Читать книгу Natürliche Rache. Schuldig. Julia. - B. L. Rámiz - Страница 6

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OHRWÜRMER

Der Bahnhof am Eingang der Stadt Añora war an diesem Morgen nicht gerade überfüllt. Spike war der erste, der dort ankam. Dann stellte Julia das Fahrrad auf dem Parkplatz ab und holte zwei Bahntickets heraus. Ihre Mutter wartete an der Tür auf sie mit dem kleinen Rucksack, in dem sie alles trug, was sie für ihre Reise nach Málaga benötigte.

»Dein Zug kommt gleich. Wo ist Carlos?«, fragte Emma.

»Ich bin sicher, er wird wie immer gerade noch rechtzeitig ankommen«, sagte die Tochter der Familie Smith und verdrehte die Augen.

»Nun, dein Zug wird in sieben Minuten kommen! Dein fauler Freund wird wohl an Land bleiben, hahaha!« Alex neckte seine Schwester, wann immer er die Möglichkeit dazu hatte.

»Halt die Klappe, du Clown!«, keifte Julia. Diese Streitereien waren geläufig, ihre Eltern waren daran gewöhnt, deshalb zogen sie es vor, sie zu ignorieren.

»Da ist er!« Daniel hob die Hand, um Carlos zu begrüßen. »Lauf, der Zug fährt gerade ein!«

Carlos war am Schwitzen, man konnte erkennen, dass er mit dem Fahrrad gefahren war, um nicht zu spät zu kommen. Er trug genau wie Julia einen Rucksack und seine schwarze Mähne reichte ihm bis zur Hüfte. Er war dabei in Richtung Parkplatz zu gehen, doch Daniel hielt ihn auf.

»Ich kümmere mich darum! Schnell in den Zug!«, rief er und zeigte auf die nächste Tür.

»Melde dich, wenn du ankommst, Liebling«, sagte Emma und umarmte ihre Tochter. »Und lerne so viel du kannst!«

Nachdem Julia und Carlos sich verabschiedet hatten, stiegen sie in den Zug und dieser fuhr sofort los in Richtung ihres Zieles.

Am Morgen war der Himmel etwas bewölkt, so dass Julia beschloss, ihre Sonnenbrille in einem der Fächer ihres Rucksacks aufzubewahren. Sie verstauten ihr Gepäck in den Gepäckfächern des Wagons, der völlig leer war.

»Es ist egal, sie sind nicht nummeriert«, sagte Julia, als sie sah, dass Carlos ihre Hand nahm, in der sie die Tickets trug, um die Sitznummer herauszufinden.

»Genau hier.« Carlos zeigte auf ein paar leere Plätze. »Entschuldigung, ich wäre fast zu spät gekommen.«

»Du bist immer zu spät, Carlos.« Trotz des Vorwurfs schien Julia nicht böse zu sein. Tatsächlich lächelte sie.

»Ich habe eben den Empfang von Präsident Crumb geschaut. UNFASSBAR! Findest du nicht auch?«, fragte Carlos und band seine Haare in einem Pferdeschwanz zusammen.

»Ja, deine Haare sind schon zu lang. Wann wirst du sie endlich schneiden?«, neckte ihn Julia.

»Das meine ich nicht!« Carlos sah Julia an, sie erwiderte den seltsamen Blick und schüttelte den Kopf. »DU WEISST ES NICHT!«

»Was weiß ich nicht?«, fragte Julia stirnrunzelnd. Sie kannte ihren Freund so gut, um zu verstehen, dass etwas ganz Wichtiges geschehen sein musste.

»Klar! Du wirst keine Zeit gehabt haben zu sehen, was passiert ist! Ihr wohnt weiter weg!«, rief Carlos aus. »Moore und der Präsident sind tot!«

»WIE!!?« Julia war fassungslos. »Wenn das ein Witz ist, dann ist er nicht lustig.«

»Im Ernst!«, sagte Carlos sehr aufgeregt. »Moores Chihuahua hat beiden die Halsschlagader aufgerissen und eine weiße Taube hat ihnen mit dem Schnabel die Augen ausgepickt!«

»Chihuahuas und Halsschlagader, Tauben und ausgepickte Augen ... Hast du etwa schon Marihuana geraucht?« Julia bat ihn immer, nicht zu kiffen, wenn sie etwas vorhatten, wo sie konzentriert sein mussten.

»Ich weiß, es klingt wie eine Facebook-Lüge! Aber es ist wirklich wahr! Alles ist live passiert!« Carlos erkannte, dass es für diejenigen schwer zu glauben sein musste, die es nicht gesehen hatten und deshalb nahm er sein Smartphone heraus, um ihr das Video zu zeigen.

»Und jetzt zeigst du mir einen von deinen Fakes«, sagte Julia gelangweilt. »Komm schon, hör auf mit diesem Unsinn und lass uns einen Blick auf den Konferenzablauf werfen.«

Aber Carlos hielt bereits das Video vor sie. Julias Gesicht war ein Gedicht: Zuerst lächelte sie leicht, dann verzog sie ihr Gesicht angewidert und drehte den Kopf zur Seite, als wollte sie es nicht mehr sehen. Aber es schien wahr zu sein. Er nahm sein Smartphone und suchte nach Nachrichten über den Empfang von Izan Moore, musste jedoch nur den Buchstaben ›I‹ eingeben, damit Google ›Izan Moore‹ als wahrscheinlichste Suche anzeigte. Er wählte eine der Nachrichten mit gerunzelter Stirn.

»VERDAMMT! ABER WAS ZUM TEUFEL?« Sie flippte völlig aus. »ES IST WAHR!«

»Überall auf der Welt wird über nichts anderes geredet! Deshalb war ich spät dran!«, sagte Carlos. »Die Taube und der Chihuahua wurden eingeschläfert, sobald die Leibwächter den Schock überstanden hatten«.

»Echt übertrieben! Oder?«, sagte Julia, aber das Gesicht ihres Freundes gab ihr zu verstehen, dass sie sich genauer erklären musste. »Ich meine nicht den Tod des Hundes oder der Taube! Auch nicht den dieser beiden Hurensöhne! Und obwohl ich denke, dass sie der Welt einen Gefallen tun, indem sie tot sind, wünsche ich niemandem einen so schrecklichen Tod.«

»Die Wahrheit ist, dass es ziemlich seltsam war. Man kann es im Video nicht sehen, aber der Chihuahua wollte in den Rosengarten und als er wieder eintrat, tat er es mit dieser Taube«, erklärte Carlos. »Da kamen schnell Theorien über trainierte Tauben auf.«

»Wer trainiert Tauben darauf, den Leuten die Augen auszustechen?«, fragte Julia und rümpfte dabei ihre Nase.

»Und das Seltsamste: Wer kann Tauben dazu trainieren, einen Chihuahua davon überzeugen zu können, Halsschlagadern aufzureißen?« Carlos schien an die schwierigste Frage in diesem Dilemma gekommen zu sein.

»Es spielt keine Rolle, wie auch immer, sie sind tot. Besser so.« Julia hielt die Angelegenheit für erledigt. »Jetzt werden wir den Ablauf checken.«

»Wie langweilig! Wir kennen den doch schon auswendig! Gestern haben wir mehr als drei Stunden damit verbracht, ihn durchzugehen«, beklagte sich Carlos.

Die Reise verlief zwischen Lachen und Beschwerden auf beiden Seiten. Am Ende gingen sie nichts durch, aber sie sprachen über die Pläne, die Julias Vater und Bruder hatten. Sie lasen ein bisschen und hörten Musik, bevor sie in einen tiefen Schlaf fielen.

»Leute, entschuldigt« Ein Schaffner klopfte zweimal auf Julias Schulter, die auf dem Sitzplatz am Gang saß. »Ihr habt Glück gehabt, dass ich hier vorbeikomme, der Zug ist gerade in Málaga angekommen und fährt gleich weiter.«

»Scheiße! Entschuldigung!« Julia sah den Schaffner etwas verlegen an. »Möchten Sie unsere Fahrkarten sehen?«

»Nein, danke, sie liegen auf dem Tisch, also habe ich sie bereits gesehen und euch weiterschlafen lassen«, antwortete der Schaffner lächelnd. »Auf geht´s! Raus jetzt!«

Die beiden jungen Leute packten ihre Taschen, nachdem sie sich beim Schaffner bedankt hatten und stolperten durch die Tür des Wagons, durch die sie eingestiegen waren. Das Hotel, in dem sie diese zwei Nächte verbringen würden, war ganz in der Nähe des Bahnhofs ›María Zambrano‹, also gingen sie zu Fuß. In Málaga war der Himmel etwas klarer, aber gemessen an der Richtung der Wolken schien es, als würden sie diesen bis Ende des Nachmittags vollständig bewölken.

Sie kamen im Hotel an, legten ihre Ausweispapiere vor, um für die Unterkunft einzuchecken und gingen auf ihr Zimmer. Es war ein einfaches Zimmer in einem billigen Hotel, das mit Gemeinschaftsbädern ausgestattet war. Sie verstauten ihre Kleidung in dem kleinen Schrank und steckten ihre Rucksäcke unter das Bett. Dann meldeten sie sich bei ihren Familien, dass sie sich bereits eingerichtet hatten und gingen nach draußen, um etwas zu essen.

Es fing an zu regnen, also gingen sie schneller, um einen Platz zum Essen zu finden, bevor es schlimmer werden würde. Ein Mann vor ihnen ging sehr langsam und führte einen Hund an der Leine. Er schrie ihn an.

»VERDAMMTER SCHEISSKÖTER! PISS JETZT! ES WIRD REGNEN!« Julia und Carlos sahen sich an und machten ein wütendes Gesicht. PISS VERDAMMT NOCHMAL, ICH WERDE KLATSCHNASS!« Als er das sagte, riss der Mann fest an der Hundeleine, so dass der Hund aufschrie.

Julia und Carlos wollten gerade eingreifen, als eine Möwe schnell herabstieg und dem Hundebesitzer auf seiner Glatze einen Kratzer verpasste. Er beschimpfte den Vogel ein paar Mal und riss dann wieder an der Leine. Die Möwe kratze ihn noch mehrmals und der Mann, etwas verängstigt, packte den Hund und rannte davon.

»Er hat es verdient!«, rief Julia aus. »Wir sollten jedoch vorsichtig sein, einige Möwen verteidigen ihr Gebiet.«

»Ihr Gebiet? Wir sind im Zentrum von Málaga!«, rief Carlos aus.

»Ich weiß nicht, ich schätze, sie ist desorientiert. Die Fauna spielt verrückt mit der Umweltverschmutzung und dem Klimawandel«, sagte Julia und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Bluse das Gesicht ab. »Wir werden klitschnass! Genau hier!«

Sie gingen in eine Bar, in der mehr junge Leute waren und bestellten ein paar vegetarische Sandwichs. Dann gingen sie zurück ins Hotel, um sich auszuruhen.

Am nächsten Tag hatten sie die erste Umweltkonferenz, die sich mit ›Der kurzfristigen Nicht-Nachhaltigkeit des Fleischkonsums‹ befasste.

Nach der Konferenz gingen sie auf ihr Zimmer zum Essen, ihre Mutter hatte ihnen einen grünen Salat mit Tofu und Pilzen zubereitet. Eine Nachricht ihres Vaters teilte ihnen mit, dass er bereits in Madrid angekommen war und dass Alex seinen Weg nach Asturien bereits fortsetzte.

Als sie zum Hotel gingen, kamen sie an einem kleinen Park vorbei, in dem scheinbar gebaut wurde. Ein Stadtarbeiter hielt eine Kettensäge. Zuerst dachten Julia und Carlos, er würde einige Äste abschneiden, aber dann sahen sie, wie er die Kette des Geräts an den Stamm ansetzte.

»Entschuldigen Sie, hören Sie mal. ENTSCHULDIGUNG!« Julia musste schreien, um trotz des Motorgeräuschs gehört zu werden. Der Arbeiter sah sie an. »KÖNNTEN SIE DIE FÜR EINE SEKUNDE AUSSCHALTEN?«

»Hallo, sorry, ich konnte dich mit dem Lärm nicht hören. Was gibt es?«, fragte der Arbeiter sie freundlich.

»Nun, ich habe gesehen, dass Sie den Baum fällen werden, aber er sieht nicht krank aus, dürften wir wissen warum?«, fragte die Tochter der Smiths mit ihrem amerikanischen Akzent.

»Nun, es ist eine Schande, ich war selbst dagegen, aber natürlich, der Chef sagt, was Sache ist«, begann der Mann im braunen Overall zu erklären, während er die Kettensäge hielt. »Eine Baufirma hat dem Gemeinderat Millionen für diesen Park gezahlt, sie werden hier Luxusbüros bauen.«

»HURENSÖHNE! Kann da nichts getan werden?«, fragte Carlos und trat zwei Schritte vor.

»Glaubt mir, ich bin genauso sauer wie ihr, aber wenn es um finanzielle Interessen geht, sind Grünflächen weniger wichtig als Scheiße«, sagte der Arbeiter, bevor er die Kettensäge erneut startete und sich daran machte, den Baum zu fällen.

Als er die Kettensäge an den Stamm anlegte, schien sich der Baum seltsam zu neigen. Der Arbeiter sah auf und wechselte die Position. Als die Kette den Stamm wieder berührte, fiel ein Ast zu Boden und traf die Kettensäge. Diese fiel dem Arbeiter aus den Händen, knallte gegen den Stamm und drehte sich um. Eine Sekunde später lag der Arbeiter ohnmächtig auf dem Boden. Sein Arm lag ungefähr drei Meter von ihm entfernt. Julia und Carlos riefen entsetzt den Notruf an. Der Krankenwagen ließ nicht lange auf sich warten.

Nach diesem Zwischenfall hatten sie keine andere Wahl, als ihre geplanten Aktivitäten fortzusetzen, aber keiner von ihnen hatte jetzt mehr Appetit. Also nahmen sie sich Zeit bis zur Nachmittagskonferenz und gingen dann ins Hotel, um sich auszuruhen. Keiner von ihnen konnte das Bild des Armes aus dem Kopf bekommen.

Als sie im Hotel ankamen, gingen sie sofort schlafen, ohne zu viel zu reden. Julias Handy klingelte. Es war eine Nachricht von ihrem Bruder.

»Alex hat sich bereits auf seinem Campingplatz eingerichtet. Gute Nacht.« Julia hatte keine Lust zu reden, der Schreck steckte ihr noch in den Knochen.

»Geht es dir gut?«, fragte Carlos besorgt.

»Ja, es geht ... Nun, morgen wird es mir wieder besser gehen«, antwortete Julia. Dann küssten sie sich und kuschelten sich aneinander. Zum Glück schliefen sie sofort ein.

Um acht Uhr klingelte der Wecker auf Carlos Handy. Er schaltete ihn sofort aus, damit Julia nicht aufwachen würde und ging Frühstück holen, um seine Freundin aufzumuntern. Als er zurückkam schlief sie noch.

»Schatz ...«, flüsterte Carlos, »wach auf, ich habe Frühstück gebracht.«

Julia wachte mit einem Lächeln auf und küsste Carlos, bevor sie das Obst-Frühstück aß, das er für sie vorbereitet hatte. Er bemühte sich immer mit kleinen Aufmerksamkeiten um sie.

An diesem Morgen hatten sie die Konferenz über ›Nicht recycelbare Abfälle und wie man sie vermeidet‹. Dann holten sie ihre Sachen im Hotel ab und bereiteten sich auf den Rückweg nach Añora vor. Sie brauchten nicht lange, bis sie wieder im Zug saßen.

»Die Vorträge waren großartig, es ist eine Schande, dass wir sie nicht so genießen konnten«, sagte Julia. »Zum Glück weißt du immer, wie du mich aufmuntern kannst. Danke für das Frühstück heute Morgen.«

»Nur das Beste für meine Lieblingsfreundin«, antwortete Carlos, zwinkerte ihr zu und streckte seine Zunge heraus.

»Lieblings? Hast du etwa noch andere?«, fragte Julia und beide brachen in Lachen aus.

Der Zug befand sich bereits auf halber Strecke, als eine starke Bremsung ihn entgleisen ließ. Zum Glück saßen Carlos und Julia mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, so dass es nur wenige blaue Flecken gab, als sie beim Umfallen des Wagons zu Boden fielen. Eine Frau neben ihnen, die auf der anderen Seite des Gangs in Fahrtrichtung gesessen war, schoss nach vorne und war den Fensterscheiben ausgesetzt, die ihr den Bauch durchschnitten. Eine große Blutlache überschwemmte den Bereich.

Unter Schock gelang es Julia und Carlos aus dem Zug auszusteigen. Sie schauten sich überall um. Sie schrien nach Überlebenden. Niemand antwortete. Als sie die Lok erreichten, sahen sie entsetzt den Fahrer an. Er war vom Aufprall herausgeschleudert worden. Julia sah, wie sich etwas auf seiner rechten Wange bewegte, die voller Blut war. Sie stoß mit ihrem Arm Carlos an, damit er es auch sehen konnte. Mehrere Ohrwürmer kamen aus seinem Ohr.

Natürliche Rache. Schuldig. Julia.

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