Читать книгу Alpträume in Norwegen - Axel Weiß - Страница 4
1. Kapitel: Matilde
ОглавлениеDer Verhörraum, in den sie Matilde geleitet hatten, besaß nicht einmal Strom, einzig Petroleumlampen, und sie fand, das sprach ein deutliches Urteil über die Situation. Ihre erste Zigarette beruhigte die Nerven, nach der zweiten wusste sie, dass es keine Schwierigkeiten geben würde. Vor ihr saßen zwei überarbeitete Norweger, strubbelige Bärte, zerzaustes Haar.
Hans flüsterte ihr zu, dass sie nur vorgaben, die Kontrolle zu haben. Dabei schien das Ausmaß des Unglücks derart verheerend, dass die psychischen und materiellen Schäden in einer Nacht kaum zu bewältigen waren.
Polizeiarbeit? Spurensicherung? Matilde schätzte, dass mehr Passagiere in jenem verhängnisvollen Zug gesessen haben mussten, als es Einwohner in Lom gab. Jeder von ihnen mit einer eigenen Geschichte des Alptraums. Dazu kam das Bahnpersonal. Nein, diese Tragödie, deren Startschuss sie selbst gegeben hatte, würde niemals zufriedenstellend aufgeklärt werden. Die letzte Station der Reise bestimmt jeder für sich. Dank Hans war sie sich sicher, ihr Reiseziel zu kennen. Das war sie ihm schuldig.
„Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“ Sie zog an ihrer Zigarette. Einer der Polizisten nahm für einen Moment den Bleistift von seinem Block und blickte auf. Der andere nickte. „Dieser Zug … die Menschen, die sich in ihm befanden … was geschieht mit ihnen? Nach den Vernehmungen?“
„God fru“, setzte der eine an und fuhr sich durch den Bart. Er schüttelte den Kopf und sagte: „Wir tun unser Bestes. Die Passagiere stammen aus allen Ländern der Welt. Wir schätzen, es gibt mindestens ein halbes Dutzend Tote, doppelt so viele Verletzte, einige von ihnen schwer. Das Feuer, die Notbremsung, die Schüsse. Dergleichen gab es noch nie in unserer Gegend.“ Er hob die Hände so, als solle sie ihm erklären, was zu tun war.
Gibt es hier überhaupt ein Krankenhaus?, schoss es Matilde durch den Kopf. Und wenn ja, wie gut ist es ausgestattet?
„Wir können im Moment nicht viel mehr tun, als die Zeugen zu vernehmen.“ Sein Partner taxierte sie mit einem wenig überzeugten Blick. „Sie können uns helfen, den Hergang der Katastrophe aufzuklären. Alle Informationen können wichtig sein.“
Matilde inhalierte tief und entließ den Rauch, der ihre Züge verschleierte.
Auf ihren Reisen von ihrer toskanischen Heimatstadt Viareggio aus hatte sie viele Menschen getroffen, deren Bekanntschaft sie lieber gemisst hätte. Vor dem Großen Krieg, das berichtete man ihr, war man Höflichkeit und Integrität begegnet; danach verrauchte das Gas der Schützengräben in den Köpfen der Menschen allzu langsam. Sie stimmte dem zu. Deshalb war sie meistens allein unterwegs.
„Für eine junge Frau haben Sie ein ziemlich schweres Kaliber in Ihrem Gepäck …“
„Sie meinen mein Gewehr ‚John‘? Heutzutage lässt sich eine junge Frau nicht mehr alles gefallen.“ Sie zwinkerte. Neben ihr lächelte Hans über ihre Bemerkung, und ihr Herz schlug schneller. „Ich bin Jägerin und kam zur Pelzjagd nach Norwegen. Ich hatte gehört, hier gäbe es mehr als Bären und Wölfe und Hasen … Auch Trolle … und Riesen … und anderes … Dafür brauche ich ein großes Kaliber, finden Sie nicht?“
Die Männer ihr gegenüber wechselten Blicke, bis sie merkten, dass es sich um einen Scherz handeln musste.
Matilde lachte, ohne ihre Reaktionen aus den Augen zu lassen.
Einer der beiden setzte an: „Im Zug machten sie die Bekanntschaft mit einem Schweizer, der sich Ihnen als Hans Schmidt vorstellte …“
„Oh, ja.“ Sie zwang sich, gelassen zu wirken. „Auch er war bereits eine Weile unterwegs gewesen. Allerdings bekamen wir kaum die Gelegenheit, uns über seine Reisen auszutauschen, da er nach kurzer Zeit … wie soll ich sagen … indisponiert war.“ Ihre Gedanken drifteten ab zu ihrer ersten Begegnung mit Hans …
„God aften. Enslig? Schmidt. Hans Schmidt. Kan jeg holde selskap?“
Mit neugierigem Blick hatte sie sich am Bahnsteig umgedreht und eine schlanke Gestalt mit hochgekrempelten Hemdsärmeln gesehen. Draußen mussten minus zwölf Grad Celsius gewesen sein, und er lief leicht bekleidet herum! Matilde hatte es nicht fassen können und ihr Gegenüber interessiert betrachtet: Sein Haar war nach hinten gekämmt, seine Stirn in leicht arrogant anmutende Falten gelegt. Gepflegt, fast adrett und trotzdem mit einer bewundernswert intelligenten Ausstrahlung versehen, erschien er ihr wie die perfekte Reisebegleitung.
Der Polizist räusperte sich ungeduldig. Matilde drückte die zweite Zigarette im Aschenbecher aus und fuhr fort: „Er vertrug keinen Alkohol. Aber er entschuldigte sich für sein ungebührliches Verhalten, und ich war gewillt, ihm seinen Auftritt im Salonwagen zu verzeihen.“
Vor diesem Verhör riet Hans ihr, offen über die gemeinsam verbrachte Nacht zu sprechen. Keine Diskretion! Dafür war es zu schön mit dir, kleine Wildkatze. Eine romantische Nacht im Zug, deren unvorhersehbare Folgen letztlich zu einer Katastrophe geführt hatten. Das war es gewesen. Weitere Details führten zu mehr Fragen. Hans und Matilde, zwei einsame Reisende, zusammengeführt durch einen Zufall, einander entrissen durch ein Unglück. Allerdings bläute Hans ihr ein, das eigene Schicksal sei keinesfalls Frage des Zufalls, sondern eine Frage der Wahl und Matildes Wahl war längst getroffen.
„Wie spielte sich der Abend ab? Sie befanden sich also in ihrer Kabine?“
Sie rieb sich die Stelle am Hals, wo Hans sie vor wenigen Stunden noch innig geküsst hatte. „Er … verschwand. Sie wissen, wie Männer manchmal zu Frauen sind. Haben sie einmal bekommen, was sie wollen, verlieren sie ihr Interesse. Hans besaß wenigstens den Anstand, zurückzukommen, um sich zu verabschieden.“
„Und was geschah dann?“ Der Stift hatte auf dem Block innegehalten und zog nun einen Schlussstrich für den letzten Akt.
Matilde seufzte. „Ein Doktor, ein höchst merkwürdiger Mensch namens Nordgren, drang in meine Kabine ein und fing eine Auseinandersetzung mit Hans Schmidt an. Wie gut sie sich kannten, kann ich nicht sagen. Ich fürchtete um sein Leben und nahm mein Gewehr aus dem Gepäck. Der Pazzo rang es mir ab, und dabei löste sich im Handgemenge ein Schuss. Hans schrie auf, während er zu Boden ging, und überall war Blut und Rauch. Das hat weitere Passagiere angelockt. Nordgren muss durchgedreht sein. Er nahm mich als Geisel. Er schrie, dass ich ihm gehöre, und wenn Hans sterben sollte, sei das allein meine Schuld. Vollkommen übergeschnappt schleifte er mich durch den Zug, bis ich befreit werden konnte.“
„Von …?“
„Ich kenne seinen Namen nicht.“
Der Bleistift zog einen Strich und begann eine letzte Zeile. „Und Sie haben ihn erschossen? Den Doktor?“
„Hätten Sie nicht?“
Zum ersten Mal wirkte ihr Gegenüber verblüfft. Stirnrunzelnd blickte er zur Seite. „Nein. Ich denke nicht.“
„Ich bin durch brennende Gänge geflohen, habe Menschen sterben sehen. Ein Mädchen humpelte mir entgegen, ehe sie tot zusammenbrach. Verhaften Sie mich, wenn Sie es für richtig halten. Ich nehme es Ihnen nicht übel. Ich bereue nichts.“
Der eine lehnte sich zurück und schlug mit dem Stift im Takt auf den Block. Eine Weile sprach niemand.
„Ich glaube Ihnen. Wie ich die Lage einschätze, fällt es schwer, Ihnen ein Vergehen nachzuweisen. Sie haben einen Menschen getötet, ja, aber es ist augenscheinlich, dass auf diese Weise andere Leben gerettet wurden.“
Ihre Hände verkrampften sich in ihrem Schoß; der Mund zuckte unmerklich. Diese Art kalter Freude kannte sie noch nicht lange. Sie verbarg die Erleichterung.
Geschafft! Verdammt nochmal, sie hatte es mit Hans’ Hilfe geschafft!
Sie nickte.
„Wir werden weitere Zeugen zu Rate ziehen und die Ermittlungen fortsetzen. Bis dahin besteht keine Veranlassung, Sie festzuhalten. Sie sollten jedoch in Lom bleiben, bis wir Ihnen mitteilen, dass wir Sie nicht mehr brauchen.“
„Mein Gepäck? Und das von Signore Schmidt?“
„Sie dürfen Ihr Gepäck natürlich an sich nehmen. Es wurde durchsucht und nichts konfisziert. Das des Verstorbenen ist in der Obhut unserer Behörde.“
„Ausgezeichnet!“ Sie erhob sich. „Gentlemen?“
Auch die Polizisten standen auf. „Sie waren uns eine außerordentliche Hilfe. Genießen Sie Ihren weiteren Aufenthalt, soweit es die Umstände ermöglichen.“
Sie verließ den Raum und ermahnte sich, nicht vor Erleichterung loszuschreien.
Hans grinste sein selbstverliebtes Grinsen.
„Ich habe dich stolz gemacht, oder, Hans?“, sagte sie, doch beim Anblick des weißen Leichentuchs aus Schnee fiel ihr ein, dass sie mit einem Toten sprach.
*
Der Bahnsteig ist nicht vom Schnee freigeräumt worden. Und der Schnee liegt hoch, fast dreißig Zentimeter, an einigen Verwehungen sogar über hundertfünfzig Zentimeter. Es schneit weiter … dicke Flocken sinken langsam zu Boden. Der Wind hat nachgelassen; übrig bleibt ein eiskalter Lufthauch. Das Thermometer am Bahnhof verkündet minus sechsundzwanzig Grad Celsius. Die Gebäude in Lom sind eingekleidet in Weiß und erinnern unwillkürlich an ein winterliches Postkartenidyll. Dick und schwer lastet der Schnee auf den Dächern.
Schnee … frostig … glitzernd … magisch.
Erst gegen halb zehn wird die Morgendämmerung einsetzen.
Schnee … eisig … schimmernd … wunderschön.
Ich muss unwillkürlich an Lillehammer denken, wo wir bei ähnlichem Wetter zu Beginn unserer unseligen Reise Kohle und Wasser aufgenommen haben. Das war, bevor es über Otta nach Lom gehen sollte. Wir … das heißt: mein arabischer Freund Hasan bin Al-Saud und ich. Mir kommt in den Sinn, wie ich in Lillehammer verschlafen aus dem Fenster unseres Abteils das Treiben draußen beobachtete. Koffer und Pakete, Karren und Kisten, die in eifrigem Tempo an Bord geschafft wurden; Passagiere, die einstiegen; mit einer galanten Hand halfen Gentlemen den Damen in den Zug. Lichter tanzten zu den raunenden Stimmen, Händler mit Bauchladen patrouillierten auf den Bahnsteigen: „Brauchen Sie Tabak? Eine Zeitung? Erdnüsse? Bonbons? Lakritze? Nervennahrung!“
Hasan …
Der Mond verbirgt sein bleiches Antlitz hinter den Wolken, wie eine Frau ihr Gesicht hinter einem Schleier verbirgt. Den Schleier, den ich mir auch vor Matildes Gesicht vorstelle, wenn ich mir ihre Situation vor Augen führe. Zart verhüllte Gleichgültigkeit, gespielte und echte Betroffenheit in ihrer Stimme. Die Mörderin windet sich am Haken und zerreißt dabei das fadenscheinige Kleid von Moralempfinden.
Wenn sie es klug anstellt, werden die Polizisten sie laufen lassen, diese Schafe. Wenn nicht, habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Bedauern schleicht sich in meine Gedanken, bis ich wieder an jenes weiße Stück Papier denke, das mein Schicksal besiegeln könnte. Mich vergessen die Polizisten im Chaos zu befragen. Für sie existiere ich nicht.
Neben mir fährt eine Kutsche mit den Toten wie ein apokalyptisches Zeichen. In Leinen gewickelt … die stummen Zeugen des Unglücks. Von allen Schmerzen irdischen Seins befreit, treten sie ihre letzte Reise an – mit demselben Ziel, das auch ich verfolge. Und unter ihnen ist Hans Schmidt, dieser Bastard! Die feuchte Kälte erstickt meine Wut. Ich sehne mir einen Whiskey herbei, verwerfe den Gedanken aber augenblicklich. Ich mache keine Fehler mehr in meinem Leben. Der eine hat gereicht.
Ich erreiche das Krankenhaus. Endlich Wärme, die mich umarmt. Umherirrende Patienten in den Fluren, Hasans Zimmer trägt die Nummer 019. Ich öffne die Tür, trete ein, beuge mich über meinen schwer verwundeten Freund, ergreife seine Hand. Ein Flüstern: „Paul.“ Habe ich das wirklich gehört? Jedoch verrät nichts außer einem Zucken seiner Lider, dass er noch am Leben ist. Er träumt.
„Sag nichts, Hasan. Ich bin es. Rick. Paul ist nicht hier, alter Junge. Du musst stark sein. Das Schlimmste hast du bereits hinter dir. Lass mich auf der Zielgeraden nicht im Stich.“ Ich spüre, wie meine Augen feucht werden, da ich sehe, dass mein einst so stolzer Kamerad wie ein Gelähmter in das Weiß der Bettlaken gehüllt ist. Er wollte echten Schnee sehen. Er sollte jetzt draußen sein und sich darüber freuen. Stattdessen verwandelt sich alles in einen Alptraum. Ich schlucke. Als ich seine Hand etwas fester drücke, blinzelt er.
„…“ Seine Augenlider flattern; er hustet.
„Ja? – Sprich, Hasan, bitte!“
„…“, beginnt er von neuem. Bevor sich unsere Blicke treffen können, fallen die Lider wie Jalousien herunter. Mein Freund ist wieder in das Land der Träume eingetaucht, wo zumindest sein Körper frei von Schmerz ist. Mich ängstigt der Gedanke, dass Hasan durch den Einschuss tatsächlich querschnittsgelähmt sein könnte. Könnte ihm dann überhaupt noch jemand helfen?
„Ich wünsche dir viel Glück, alter Junge!“ Ich drücke seine Hand ein letztes Mal. Nie gab es einen endgültigeren Beweis, dass Hasan real ist, und dafür bin ich dankbar. Ich wende mich um und gehe. Werde ich wahnsinnig? Vielleicht. Aber welches Genie trug nicht den Schatten einer gesunden Portion Wahnsinn? Friedrich Nietzsche, Edgar Allan Poe, Howard Wilde … Genie und Wahnsinn. Ist das eine ohne das andere überhaupt vorstellbar? Und wo verläuft die Grenze?
„Ich wandle auf ihren Spuren“, stelle ich fest und verlasse das Zimmer. Ich muss laut gesprochen haben, denn ein Arzt schaut mich verblüfft an, sagt jedoch kein Wort.
Nachdem ich mir einen Schlitten organisiert habe, denke ich erneut über mein altes Laster nach: das Trinken. Es kostete Hasan und mich viel Kraft, damit aufzuhören. Aber wenn die Zeit gekommen war, erneut schwach zu werden, dann jetzt. „Ich brauche den Alkohol!“ Aber die Polizei …, fiepst die Stimme namens Feigheit in meinem Kopf. „Scheiß drauf“, murmle ich, während ich in das Gefährt einsteige. Auf der Fahrt inmitten der unbarmherzigen Kälte verfalle ich in Starre. Unser Weg führt durch eine tief verschneite Landschaft. Weiß und blauschimmernd. Weiß und nochmal weiß. Mit Schnee bedeckte Tannen, Kiefern und Fichten. Rentiere kreuzen den Weg. Auch ein Elch zeigt sich, das stolze Geweih in die Luft gereckt, horchend, die Nüstern geweitet. Einige Kolkraben jagen einander und begleiten uns mit anklagendem Krächzen. Der Elch wendet das Haupt, danach verschwindet er in der Ferne.
Die Lodge selbst liegt in einem Kiefernwald, und man hat von dort angeblich „den Ausblick des Winters“. Vermutlich hat hier einst Frau Holle persönlich gelebt und mit dem Ausschütteln ihrer Kissen die Welt gezuckert.
Der Schlitten hält. Meine Sicht klart auf, sobald der bärtige Fahrer sich zu mir umdreht. Ich drücke ihm reichlich Trinkgeld in die Hand und springe vom Schlitten. Das Ziel meiner Reise schläft in andächtiger Ruhe im Schnee, darauf wartend, mir zu offenbaren, aus welchem Stoff Alpträume gemacht sind.
*
„Sie wirken verloren …“ Die Stimme war rau und erinnerte an eine Lawine, die durch einen Forst rollte.
Matilde packte ihre Taschen fester, zog die Nase hoch und ermahnte sich, nicht wie eine naive Touristin zu wirken.
Sie konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, weil es von einem Schal verhüllt war. Zweifellos stand vor ihr einer jener Einwohner Loms, die auf ihre Weise Profit aus den ahnungslosen Ausländern zu schlagen gedachten … Dafür habe ich keine Nerven. Wirklich nicht! Sie schnaubte. „Der Eindruck mag täuschen, Signore. Ich bin auf dem Weg zur Juvasshytta Lodge und habe kein Interesse an …“
Der Kerl schüttelte seinen Kopf, sodass er seine blonde Mähne vom Schneestaub befreite, und hob die Hand. „Wir sind nicht hier, um Sie zu belästigen.“
„Wir?“
Auf ihre Frage trat ein zweiter Mann mit verschränkten Armen näher, der Matilde vorher nicht aufgefallen war. Er glich dem anderen, war jedoch kleiner und stämmiger. Der erste sprach: „Wir sind Ragnar und Olaf. Wir sind denen zu Diensten, die uns benötigen. Und Sie wirken verloren“, wiederholte er, schob sich den Schal vom Gesicht und grinste sie an, sodass er sie an Hans erinnerte. Er streckte ihr seine behandschuhte Rechte entgegen.
Wenig überzeugt erwiderte Matilde die Geste. „Matilde Visconti. Ich bin mir nicht sicher, worauf Sie …“ Heuer sie an!, rief Hans neben ihr. Du brauchst sie, wenn du mich morgen bestatten willst. „Was?“
Das Lächeln von Ragnar erstarb einen Augenblick, und er runzelte die wettergegerbte Stirn. „Wie meinen?“
„Ach nichts.“
„Sprechen Sie es bitte aus, fru Visconti. Wir kommen nicht auf jeden beliebigen Menschen zu, glauben Sie mir das.“
„Ich habe einen verrückten Plan.“ Sie zögerte. Hans war verschwunden, sodass sie keinen Anhaltspunkt hatte. „Wirklich verrückt. Jemand ist gestorben, der mir viel bedeutet, er liegt im Krankenhaus. Ich will ihn zur letzten Ruhe betten …“ In Ragnars Gesicht regte sich kein Muskel. Es ließ sich nicht abschätzen, für wie verrückt er sie hielt. Ohnehin war es jetzt zu spät. „Ich habe es geschworen.“
„Geschworen!“, rief Olaf auf einmal und schlug Ragnar auf die Schulter. Sein norwegischer Akzent verzerrte das Wort beinahe zu einem Fremdwort. „Geschworen.“
„Ja geschworen.“ Matilde nickte. „Aber ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Wissen Sie …“
„Fro Visconti, Sie sind eine Kriegerin.“
„Ulfhednar!“, rief Olaf vergnügt. „Matilde Ulfhednar-kriger.“
„Sie haben eine Art an sich, die zu uns gehört. Sie sind ein Teil Norwegens.“
Fast automatisch sagte sie: „Eine Jägerin.“
Ragnar nickte. „Eine Jägerin jagt. Jagen Sie, solange Sie können! Bis die Wilde Jagd Sie erwischt.“
„Aha … hören Sie, Ragnar … Olaf …“ Sie blickte zu dem zweiten und sagte, ohne darüber nachzudenken, ob es wirklich klug war: „Können Sie morgen zur Juvasshytta Lodge kommen?“ Was mach ich gerade? Wie soll ich überhaupt an Hans’ Körper gelangen?! „Ich kann Ihnen nicht viel Lohn anbieten. Aber eine Anerkennung für Ihre Mühen.“ Alleine schaffe ich das nicht.
Die Antwort kam umgehend: „Abgemacht! Und sorgen Sie sich nicht. Wir verstehen genau, was Sie meinen. Wir werden kommen. Wir verstehen ganz genau, was Sie meinen.“ Ragnar grinste. Dann sprach er einen Satz, der ihr schmerzlich bewusstmachte, wie sehr sie Hans vermisste: „Sie schaffen das. Sie schaffen alles. Jägerin.“
Olaf korrigierte: „Ulfhednar-kriger.“
„Ulfhednar-kriger“, betonte Ragnar dermaßen ernst, dass es Matilde Angst einflößte.
„Was bedeutet das?“ Es bedeutet Verantwortung. Denn dann bist du eins … Hans küsste ihr die Wange. „… eins mit den Legenden.“
Ragnar schlug die Hände zusammen. „Die Stärke und Willenskraft von Mensch und Tier in einem.“
„Ulfhednar-kriger“ Es klang richtig, wenn sie es aussprach. Bedeutsam. Ich bin nicht ohne Grund hier. Heute beginnt die Asgardische Reise. Sie seufzte. Dann lächelte sie und merkte, wie ausgezehrt sie tatsächlich war. Sie verabschiedete sich von Ragnar und Olaf und hoffte, alles Weitere würde sich am nächsten Tag fügen.
*
Fragmentarisch nehme ich die Wirklichkeit wahr, hier ein Bild eines Rezeptionisten („Mr. Fairwell, Sie sind unser Gast, und das heißt …“), der brennende Strahl heißen Wassers in der Dusche, mein leerer Teller angesichts eines üppigen Buffets.
Ich MUSS essen, verdammt, ich brauche die Energie, sonst …
Plötzlich sitze ich satt auf meinem Bett, neben mir auf einem Silbertablett ein edler Cognac. Tu es nicht, Rick, verliere nicht noch diese letzte Tugend! Schlaf dich aus und morgen wirst du gar keinen Durst mehr haben! Paul! Seine Stimme aus dem Grab.
„Ich fürchte, mein Durst ist zu groß“, krächze ich, während ich mir mit zitternden Händen einschenke.
Aber Hasan, denk an Hasan …
„Der wird das verstehen“, grummle ich. „Und wenn nicht, auch gut. Ich brauche Nervennahrung.“ Ich trinke, zuerst zögerlich, dann haltlos. Später sinke ich in meine flauschigen Kissen und stelle zufrieden fest, dass die jungen Männer vom Bahnhof alle meine Koffer zur Lodge gebracht haben. Meine Welt dreht sich, schwarze Finger der Besinnungslosigkeit greifen in mein Sichtfeld. Matilde kommt mir in den Sinn. Der Zettel, sie … Dann schlafe ich ein.
Ich träume von … Schnecken. Eklige Biester! Und ich schieße und schreie und kreische, während sie in einem Regenguss aus Blut und Eingeweiden vergehen. Sie haben es verdient!, johle ich. Ich verstehe genau, was Sie meinen, mein Junge, gackert die verzerrte Fratze des Lokführers und lacht. Wir lachen wie zwei Verrückte, bis …
Ich muss eine Weile geschlafen haben, da weckt mich ein hysterischer Schrei: „WAR DAS ALLES, HANS? ALLES, WAS DU KONNTEST? ICH WERDE DIE JAGD ZU ENDE BRINGEN! DANN BIN ICH ERLÖST!“
Ich schrecke hoch und spüre, wie die Welt sich dreht und …
„Wo … Wo bin ich?“, stöhne ich und nehme meinen pochenden Schädel zwischen die Handflächen. „Und wer …?“
„DU BIST TOT!“, kreischt die Stimme, und sie kann wahrlich nicht weit entfernt sein, wenn ich sie so schrill und deutlich durch meine Verwirrung peitschen höre.
Matilde, sie hat (Hölle ist Wiederholung) meinen Zettel gelesen und (HÖLLE IST WIEDERHOLUNG) will mich (HÖLLE IST WIEDERHOLUNG!) töten.
Hasans Stimme entgegnet diesem kalten Schauer, der über meinen Rücken läuft: Sei nicht albern! Du kannst bloß im Augenblick nicht klar denken. Das ist alles. Schau nach, Rick! Nimm den Revolver mit, wenn es dir ein Gefühl von Sicherheit gibt, aber schau um Himmelswillen nach!
Ich lade die Waffe und wanke aus meinem Zimmer. Trotz meines alkoholisierten Zustands bin ich in der Lage, mich des Schlüssels in meiner Jackentasche zu versichern und meine Zimmertür zu schließen. Ich bewege mich in Richtung der inzwischen verklungenen Schreie.
Erst das leere Zimmer, das Hasan gehört hätte, wäre er nicht verunglückt, anschließend dasjenige, aus dem der Schrei gedrungen war. Zimmer 203. Etwas zu heftig hämmere ich mit dem Griff meines Revolvers gegen die solide Zimmertür, Wiederholung, Wiederholung, und glaube, schlurfende Schritte zu hören.
*
Zimmer 203. Matilde erwachte. Das Bett wirkte groß … weich … warm … bequem und furchtbar leer.
Ihr Schlaf war schrecklich tief gewesen, solange er gedauert hatte. Ein Alptraum. Alles ein Alptraum.
Die Nächte in Norwegen waren dunkler als in Paris.
Paris … was hatte sie sich bloß gedacht?
Was wollte sie hier in dieser Einöde? Eine Einöde in Weiß, in der Rehe und Wölfe hausten, Beute und Jäger.
Auch sie hatte jagen wollen. Deshalb war sie hier. Aber wer war nach jener Zugfahrt die Beute? Wer der Jäger?
Sie warf sich herum und schlang die Decke um ihre Brust. In ihrem Traum hatte sie die Nacht mit Hans verbracht. Brutal aufs Bett geworfen. Benutzt. Geliebt. Hans hatte sie geschlagen. Abwechselnd mit der einen, dann mit der anderen Faust. Wie Hammerschläge. Nein. Vielmehr Axthiebe. Wieder und wieder. In den Magen. Ins Gesicht. Die Hiebe fraßen sich in ihr Hirn und spalteten sie. Im Traum dachte sie nicht darüber nach. Sein Wille geschehe. Ich liebe ihn. Ich hasse ihn. Nein, ich liebe ihn. Ich habe alles getan, alles getan … Ein Schleier aus Blut über ihren Augen … sie leckte sich die Lippen, sein Blut … ihr Blut … süßliche Vereinigung. Er drang in sie ein. Seine Bewegungen elegant arrangiert, sein Liebesspiel eine Symphonie. Der mörderische Geliebte trieb seine Klinge tief in das Herz seines Opfers, drang bedächtig ein, durchbohrte das sündige Fleisch, durchstieß das Herz und trat am Rücken heraus. Blattschuss.
„Was fühlt man“, fragte er sie, wieder und wieder, „wenn man das Tier zur Strecke gebracht hat? Ekstase, Befriedigung, Erleichterung? All das. Zuerst aber Zufriedenheit. Ist es das wirklich wert gewesen?“
War es das wert gewesen?
In ihrem Inneren brannte es wie siedend heißes Öl. Eine tödliche Wunde. Dazu in der Lage, eine starke Frau wie sie zu fällen. Ulfhednar-kriger? Lachhaft! Ich habe alles getan, alles getan …! Sie hielt urplötzlich ihr Gewehr in der Hand. Liebevoll nannte sie es John. Sie schloss das linke Auge und entlud das gesamte Magazin, bis bloß ein sich wiederholendes Klicken zu vernehmen war. Das Gesicht zerriss; übrig blieb ein konturloser Stumpf. Ihre Bemühungen machten keinen Unterschied. Er quälte sie ohne Unterlass. Wieder und wieder. Er war genau so tot wie sie. Zwei Verblichene, vereint im Todesreigen. Welch ein makabrer Walzer – würdig vergangener Zeitalter! Ihr Schweiß durchtränkte das Bett, die Laken zerwühlt. Ein sehr unruhiger Schlaf. Mehr Alpträume, weniger Schlaf. Hans war bei ihr gewesen. Ganz nahe. Sie und Hans waren eins.
Draußen heulte ein Wolf, so einsam wie sie selbst.
Sie stob wie eine Schneeflocke der Gleichgültigkeit hinaus in das unschuldige Weiß, welches das Grauen dieses Tages verhüllte, verschmolz mit ihm und war im Herzen dennoch vollkommen schwarz und verdorben.
Vor weniger als einem Tag hatte sie Hans Schmidt nicht einmal gekannt, ebenso wenig wie Rick Fairwell. Da hatte es einzig sie gegeben, Contessa Matilde Livia Beatrice Caterina Visconti di Modrone, eine junge italienische Gräfin auf Reisen, auf einer abenteuerlichen Jagd nach Nervenkitzel. Was war von dieser lebenslustigen Frau noch übrig geblieben? Nicht mehr viel, wie sie sich selbst gestehen musste. Dies stellte einen Abschluss und keinen Neustart dar.
Am Anfang stand nur die Neugierde einer naiven Frau, und das ist verzeihbar. Es war meine eigene Dummheit zu glauben, dass ich ein Teil von einer großen Sache werden könnte, von etwas Aufregendem. Ein Abenteuer in Norwegen in den Armen eines mysteriösen Fremden. Für Hans ging es um viel mehr. Er war stark, aber ich bin für seinen Tod verantwortlich. Ich kann nicht weiterleben, ohne das zu akzeptieren. Ich bin zerrissen. Alles läuft aus dem Ruder. Mein altes Leben endet mit dieser Reise.
Sie starrte in die Dunkelheit. Instinktiv tastete sie Gesicht, Haare und ihre Brust ab. Dort sitzt die Wunde. Sie zitterte, und sie hasste sich für diese Schwäche.
Zittere nicht Matilde! Sonst wirst du nie eine gute Jägerin. Wie alt war sie bei diesen Worten ihres Vaters gewesen, damals, als sie zum ersten Mal ein Ziel im Visier hatte? Zwölf Jahre. Plötzlich verspürte sie Wut, da ihr ein Gedanke kam, der sich unter ihr Selbstmitleid mischte. Binnen weniger Stunden hatte Hans ihr alles genommen … Ein selbstsüchtiger Mann!
„Vigliacco …“, wisperte sie mit gebrochener Stimme. „Ich war das Wild und du das Raubtier? Vigliacco …“ Sie taumelte ins Bad.
Aus dem Spiegel blickte ihr Hans entgegen, ein arrogantes Lächeln auf den Lippen. Matilde zischte: „Du hast dich von mir umbringen lassen, du mieser Feigling …“ Sie machte einen hastigen Schritt nach vorne, und er tat es ihr gleich. „Hast du mich benutzt? Bist du so in meinen Kopf gelangt?“ Sie erhob die Stimme. „WAR DAS ALLES, HANS?“, schrie sie. „ALLES, WAS DU KONNTEST? ICH WERDE DIE JAGD ZU ENDE BRINGEN! … DANN BIN ICH ERLÖST! Und du …“ Die letzten zwei Worte flüsterte sie, und es klang bedrohlich. Ihre linke Faust hob sich, so wie seine rechte. „DU BIST TOT!“, kreischte sie und schlug mit aller Kraft in sein Gesicht.
Nachträglich übertrug sie die Schmerzen und das Blut aus ihrem Traum in die Realität – nur war sie es nun, die schlug. Der Spiegel barst, so wie ihr, nein, sein Spiegelbild. Rötlich schimmerten die zersplitterten Züge seines Gesichts im Zwielicht.
„Und ich habe dich geliebt, du Mistkerl …“ Sie lachte. „Immerhin habe ich durch dich eine Mission … und nichts mehr zu verlieren. Wenn ich schuld an deinem Tod bin, gewöhne du dich daran, für meinen verantwortlich zu sein!“
Matilde vernahm ein Klopfen. Während sie sich hastig eine Stoffserviette um die Hand wickelte, hörte sie Hans’ vertraute Stimme in ihrem Zimmer: „Ich möchte dir etwas schenken.“ Hans stand am Fenster, wie er es im Zug getan hatte. Bläulich schimmerte seine Haut, als sei er eine aus dem Eis geschlagene Skulptur. „Komm zu mir! Ich will dir etwas zeigen. Komm zu mir … piccola gatta selvatico.“
„Warum, Hans? Warum hast du mir das angetan?“, wimmerte sie. Erneut klopfte es an der Tür. Statt sie zu öffnen, näherte Matilde sich der Gestalt am Fenster.
„Es war der einzige Weg“, entgegnete er. „Hättest du mich bloß sterben lassen, animo mio. Nordgren hat nicht mich gerettet in deinem Abteil. Er hat sich gerettet. Schau aus dem Fenster! Dort ist mein Geschenk. Pass gut darauf auf. Geh morgen spazieren. Der Styggebreen soll zu dieser Jahreszeit sehr schön sein. Geh morgen spazieren! Versprich es mir!“
„Das ergibt keinen Sinn!“, rief sie verzweifelt aus. „Sag mir alles, was du über Nordgren weißt … alles über meine Mission! Ich werde deine Arbeit zu Ende führen, und dann will ich sterben!“ Während sie sprach, bemerkte sie den schwarzen Wolf draußen vor dem Fenster, der sie musterte.
„Pass gut auf ihn auf! Er ist ein Kind der Nacht, aber tagsüber musst du ihn beschützen.“ Plötzlich war Hans verschwunden, und der Wolf setzte in weiten Sprüngen in den Wald davon. Hätte er keine Spuren im Schnee hinterlassen, müsste Matilde an seiner Existenz zweifeln.
Es klopfte ein drittes Mal, diesmal unerbittlich.
*
Dass ich mich weder auf sie selbst noch auf das, was sie gesagt hat, konzentrieren kann, tue ich als Nebenwirkung meines Rausches ab.
Sage: „Hab dich schreien gehört …“, rieche den Alkohol in meinem Atem, atme kürzer … vergeblich. Werde mir erst bewusst, dass ich meinen Revolver in der Hand halte, als ich mit ihm ins Dunkel wedle. „Müssen … müssen uns unterhalten“, stammle ich. Meine Welt dreht sich. Halte mich vorsichtshalber am Rahmen der Tür fest, damit sie nicht aus ihren Angeln gehoben wird.
Matildes Blick ist matt und stumpf. Nicht mehr und nicht weniger als ein Spiegel meiner selbst.
Sie weicht zurück, winkt mich herein, wundert sich dabei genauso wenig über den Revolver wie ich. Banalität meiner Erscheinung.
„Ich habe Besuch gehabt, weißt du?“, meint sie. „Hans war hier. Er hat mich geschlagen und mich geliebt, und wir haben miteinander gesprochen.“ Sie setzt sich auf ihr Bett, das federnd nachgibt, wie es das schon bei zahllosen Träumern zuvor getan hat. „Aus dem Fenster hinaus … in kältester Nacht … seh ich den schwarzen Wolf … in all seiner Pracht“, summt sie, und es klingt wie ein verballhornter Kinderreim. Verbittert: „Nochmal danke für deine Worte, für alles.“
Weiche ihrem Blick aus, lasse mich in einen der Sessel fallen, stöhne: „Meine Worte …“ Mit zusammengekniffenen Augen sehe ich, dass sie ein weißes Stück Papier in ihrer Hand hat. Der Zettel! Sie hat den Zettel gelesen! „Du …“ Schlucke, um den pelzigen Geschmack aus meinem Mund zu verbannen. „Du weißt also von … Paul, hm? Was ich ihm angetan habe. Ich hab dir gesagt, Matilde, dass ich …“ Dieser verdammte Geschmack in meinem Mund! Als wäre er betäubt! „Dass ich kein guter Mensch bin. Aber … du musst mich verstehen …“ Gestikuliere mit der Waffenhand und ziele zufällig in ihre Richtung. „Paul war ein schwacher Mensch. Er musste sterben, bevor die Welt, die er liebte, ihn verschlingen konnte. Er ist aus der Hölle der Wiederholungen ausgebrochen. Das bin ich leider nicht. Nein, Matilde, ich durchlebe sie jeden Tag aufs Neue! Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Hast du die geringste Ahnung?!“ Höher, höher schwingt sich meine Stimme empor, das Totgewicht des Revolvers verankert mich hier unten.
Sie starrt mich an. „Paul? Welcher Paul? Wovon redest du, Rick?“ Sie bewegt sich lebhafter, begreift endlich, dass mein Revolver auf sie zeigt, hebt die Hände. „Seit gestern lese ich es in deinen Augen, Rick. Seitdem wir Nordgren begegnet sind. Du würdest mich gerne umbringen. Aber ich weiß nicht, warum.“ Sie erhebt sich, um vor mir in die Knie zu gehen, meine Beine zu umarmen. „Ich habe eine Aufgabe, Rick. Die muss ich erfüllen. Lass mich die Trolle jagen, dann … dann kannst du mich töten.“
Alles dreht sich, und nichts ergibt mehr Sinn; selbst ich bin mir fremd geworden, bin nicht Rick, nicht Paul, bin nur ein zerbrechliches Gefäß, das angstvoll erkennt, dass sich seine Umwelt immer schneller bewegt. Gefangen in einem Schädel, den weiße Watte auskleidet, in der sich manchmal Schmutz verfängt.
„Willst tatsächlich sterben, was? Unbedingt sterben. Bist eine komische Frau …“ Hebe langsam meinen Arm, presse die Mündung des Revolvers gegen ihre fiebrige Stirn. Ich grinse, ohne beständigen Grund zur Erhabenheit. „Hast Glück … ich habe meinen guten Geschmack seit der Zugfahrt nicht verloren.“ Mir ist plötzlich kalt. „Trolle willst du jagen, Matilde? Schieß so viele von ihnen nieder, wie du nur kannst. Haben dieses verfluchte Leben nicht verdient …“ Stoße Matilde ohne Vorwarnung zurück. Ich throne über ihr, gottgleich und grauenhaft im schummrigen Licht des Hotelzimmers. Meine Stimme klingt hohl, während ich sage: „Ich muss mit dir reden, Matilde. Was schaust du mich so an? Willst du nichts über Paul hören? Paul Anderson? Wie dieser Tor mich vor die Wahl gestellt hat, und ich ihn ermordete?“ Atme tief ein, sammle meine letzten Kräfte. „Ich möchte dir die Geschichte eines jungen Mannes erzählen, der tief fiel und dem die Freizügigkeit seines Denkens niemals guttat. Sein Leben war trostlos und einsam und arm an Freude, und die Bücher, die er las, bildeten einen gierigen Sog, dem er schwerlich entrinnen konnte. Oh, er war gewillt, sich zu bessern! Er wollte sein erbärmliches Dasein überwinden und sich … verwandeln! Er wurde zum Gehilfen eines greisen Buchhändlers namens Sam Whitmore. Wenngleich ein Sonderling, war dieser gütig, doch das kann diese Welt nicht ungestraft lassen. Sie sandte einen Fremden … ich nenne ihn der Einfachheit halber Jackson! Jackson stahl Whitmores wertvollsten Besitz und trieb ihn auf diese Weise in den Tod.“ Halte inne, um die Wirkung meiner Worte auf Matilde zu beobachten. Fahre fort: „In Whitmore hatte die einzige Chance für den einsamen, jungen Mann bestanden, sich eine neue Existenz aufzubauen, und das war nun zunichtegemacht. Doch er lernte, sich nicht länger von der Welt herumschubsen zu lassen. Er erwarb einen Revolver und fand den Dieb noch vor der Polizei. Es hatte lediglich einen Menschen außer ihm und Whitmore gegeben, der von der Existenz gewisser Bücher wissen konnte. An dem Punkt, an dem er Jackson stellte und dieser vor ihm kauerte, verspürte er auf einmal Mitleid. Ihm kam der Gedanke, dass es niemanden auf der Welt gab, der dieses Untier vermissen würde. Ohne ihn wäre die Erde zweifellos ein besserer Ort … so viele Gräueltaten, die vermieden, so viele Leben, die gerettet werden könnten. Alles, was Jackson angerichtet hatte, konnte vergessen werden, wenn ihn Dunkelheit fraß. An das, was danach geschah, erinnerte sich der junge Mann nicht mehr. Sobald er zur Besinnung kam, befand er sich einige Straßen entfernt. Alles sprach dafür, dass seine Waffe abgefeuert worden war, und er fürchtete sich vor den Folgen seines Handelns. Er kehrte nicht zurück, um sich zu vergewissern, dass er Jackson tatsächlich getötet hatte. Seine Schuld war nur zu ertragen, indem er sie im Alkohol ertränkte. Er trank, bis alle verbliebenen Erinnerungen an diesen verhängnisvollen Tag ausgelöscht waren. Manchmal dachte er darüber nach, sich selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen. Oh ja, das waren schlimme Zeiten! Für eine Weile konnte er sich mit Mühe über Wasser halten, und er fand sogar einen Freund, Hasan, der selbst auch Probleme hatte. Sie halfen sich gegenseitig und erschufen gemeinsam eine neue Existenz. Paul vermied und bekämpfte die Sünde auf seine Art. Natürlich war er zum Scheitern verurteilt und beging wieder und wieder dieselben Fehler. Bis er eine Reise nach Norwegen plante, um dort einen Neuanfang zu wagen. Er legte sich dafür einen neuen Namen und eine neue Identität an. Zugegeben … gänzlich neu war sie nicht, denn diese hatte in seinem Unterbewusstsein schon lange verweilt.“ Ich strecke mich. „Nun bin ich real, und Paul lebt nicht mehr. Er ist lediglich eine verblassende Illusion. Realität und Fiktion haben die Plätze getauscht! Ich bin Rick Fairwell, der Mörder aller Mörder, und ich habe Paul umgebracht. Sieh hier!“ Aus meiner Manteltasche ziehe ich ein Bündel Ausweise und Papiere und werfe es ihr vor die Füße. Ich spüre, wie meine Erzählung den Alkohol verbrannt hat und ich allmählich ausnüchtere. Ich lehne mich zurück. „Soll ich dir erklären, warum ich dich eigentlich töten sollte, Matilde?“
Ohne zu antworten, greift sie nach den Papieren, deren kalte Buchstaben unbeirrbar bezeugen, dass ich die Wahrheit sage. Ich rieche ihren Schweiß. Furcht tränkt diesen düsteren Raum.
„Du bist Rick … Rick Fairwell“, wiederholt sie mit ruhiger Stimme. Sie mustert den Revolver, der in ihre Richtung weist. Sie lächelt verbittert. „Erzähl mir, warum ich den Tod verdiene!“
Ich zücke eine abgenutzte Ausgabe von Howard Wildes „The Day’s End“, die erste Auflage von 1920. Das Buch öffnet sich wie von selbst in dem Kapitel, das mich am meisten inspiriert hat, weil es meine Lage derart präzise wiedergibt, wie ich es kaum für möglich gehalten hätte. Als bediente Wilde sich meiner intimsten Gedanken.
„Hör mir genau zu, dann wirst du vielleicht verstehen!“ Ich schaue beiläufig zu dem zersplitterten Spiegel, der weiter hinten im Raum hängt, und grinse. „Nein, ich bin mir sogar sicher, dass du es genau verstehen wirst.“ Ich beginne, Wildes Zeilen wie ein Gebet vorzutragen, wie prahlerische Edelsteine um ihren Verstand zu drapieren und sie mit dem Fieber zu infizieren, welches sich ihrer mehr und mehr bemächtigen wird. Unsere Vergangenheit gleicht einem Haufen verfaulten Fleisches, angerichtet zur Delikatesse. Und sie und ich und all die Maden dieser verlorenen Welt, wir fressen daran für die Luft zum Atmen!
Die Schuld ist ein schweres Gewicht auf den Schultern einer so vereinsamten Gestalt. Mehrere Male bin ich während meiner Rezitation aus Wildes Werk den Tränen nahe, weil Matildes Geschichte in der Tat meine eigene ist, und ich hätte sie vielleicht retten können, wäre ich schneller gewesen.
Ich klappe das Buch zu und schließe: „Du hättest den Tod verdient, Matilde, wie auch ich. Untiere, die wir sind. Aber lieber solltest du vergessen und anfangen zu leben. Versuche zu lieben, versuche, nicht mehr auf die Stimmen zu achten! Hör auf, dich selbst zu geißeln!“ Mein Mund fühlt sich immer noch pelzig an. „Du darfst keine Zweifel an deinem Tun hegen. Zum Sterben ist später noch genug Zeit.“
Es ist lange her, seit ich Zimmer 203 betrat. Wieder realisiere ich die Waffe in meiner Rechten. Ich stecke sie zerstreut in meine Manteltasche. „Was du brauchst, was wir brauchen, Matilde, ist Selbstbeherrschung. Zeige der Welt nicht, wie sehr du leidest! Verberge deine wahren Gefühle in der Öffentlichkeit unter einer Maske! Ich kann dir helfen, wenn du möchtest, mit allem, was in meiner Macht steht.“ Ein ehrlich gemeintes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Ich biete ihr meine Hand an, die vom Alkohol zittert, sich in Gedanken jedoch fest und stark fühlt, und warte ungeduldig, ob sie meine Hilfe annimmt oder nicht. Absurd, angesichts dessen, was bereits passiert ist.
Einen Augenblick zögert sie, nimmt anschließend meine Hand entgegen. Sie sagt: „Rick, ich … ich nehme gerne jede Hilfe an, wobei ich nicht mal weiß … was genau auf uns zukommen wird.“ Sie seufzt. Man kann förmlich hören, wie es in ihren Gedanken arbeitet. War es ein Fehler, meine Hilfe in Anspruch zu nehmen? Eigentlich hat sie keine Wahl. „Aber ich bin sicher, dass etwas auf uns zukommen wird. Heute ist der einundzwanzigste Dezember, und uns bleibt Zeit bis zum zweiten Januar. Die Polizei hat mein Gepäck durchsucht; sie haben nichts gefunden. Sie glauben mir, dass die Schuld bei diesem Arzt lag. Nordgren. Ich konnte sie offenbar von meiner Unschuld überzeugen. Aber du musst mir glauben, was Hans betrifft. Ich spüre, dass etwas Grauenvolles während dieser Asgardischen Reise passieren wird …“ Sie erwägt, wie aussichtsreich es ist, einen sturzbetrunkenen Mann ins Vertrauen zu ziehen, und bricht ab. Asgardische Reise … welch ein seltsamer Ausdruck, denke ich. Die Reise ist doch vorbei.
Matilde fährt fort: „Wir sollten uns ausruhen …“ Sie blickt zu Boden und hebt meine Papiere auf, um sie mir zu überreichen. „Vergiss die nicht!“ Ihre Stimme klingt unheimlich müde und irgendwie gealtert. Als spräche jemand anders an ihrer statt. Wie ein Geist gleitet sie zur Tür und öffnet sie.
Beim Aufrichten überkommt mich Schwindel. „Ich gehe besser“, bringe ich krächzend heraus. Ein unbeholfener Schritt, ich muss mich an der Wand festhalten, damit sie nicht vor meinen Augen verschwindet. „Matilde, wir …“ Von einem Moment auf den anderen spüre ich, wie sich mein Mageninhalt mit Gewalt nach oben drängt. So soll sie mich nicht sehen!, denke ich und renne los.
Matilde weicht einen Schritt weg von der Tür, ich ihrem Blick aus.
Ich hetze auf den Flur und angle ungeschickt meinen Schlüssel aus der Tasche. Nachdem er sich im Schloss dreht, stürze ich ins Zimmer und zum Waschbecken. Ein braungelber Schwall Erbrochenes ergießt sich über die Kacheln. Ich kämpfe mich auf meine Knie hoch. Im nächsten Moment durchfährt meinen Leib die nächste Welle von Übelkeit. Es nimmt kein Ende!
Gott dieses Gift … dieses Gift muss aus meinem Körper!
Ein paar Minuten später ist es vorbei, und mich quälen Schüttelfrost und fiebrige Hitze gleichzeitig. Ich zwinge meinen rebellierenden Körper, sich zu beruhigen, und wische das halbverdaute Essen unter Aufbringung meiner allerletzten Kraftreserven – Die Hotelbediensteten dürfen nichts bemerken! – vom Boden auf. Meine Hände schrubbe ich unter heißem Wasser mit Seife ab, den galligen Geruch bekomme ich trotzdem nicht aus der Nase.
Ehe ich aufs Bett sinke, schließe ich die Tür, die während der gesamten Zeit offen gestanden hat. Das Letzte, was ich sehe, bevor ich einschlafe, ist die leere Cognacflasche.
*
Hinter der geschlossenen Tür hörte sie Rick über den Flur stürmen.
Am Morgen wird das alles zu einer fernen Erinnerung verblasst sein, sodass ich diese Stunde des Wahnsinns als Traum abtun kann. Wie Hans auch. Ich werde nie mehr mit Rick reden, entschied sie. Ich habe ihn gewarnt und versucht … alles zu sagen. Aber das ging schief, wie ich es mir nicht schlechter hätte ausmalen können.
Matilde kroch ins Bett. Sie hatte keine Angst vor dem Mann namens Rick Fairwell oder Paul Anderson oder wer auch immer er sonst war (tausend Stimmen aus einem Mund – ging so ein alter Vers?). Er war zweifellos verrückt. Vielleicht war sie es auch. Tatsächlich hatte er recht mit der Annahme, dass sie beide einander glichen und sich gegenseitig helfen sollten.
Aber worin bestand ihr grundlegender Unterschied?
Es fiel ihr zunächst schwer, ihn zu finden, dabei lag es auf der Hand: Der Unterschied war Hans’ Aufgabe.
Rick Fairwells Leben war gescheitert. Matilde vermutete, dass seine Lügen dem Selbsterhalt dienten, das Resultat jedoch stets dasselbe blieb.
Diese Reise hatte für ihn nie die Aussicht auf Erlösung verheißen, die Rick sich erhoffte. Sie glich einer Fahrt geradewegs in den Abgrund, und es war Zufall, dass sie dieselbe Endstation hatten. Warum also nicht sein Spiel mitspielen, nach allem, was sie gemeinsam erlebten?
Dio mio, wenn die Trolle kamen und die Kannibalenhorden und die Wilde Jagd, machte es keinen Unterschied, was er in ihnen sah.
Ein gequältes Kichern entrang ihrer Kehle. Ihr erster Tag auf der Lodge war vollkommen anders verlaufen, als sie sich ausgemalt hatte. Ihr bisheriges Leben lag in Scherben. Die Stimme eines toten Geliebten, den sie kaum kannte, verfolgte sie, und sie vertraute sich einem trinksüchtigen Mann an, dem augenblicklich einfallen konnte, zuerst sie und danach sich selbst zur Hölle zu schicken. Es war auf jeden Fall ein Abenteuer.
Matilde warf sich im Bett herum und dachte an Hans’ Geschenk.
„Ein Wolf sollte dein Geschenk sein, Hans.“ Im Dunkeln spürte sie den Puls unter dem Verband an ihrer Hand. Sie konnte sich vorstellen, wie sich das Weiß mit dem Blut rot färbte.