurd. Doktor Mohr wird mich gräßlich auslachen.“

„Ich werde ihm sagen, daß ich es war, die Sie dazu veranlaßt hat. Ich bitte Sie herzlich, Herr Kind, lassen Sie mich nicht im Stich!“

„Wenn Sie unbedingt wollen ...“ Kind seufzte und wandte sich dem Portal zu. In der halbdunklen, breiten Torwölbung blieb er noch einmal stehen. „Eine Frage noch, Fräulein Helbis, die ich mir aufrichtig zu beantworten bitte: Sie stehen in ... näheren Beziehungen zu Doktor Damm?“

Ursula Helbis schloß einen Augenblick den schmalen Mund fester. Dann sah sie auf: „Nicht in dem Sinn, wie Sie denken, Herr Kind. Ich weiß, daß die Zeitungen geschrieben haben, ich sei die Geliebte Doktor Damms. Das ist nicht wahr. Zwischen ihm und mir besteht nichts als eine herzliche Kameradschaft, die im täglichen Zusammenarbeiten gewachsen ist. Frau Damm war auf mich eifersüchtig, das ist wahr. Sie hat eine Zeitlang befürchtet, unsere Freundschaft sei mehr, als sie sein dürfte. Zum Glück aber konnte ich sie vom Gegenteil überzeugen. Frau Damm war so vernünftig, mich in meiner Wohnung aufzusuchen und sich offen mit mir auszusprechen.“

„Das war an dem Tag, an welchem sie vor dem Leopardenkopf so erschrak?“

„Ja. Darum ist mir ihr Verschwinden so unerklärlich. Frau Damm wußte seit jenem Besuch bei mir, daß ihre Eifersucht unbegründet war. Sie hatte also gar keine Veranlassung, sich das Leben zu nehmen. Noch weniger hatte Doktor Damm einen Grund, seine Frau zu töten, da tatsächlich zwischen ihm und mir nie etwas bestanden hat.“

„Und die Sache mit der Versicherung?“

Ein zorniger Blick schoß aus den dunklen Augen des Mädchens. „Ich kenne Doktor Damm seit Jahren. Ihm eine solche Schmutzigkeit zutrauen, das kann nur ein sehr gemeiner oder ein ganz dummer Mensch.“

„Ihre Menschenkenntnis in Ehren, aber ... na, wir wollen mal in Ruhe mit Doktor Mohr darüber sprechen.“

Sie mußten auf einer Bank in einem der langen Gänge etwa dreiviertel Stunden warten, bis der vielbeschäftigte Kriminalkommissar sich freimachen konnte. Sie sprachen während dieser Zeit nicht viel, und wenn, nur Belangloses miteinander, aber Christoph Kind musterte des öfteren verstohlen seine Begleiterin. Der Kontrast der dunkelblauen Augen zu dem ganz hellen Haar, das in weichen Wellen fast bis auf die Schultern hing, frappierte ihn. Die gerade, feingemeißelte Nase wäre klassisch schön gewesen, wenn sie nicht ganz zum Schluß einen lustigen kleinen Satz nach oben gemacht hätte. Einen ganz kleinen, winzigen Satz, aber der verlieh ihrem sonst so ernsten Gesicht einen Schimmer von Fröhlichkeit. Der schmale, schöngezeichnete Mund war traurig, und Christoph Kind verspürte plötzlich den Wunsch, ihn zum Lächeln zu bringen, nur um zu sehen, wie sich dieses Lächeln mit dem lustigen Satz der Nase vertragen hätte.

Endlich erschien Doktor Mohr selbst in der Tür, die auf einem kleinen Schild seinen Namen trug. Er lud Fräulein Helbis höflich ein, näher zu treten, und heftete dann seinen Blick erstaunt auf ihren Begleiter.

„Sieh da! Kindchen! Wollen Sie auch zu mir?“

„Ich bin mit Fräulein Helbis gekommen, lieber Doktor Mohr.“

Ein rascher Blick des Kommissars ging zwischen den beiden hin und her. Ausnahmsweise war Doktor Mohr wirklich einmal erstaunt. „Ich hatte keine Ahnung, daß Sie mit Fräulein Helbis bekannt sind, Kind. Aber bitte, kommen Sie doch herein!“

Dann saßen sie in dem nüchternen Dienstzimmer vor dem Kriminalkommissar, der rasch noch ein paar Unterschriften erledigte und dem wartenden Assistenten die Akten übergab.

„So, nun stehe ich zu Ihrer Verfügung. Es handelt sich ja wohl um den Fall Damm?“

„Zunächst muß ich Ihnen erzählen, wieso ich eigentlich hierherkomme“, begann Christoph Kind und gab einen ausführlichen Bericht des gestrigen Telefongesprächs. Bei der Erwähnung der Leopardenmänner lächelte er den Kommissar entschuldigend an und wählte seine Worte so, daß sie deutlich besagten: er, Christoph Kind, sei natürlich weit davon entfernt, diese afrikanischen Abenteuer in Verbindung mit dem vorliegenden Kriminalfall zu bringen. Diese sonderbare Idee gehe auf das Schuldkonto des Fräulein Helbis. Christoph Kind erwartete jeden Augenblick, daß Kommissar Mohr ihn ungeduldig unterbrechen oder herzlich auslachen werde. Zu seiner Verwunderung tat Doktor Mohr weder das eine noch das andere.

„Tolle Sache“, meinte er nur, als Kind geendet hatte. „Von den Leopardenmännern hab’ ich allerdings auch mal gelesen. Haben Sie die Brüder wirklich kennengelernt, Kindchen?“

„Sogar in voller Tätigkeit!“ Wenn die Rede auf Afrika kam, pflegte Christoph Kind aufgeschlossen zu werden. Auch jetzt war er bald, ohne es zu wollen, mitten in einer ausführlichen Beschreibung seiner Erfahrungen und Abenteuer und hatte den „Fall Damm“ gänzlich vergessen, bis ihm plötzlich zum Bewußtsein kam, daß er schon eine Viertelstunde von Afrika erzählte, hier in diesem kühlen Dienstzimmer, in dem Kommissar Mohr doch sicher andere, wichtigere Dinge zu tun hatte, als über die Sitten und Gebräuche ferner Negerstämme zu palavern. Schuldbewußt hielt er inne und sah den ruhig dasitzenden Beamten wie um Entschuldigung bittend an.

Doktor Mohr lachte noch immer nicht. Im Gegenteil, sein Gesicht war viel ernster als zu Beginn der Unterhaltung.

„Das ist alles sehr interessant, Kind, und bei Gelegenheit müssen Sie mir noch mehr davon erzählen.“ Dann wandte er langsam, fast nachdenklich den Kopf zu Ursula Helbis, die schweigend zugehört hatte. „Frau Damm erschrak also sichtlich beim Anblick des Leopardenkopfes? Warum haben Sie mir das bisher noch nicht gesagt?“

„Ich dachte gar nicht mehr daran, Herr Kommissar. Es stand ja anscheinend auch in gar keiner Verbindung mit den furchtbaren Dingen, die sich nachher abspielten. Erst gestern, als ich mir wieder den Kopf zermarterte, um hinter das Rätsel zu kommen, tauchte in mir die Erinnerung an dieses tödliche Erschrecken auf, und da beschloß ich, einen Afrika-Spezialisten um Rat zu fragen, mehr aus Instinkt als aus logischer Folgerung.“

„Es wäre richtiger gewesen, wenn Sie mich angerufen hätten, Fräulein Helbis“, meinte Doktor Mohr. „Wir hätten dann schon selber unsere Experten zu Rat gezogen.“

„Verzeihen Sie, Herr Kommissar. Es war ja nur eine vage Vermutung von mir, daß ein Zusammenhang bestehen könnte, und ich konnte nicht ahnen, daß Sie sich auf Grund der bloßen Mitteilung hin mit der Sache beschäftigen würden.“

Doktor Mohr spielte mit einem Bleistift und blickte ein paar Sekunden lang schweigend vor sich hin. „Doch“, sagte er dann ernst und hob den Kopf, seine Besucher anschauend, „ich hätte mich bestimmt damit beschäftigt. Sehr energisch sogar.“

„Also das begreife ich nicht!“ Christoph Kind starrte ihn mehr als erstaunt an. „Wenn Sie, Doktor Mohr, sich tatsächlich mit dieser mehr als an den Haaren herbeigezogenen Verbindung zwischen den Leopardenmenschen und dem Mord an Frau Damm beschäftigen, dann ... dann glaube ich selbst schon bald alles, was Fräulein Helbis für möglich hält. Sogar, daß dieser Doktor Damm unschuldig ist.“

„Nun, das eine ergibt sich nicht unbedingt aus dem anderen. Aber es ist gut, daß Sie mich auf Doktor Damm bringen, Kindchen. Ich möchte da gleich ein paar Fragen an Fräulein Helbis stellen. Hat Doktor Damm Ihnen jemals etwas von der Lebensversicherung gesagt?“

„Nein, kein Wort. Warum sollte er das auch? Es war doch eine Sache, die nur ihn und seine Frau etwas anging.“

„Sehr schade. Sie können also in diesem Punkt nicht als Entlastungszeugin dienen. Doktor Damm behauptet nämlich, er habe seine Frau auf deren eigenen, ausdrücklichen Wunsch so hoch versichert. Wenn er einen Zeugen dafür hätte, wäre das für ihn von großem Vorteil.“

„Nein, leider weiß ich nichts darüber.“

„Dann noch eine andere Frage: Haben Sie etwas von Lebensüberdruß an Frau Damm bemerkt? Hat sie Ihnen irgend etwas gesagt, das auf Selbstmordabsichten schließen läßt? Oder hat Doktor Damm etwas darüber geäußert?“

„Auch das kann ich nur verneinen, Herr Kommissar. Doktor Damm sprach nur selten mit mir über seine Frau. Auch als Frau Damm mich besuchte, habe ich nichts von Lebensüberdruß bemerkt. Da war nur dieses sonderbare Erschrecken.“

„Bei Ihrer Vernehmung haben Sie angegeben, daß Doktor Damm die Absicht hatte, den Urlaub mit seiner Frau am Rhein zu verbringen?“

„Ja, so sagte er mir.“

„Es ist dies auch von anderer Seite ausgesagt worden. Die Hausangestellte Erna Schulte hat erklärt, Doktor Damm habe in ihrer Gegenwart seiner Frau vorgeschlagen, an den Rhein zu fahren. Frau Damm hatte erst gar keine Lust dazu, ließ sich dann aber doch überreden. Finden Sie es nicht merkwürdig, daß die beiden dann plötzlich nach Lüneburg fuhren?“

„Sie werden sich unterwegs anders entschlossen haben.“

„Ja, so sagt auch Doktor Damm. Er behauptet sogar, seine Frau sei es gewesen, die diese Programmänderung durchgesetzt habe. Merkwürdig –“ Doktor Mohr richtete jetzt seine Worte fast mehr an Christoph Kind, als an Ursula Helbis. „Trotz aller Bemühungen haben wir bisher keinerlei Beziehungen zwischen Damms und Lüneburg oder der Lüneburger Heide herauskriegen können. Keiner von beiden ist jemals früher dort gewesen. Sie haben auch keine Bekannten in der Gegend. Was, zum Kuckuck, konnte Frau Damm veranlassen, eine Fahrt an den Rhein abzubrechen und statt dessen in die Lüneburger Heide zu fahren? Im Vergleich mit dem Rhein bietet sie doch wesentlich geringere Reize.“

„Sie halten also die Behauptung Doktor Damms für unglaubhaft?“

„Ziemlich. Aber – und das ist ja eben der Haken – auch die Vermutung, Damm habe seine Frau nach Lüneburg gefahren, um sie vorsätzlich umzubringen, will mir nicht einleuchten. Er ist völlig unbekannt in der Gegend. Die Heide ist groß. Ein Moorloch zu finden, das für einen solchen verbrecherischen Zweck geeignet wäre, ist nicht so ohne weiteres möglich. Wenigstens nicht für einen Menschen, der ortsunkundig ist. Um Auskunft hat Doktor Damm niemand gefragt. Das hätten wir längst festgestellt.“ Doktor Mohr machte eine Pause und trommelte mit den Fingern auf einem Aktenband. „Wenn ich herausbekäme, daß Doktor Damm die Gegend doch kennt, hätten wir einen Anhaltspunkt. Außerdem eine unwahre Aussage.“

„Doktor Damm ist unschuldig!!“

Der Kommissar wandte sich wieder Ursula Helbis zu und sah ihr freundlich in die dunkel-blitzenden Augen. „Wir wollen es hoffen, Fräulein Helbis. Aber wenn ich Ihnen etwas raten darf, schreien Sie Ihren schönen Glauben nicht bei jeder Gelegenheit heraus! Es gibt eine Menge Leute, welche die Ansicht verfechten, man müsse Sie als eventuelle Helferin Doktor Damms in Untersuchung nehmen.“

„Tun Sie es doch, wenn das Ihre Ansicht ist! Auf einen Unschuldigen mehr oder weniger kommt es schon nicht mehr an.“ Ursula hatte alle Sachlichkeit verloren, ihre Lippen zitterten leise vor Empörung.

Doktor Mohr lächelte gutmütig. „Nicht ausfallend werden, Fräulein Helbis! Sie wissen doch, wie ich zu Ihnen stehe! Ich habe es Ihnen beim ersten Verhör offen gesagt. Wenn ich persönlich nicht davon überzeugt wäre, daß Sie mit dem Verbrechen nichts zu tun haben, hätte ich Sie natürlich längst in Gewahrsam genommen. Aber es spricht bis jetzt nichts gegen Sie, warum sollte ich also zweifeln? Ob Sie nun, wie Sie selber sagen, mit Doktor Damm nur kameradschaftlich befreundet waren, oder ob Sie in engeren Beziehungen zu ihm standen ...“

„Ich hatte kein Verhältnis mit Doktor Damm!!“

„Jedenfalls würde auch das meine Überzeugung nicht ändern“, fuhr Doktor Mohr ruhig fort. „Der Rat, den ich Ihnen vorhin gab, bezieht sich nur auf gewisse Stimmen der Öffentlichkeit, die leider geneigt sind, Sie als Mithelferin Damms zu verurteilen.“

„Das ist mir gleichgültig, Herr Kommissar!“

„Fräulein Helbis läßt sich durch nichts beirren“, wandte sich Doktor Mohr wieder an Kind. „Seit Doktor Damm in Haft ist, kämpft sie wie eine Löwin für ihn. Jedenfalls ist ihre Idee von den Leopardenmenschen von ungeheurer Wichtigkeit und Tragweite.“

Christoph Kind war immer noch unsicher. „Lieber Mohr, ich habe den Eindruck, daß Sie sich ziemlich lustig über uns machen.“

„Sie haben diesen Eindruck sehr zu Unrecht, Kind. In dienstlichen Angelegenheiten scherze ich nie. Und die vorliegende Sache wäre wohl auch zu Späßen schlecht geeignet. In vollem Ernst also: Das Moment, welches Fräulein Helbis angeführt hat, nämlich die hakenartigen Risse in dem Schal Frau Damms, ist schon seit einer Woche das Problem, um welches unsere ganze Arbeit fieberhaft kreist. Ich bin leider nicht berechtigt, Ihnen Einsicht in die Dienstakten zu geben, sonst könnte ich Ihnen schwarz auf weiß zeigen, wie intensiv wir uns gerade damit beschäftigt haben.“

„Ja ... ist denn aber dieser zerrissene Schal für die Aufklärung so wichtig?“

„Es handelt sich nicht nur um den Fall Damm. Die Sache zieht bedeutend weitere Kreise.“ Doktor Mohr sah einen Augenblick wie überlegend vor sich hin, dann fuhr er entschlossen und ernst fort: „Ist Ihnen der Fall Nesso bekannt?“

„Ich wüßte nicht.“

„Am 23. August dieses Jahres wurde ein Doktor Nesso und seine neunzehnjährige Tochter in ihrer Wohnung in Aachen ermordet aufgefunden.“

„Ach ja, ich erinnere mich dunkel, etwas davon in den Zeitungen gelesen zu haben. Nun – und?“

„Es lag Raubmord vor. Die Wohnung war durchwühlt, Geld, Schmucksachen und Aufzeichnungen gestohlen. Die Fußspuren deuteten auf mehrere Täter hin. Nun, das hat alles in den Blättern gestanden. Was aber bisher niemand, außer der Polizei, weiß, ist, daß die Kleider der Ermordeten von einem Haken oder einer Kralle zerrissen waren. Auch am Hals des Mädchens fanden sich mehrere Wunden, die mit einem solchen Instrument beigebracht worden sein müssen. Was sagen Sie nun, Kind?“

„Das ist allerdings seltsam. Und Sie meinen nun ...“

„Vorläufig meine ich, daß es gut sein wird, wenn die Öffentlichkeit nicht erfährt, daß wir uns mit dieser Haken- oder Krallenspur beschäftigen. Ich muß Sie daher beide darum bitten, das, was ich Ihnen eben anvertraute, als Dienstgeheimnis zu behandeln. Nach dieser Eröffnung würden Sie sich strafbar machen, wenn Sie einem Dritten davon erzählten.“

„Ich werde gewiß nichts sagen“, beteuerte Ursula Helbis erregt.

„Diskretion ist Ehrensache“, versicherte Christoph Kind ebenfalls. „Aber sagen Sie, lieber Mohr, aus welchem Grunde hat die Polizei diese ... diese sonderbare Spur verheimlicht?“

„Bravo, Kindchen, Sie legen den Finger an den rechten Punkt. Wir hatten allerdings einen triftigen Grund, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen. Wir hoffen nämlich, durch diese Spur dem Rätsel einer ganzen Reihe von ungeklärten Mordtaten nahe zu kommen. Soviel ich weiß, interessieren Sie sich nicht sonderlich für Kriminalfälle und werden daher kaum Notiz genommen haben von einem anderen Geschehnis, das ich in Verbindung bringe. Am 25. Juni fand man in ihrem Haus in einem Vorort von Paris das jungvermählte Ehepaar Dubois ermordet auf. Auch in diesem Fall die Fuß- und Krallenspuren, wie bei dem in Aachen begangenen Mord an Doktor Nesso und seiner Tochter und wie im Fall Damm. Wunden und Risse von einem Instrument, das man als spitzen, gebogenen Haken oder eine Art Kralle bezeichnen muß.“

„Aber diese Geschehnisse liegen doch räumlich so weit auseinander, daß sie schwerlich von ein und derselben Person ausgeführt sein können!“

„Unmöglich wäre das nicht, lieber Kind, wenn man die Daten in Betracht zieht. Es haben sich auch noch mehr Ähnlichkeiten gezeigt. Fußspuren, die von mehreren Personen herrühren. Die Polizei in Paris glaubt daher an die Tätigkeit einer Verbrecherbande. Bisher ist es ihr jedoch nicht gelungen, den oder die Täter zu fassen.“

Christoph Kind beugte sich interessiert vor: „Und nun glauben Sie ... die Leopardenmänner ...?“

„Vielleicht ist es blinder Alarm“, sagte Doktor Mohr sachlich. „Wir wollen nicht vorschnell urteilen. Aber wichtig ist die Sache. Bisher haben wir völlig im Dunkeln getappt. Wir sowohl wie die Pariser Polizei. Nur durch einen Zufall wurde uns das Aktenmaterial über den Fall Dubois zugesandt, da einige Spuren nach Deutschland wiesen. Die Sachverständigen haben die genaue Art des verwendeten Instrumentes nicht herausfinden können. Da die Verbrecher im übrigen mit Dolch und Revolver arbeiteten, so scheint es sich bei diesen sonderbaren Wunden um etwas Ähnliches wie ein Geheimzeichen zu handeln. Wie gesagt, wir hatten bisher keine brauchbare Theorie darüber. Nun aber ...“ Doktor Mohr atmete tief auf, „... nun will mir scheinen, als ob Fräulein Helbis uns auf eine Spur gebracht hat. Ein wahres Glück, daß ihr die Beobachtung des Erschreckens Frau Damms nicht aus dem Gedächtnis entschwunden war. Wenn sie sich allerdings nicht mit Ihnen in Verbindung gesetzt hätte, lieber Kind, hätte wohl kein Mensch an die Leopardenmenschen gedacht.“

„Also war es doch gut, daß ich Herrn Kind anrief?“ warf Ursula dazwischen und lächelte ein klein wenig.

„Im Prinzip, ja. Wir haben nun zum mindesten eine neue Theorie.“

„Aber wie sollten diese Kerle nach Europa kommen? Was sollten sie hier suchen? Vor allem aber: eine Bande dieser Neger müßte doch auffallen und leicht zu ermitteln sein!“

„Es braucht keine Bande zu sein, lieber Kind. Aber kann nicht ein solch schwarzer Halunke nach Europa gekommen sein und sich irgendeiner Verbrecherbande angeschlossen haben?“

„Das ... wäre natürlich möglich.“

„Sehen Sie! Außerdem bitte ich Sie, zu bedenken: Bisher hat niemand einen Verdacht in dieser Richtung gehabt. Die Polizei hat also auch gar nicht auf Schwarze geachtet oder gar nach solchen gefahndet. Nun, das wird von jetzt ab anders werden.“

„Mir wirbelt noch immer der Kopf. Sie halten also wirklich an diesem ... Märchen fest, Doktor Mohr?“

„Ich ziehe das Märchen jedenfalls mit in Betracht. Es gibt unleugbar einige Anzeichen, die auf Afrika hindeuten könnten. Frau Damm war früher in Afrika und erschrak – wenn wir Fräulein Helbis glauben dürfen, sogar furchtbar – beim Anblick des Leopardenkopfes. Sollte mich nicht wundern, wenn wir demnächst bei weiteren Ermittlungen darauf stoßen, daß auch die anderen Opfer der ‚Klaue‘ irgendwie in Verbindung mit Afrika stehen oder gestanden haben.“

„Aber dann ... wenn Sie annehmen, daß all diese schrecklichen Verbrechen aus einer Quelle stammen ...“ Ursula Helbis hob erregt und hoffnungsvoll den Kopf ... „dann kann Doktor Damm doch nicht der Täter sein! Er ist weder in Paris noch in Aachen gewesen, hat überhaupt in den letzten drei Jahren Berlin nicht verlassen. Er gönnte sich bis zu jener letzten Reise keinen Urlaub. Das ist doch leicht nachzuweisen!“

„Ich könnte Ihnen erwidern“, sagte Doktor Mohr lächelnd, „daß Doktor Damm nicht notwendigerweise in allen drei Fällen der Täter zu sein braucht. Er kann ein einzelnes Mitglied der Bande sein. Aber ich will mal nett und ehrlich sein und Ihnen offen gestehen, daß gerade dies der Grund ist, warum ich, im Gegensatz zu meinen Kollegen, nicht hundertprozentig davon überzeugt bin, daß Doktor Damm seine Frau ermordet hat. Es liegen schwere Verdachtsgründe gegen ihn vor, gewiß, und an eine Haftentlassung wird vorläufig nicht zu denken sein. Ich müßte sie selber ablehnen. Aber trotzdem – überzeugt bin ich noch nicht davon, daß er der Täter ist.“

Christoph Kind war noch immer wie vor den Kopf geschlagen. „Wenn ich Sie nicht genau kennte, Mohr, so würde ich fragen, ob Sie in letzter Zeit zuviel Kriminalromane gelesen haben. Ist ja haarsträubend. Wenn ich mir vorstellen soll, daß hier in Deutschland die Leopardenmenschen Leute abschlachten, dann... kein Mensch würde das glauben!“

„Jedenfalls ersuche ich Sie beide nochmals um äußerste Verschwiegenheit. Ihnen, Kindchen, fällt das ja nicht weiter schwer, und Sie, Fräulein Helbis, haben ja offenbar das größte Interesse daran, Doktor Damms Unschuld zu beweisen. Wir kommen aber nur dann weiter, wenn der oder die Täter vollkommen im unklaren darüber bleiben, daß wir eine neue Spur aufgenommen haben.“

„Darf man fragen, was Sie nun in der Sache zu unternehmen gedenken?“ fragte Kind interessiert.

„Arbeit genug, lieber Freund. Gesichtspunkt: Afrika! Ich werde veranlassen, daß Paris Ermittlungen anstellt, ob das Ehepaar Dubois irgendwelche Beziehungen zu dem dunklen Erdteil hatte. Aachen muß in ähnlicher Weise recherchieren, und ich persönlich werde genau festzustellen versuchen, wie weit die Verbindungen Frau Damms zu Afrika gingen. Außerdem aber möchte ich Sie, lieber Kind, für die Mitarbeit an der Aufklärung dieser geheimnisvollen Verbrechen gewinnen.“

„Mich? Machen Sie keine Scherze, Mohr! Ich habe gar kein Talent zum Detektiv.“

„Brauchen Sie auch nicht. Gesunder Menschenverstand genügt. Na, und daß Sie den haben, bewiesen Sie in der Betrugssache Zöller. Ihre Vermutung erwies sich damals als vollkommen richtig.“

„Na ja, damals habe ich recht behalten, aber ...“

„Kein Aber. Damals sagten Sie mir privatim und ungefragt Ihre Meinung. Heute brauchen wir Sie. Wie der Fall jetzt liegt, kann ein erfahrener Kenner Afrikas uns von großem Wert bei unserer Arbeit sein. Also seien Sie ein gutes Kind und schlagen Sie ein!“

Christoph Kind zögerte noch. Aber Ursula Helbis’ Augen, die bittend und vertrauensvoll an seinem Gesicht hingen, gaben den Ausschlag.

„Gut“, erklärte er entschieden. „Wenn Sie wirklich an Leopardenmenschen glauben, interessiert mich die Sache natürlich ohnehin. Und solange ich noch Zeit habe, stehe ich zu Ihrer Verfügung.“

„Ich dachte, Sie haben immer Zeit, Kindchen? Ihre schriftstellerischen Arbeiten erledigen Sie doch bei Ihrer Begabung so nebenbei?“

„Schöne Meinung haben Sie von meiner Arbeit!“ lachte Kind. „Ich arbeite so ziemlich zwölf Stunden am Tag, nur mache ich kein Wesen daraus und habe für Freunde immer Zeit. Aber abgesehen davon – voraussichtlich fahre ich in Kürze wieder nach Afrika.“

„Oh!“ Ursula Helbis stieß einen kleinen, erschrockenen Laut aus. „Und wovon hängt das ab?“

„Nur von meiner ... wie soll ich sagen? ... Berufung. Ich warte täglich auf die Order der Hamburger Firma, die mich wieder einmal zum Einkauf hinunterschicken will.“

„Aber vielleicht –“ Ursula zögerte und fuhr dann schnell fort: „Vielleicht fahren Sie doch erst, wenn es sich herausgestellt hat, daß Doktor Damm unschuldig ist.“

Christoph sah sie aufmerksam an. ‚Wieviel ihr an diesem Damm liegt‘, dachte er. Dann sagte er laut: „Wir werden sehen, wie weit wir kommen. Was wünschen Sie, das ich tun soll, Mohr?“ „Zunächst mal sollen Sie sich zu Hause hinsetzen und mir eine ausführliche Abhandlung über diese Leopardenmenschen schreiben. Alles, was Sie darüber wissen. Und dann ... haben Sie persönlich in Afrika ein Opfer dieser Sekte oder Bande gesehen? Ja? Dann werde ich dafür sorgen, daß Ihnen Fotos von einem der Opfer vorgelegt werden, auf denen die ‚Krallenspuren‘ besonders deutlich zu sehen sind.“

„Ich werde mehr tun, Doktor Mohr, ich werde mich im ganzen Dorf Berlin umtun, ob und wo sich zur Zeit Neger aufhalten. Dann werde ich mir gegebenenfalls die schwarzen Jungen ansehen und ihnen auf den Zahn fühlen.“

„Letzteres überlassen Sie lieber uns, aber sonst ausgezeichnet. Etwas Ähnliches habe ich selber vor. Aber jeder für sich. Wir arbeiten einzeln und vergleichen später unsere Ergebnisse. Damit Sie im Bilde sind, werde ich Ihnen noch heute eine kurze Zusammenstellung der Mordfälle und einige Angaben über das bisherige Ergebnis der Untersuchungen zukommen lassen. Ich muß nur erst solch eine Aufstellung diktieren, denn die amtlichen Aktenstücke kann ich Ihnen natürlich nicht aushändigen.“ „Und ich?“ fragte Ursula Helbis atemlos vor Erregung. „Kann ich denn gar nichts tun?“

Doktor Mohr lächelte. „Doch, Fräulein Helbis, Sie können zum Beispiel Herrn Kind heute nachmittag zu einer Tasse Tee einladen und ihm bei dieser Gelegenheit den Leopardenkopf zeigen. Sonst brauchen Sie wirklich nichts mehr zu tun, denn Sie haben schon etwas getan, indem Sie uns auf die Spur brachten. Das ist mehr, viel mehr, als Sie glauben. Warum ich Ihre Idee für so wichtig halte, das habe ich Ihnen bisher noch nicht gesagt.“

„Noch etwas?“ rief Kind erstaunt.

„Ja“, erwiderte Doktor Mohr ernst. „Das Allerwichtigste. Die Klauenspuren, die übereinstimmenden Anzeichen bei all diesen Verbrechen, die Verbindung Frau Damms mit Afrika, das sind vorläufig nur vage Indizien. Aber vorhin, als Kind mir von den Leopardenmännern erzählte, da hatte ich ein ganz bestimmtes Gefühl. Das unabweisbare Gefühl, das für einen Kriminalisten wichtiger ist als die schönsten Indizien. Ich wußte in diesem Augenblick: das ist der Schlüssel! Nicht nur zum Fall Damm, sondern auch zu den anderen Verbrechen. Gucken Sie mich nicht so ungläubig an, Kindchen! Ich bin wahrhaftig kein Phantast oder Romantiker. Nee, kann mir mein Feind nicht nachsagen. Aber ich behaupte und bleibe dabei: wer dieses Gefühl, diesen sechsten Sinn nicht hat, der soll in Gottes Namen seinen Abschied nehmen von der Kriminalpolizei und sich irgendeinem anderen Beruf widmen. – Auf Wiedersehn denn! Die Arbeit brennt mir auf den Nägeln. Halten Sie mich auf dem Laufenden, Kind, und vergessen Sie nicht: Vorsicht und Verschwiegenheit!“

Doktor Mohr reichte seinen Besuchern die Hand und blieb aufrecht hinter seinem Schreibtisch stehen, bis Kind und Ursula Helbis das Zimmer verlassen hatten. Seine linke Hand drückte dabei unauffällig zweimal auf einen unter der Schreibtischplatte angebrachten Klingelknopf. Das hieß für den diensthabenden Beamten draußen: Der Besuch darf das Haus verlassen.

Dann öffnete Doktor Mohr die Tür zum Nebenzimmer und rief seinen Assistenten herein. „Heute nachmittag 16 Uhr Doktor Damm zur Vernehmung.“

„Doktor Damm zur Vernehmung.“

„Das von Paris eingesandte Aktenmaterial über den Fall Dubois und unsere eigenen Akten über die Mordsache Nesso möchte ich herhaben.“

„Jawohl, Herr Kommissar. Und die Helbis?“

„Bleibt weiter unter Beobachtung. Keine neuen Instruktionen an den Außendienst. Und rufen Sie mir mal Fräulein Äukens herüber. Ich möchte etwas diktieren.“

Maghena

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