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Kapitel II Ich erinnere mich
ОглавлениеIn der nächsten Zeit musste Omka manchmal ins Krankenhaus zu Routineuntersuchungen. Man wollte wissen, ob sie den Schock verkraftet hatte, nahm ihr immer wieder Blut ab und schickte sie auch auf die Gynäkologie und die innere Medizin.
Als sie Josef abends abholte, sagte sie, der Gynäkologe habe ihr gesagt, dass es keine Anzeichen für eine erfolgte Geburt an ihr gebe, sie also nach höchster Wahrscheinlichkeit keine Kinder habe. Er fragte sie, ob sie das traurig finde, und sie sagte ja. Trotzdem war es ihm irgendwie zumute, als hätte jemand eine Last von ihm genommen, er schämte sich aber dafür, dass er sich insgeheim freute, dass sie keine Kinder hatte, weil das etwas ganz anderes für ihn bedeutete.
»Musst du nicht mehr her?«, fragte sie ihn.
»Nein«, sagte er »ich war schon einmal bei der Nachkontrolle. Sie haben gesagt, alles verheilt gut.«
Sie lachte kurz auf und fasste vorne an sein Hemd, an dem ein Knopf in der Mitte aufgegangen war, und legte ihren Finger kurz an die Narbe. Ihre Augen weiteten sich. »Weißt du nicht mehr, wie die Krankheit überhaupt heißt«, fragte sie ihn.
»Nein«, sagte er. »Das Blut nimmt zu wenig Sauerstoff auf, sagten sie mir. Jetzt habe ich auf jedem Lungenflügel einen Schrittmacher. Dass meine Lunge Schritte macht, hab ich mir vorher noch nie vorgestellt«, sagte er, und sie lachte.
»Du wolltest also an der Luft ersticken«, sagte sie.
Er glaubte erst, er habe sie falsch verstanden. Er sah weg, sah sie wieder an, und ihr fragender Blick war auf ihn gerichtet.
»Nein, ich …«, sagte er, »aber nein, Deshalb habe ich mich ja operieren lassen.«
»Aber eigentlich wolltest du ersticken«, sagte sie noch einmal. »Dein Körper wollte es, und du hast es verhindert.«
Er schaute sie an und fand in ihrem Gesicht kein Anzeichen von Witz oder Ironie. Er fühlte sich plötzlich irgendwie schuldig, und dann wurde er böse darüber, dass sie offensichtlich erwartete, dass er sich dafür rechtfertigte, sein Leben gerettet zu haben.
»Was soll ich jetzt sagen?«, fragte er. »Soll ich mich entschuldigen, dass ich noch lebe? Muss ich mich erklären, weil ich nicht ersticken wollte?«
Sie umarmte ihn so schnell sie konnte und küsste ihn auf den Mundwinkel. »Jetzt hast du mich falsch verstanden«, sagte sie. »Ich meinte das nicht so, ich habe nur eben darüber nachgedacht, was wir ohne den medizinischen Fortschritt wären. Wie viele Leute dann noch leben würden. Ich meine, jedes Kind, das einmal eine Operation hatte oder Medikamente gebraucht hat, wäre dann tot.«
Er sah über ihre Schulter weg in den perlgrauen Himmel, und sein Ärger verflog. »Bist du mir jetzt böse«, fragte sie ihn.
»Nein, nein«, sagte er schnell und sah aus dem Fenster, weil es ihm unangenehm war. Das Gras war hochgewachsen und musste dringend gemäht werden, dachte er sich.
»Schade«, sagte sie in die entstandene kurze Stille hinein, »ich habe dich noch nie böse gesehen«, und sah ihn von der Seite aus schief an.
An seinem Hemd vorne zeigte sich ein kleiner roter Fleck.
Am Abend vor dem Zubettgehen wusch sie sich und flocht ihre Haare zu Zöpfen. Er war die ganze Zeit nervös gewesen, seit sie ihm gesagt hatte, sie hätte ihn noch nie böse gesehen. Ständig dachte er daran, wie sie das gemeint haben könnte. Sein Kopf war wirr, und er war erregt, ohne zu wissen, warum. Er hörte das Wasser rauschen, und es war ihm, als würde er etwas Geheimes belauschen, etwas, das er eigentlich gar nicht hören durfte, und fühlte sich wieder wie ein kleines Kind.
»Steh doch nicht da wie bestellt und nicht abgeholt«, dachte er sich und ging in die Küche. Dort fand er eine halbvolle Flasche Rotwein und nahm sich ein kleines Glas davon.
»Wahrscheinlich lebe ich schon zu lange alleine. Wenn man immer ohne Frau ist, versteht man die Frauen insgesamt wahrscheinlich überhaupt nicht mehr. Ich hätte ja fragen können, wie sie das gemeint hat«, dachte er weiter. Ihm fiel ein, dass er sich jetzt genau darüber Gedanken machte, worüber er sich eigentlich keine machen wollte, und dass der blaue Raum etwas damit zu tun hatte, mit dem, dass man sich nicht immer alles überlegen musste, nicht immer in den Strukturen dieser Welt herumirren musste, sondern frei handeln konnte. Aber bevor er zu Ende gedacht hatte, stand Omka bei ihm in der Küche.
»Ich wollte nur noch«, sagte sie, »darf ich mir ein Glas Wasser nehmen?« und lächelte ihn mild an.
Da dachte er daran, dass sie im Bad oben schließlich auch Wasser hatte und dass sie deshalb doch nicht in die Küche zu kommen brauchte, und glaubte, etwas zu begreifen, was mit der Möwe zu tun hatte und der Situation am Fluss. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Er packte sie am Arm, trat nahe an sie heran und sagte: »Omka, du hast mich heute wirklich wütend gemacht! Was denkst du dir eigentlich dabei?«
»Du tust mir weh«, stieß sie hervor, und ihre Augen wachten auf. »Lass mich los, hast du den Verstand verloren?«
Er erschrak und ließ sie los. Sie rieb die Stelle an ihrem Arm, wo sich die Haut rot verfärbte. Ihr Blick fiel auf das Glas.
»Du bist betrunken.«
»Nein«, sagte er, »das stimmt nicht!«
»Doch«, sagte sie, »und ich war heute in der Klinik, und sie haben mir gesagt, dass ich keine Kinder habe, aber schon mindestens 35 Jahre alt bin, ich weiß noch immer nicht, wer ich bin und was überhaupt passiert ist, wahrscheinlich habe ich gar niemanden außer dir, und du benimmst dich, als wäre ich ein … Spiel…zeug!«
Ihr Blick senkte sich auf den blauen Lanolinfußboden, und sie begann zu weinen. Er fühlte sich schäbig, wie nach einer Straftat.
»Ich dachte«, murmelte er, »entschuldige bitte.«
Das war die erste Nacht, dass sie bei ihm im Bett schlief.
Als er am nächsten Morgen aufstand, war sie schon wach und hatte Kaffee gekocht. Er freute sich und sah sie an.
»Deine Augen sind so dunkel wie die von einem Vogel oder einem Fisch, weißt du das«, sagte er lachend zu ihr und nahm die Zeitung. Der Vorfall vom letzten Abend geisterte noch in seinem Kopf herum, aber er beschloss, ihn zu verscheuchen. Schließlich ist man seinen Gedanken ja nicht ausgeliefert.
Im Radio gab es Nachrichten.
»Fische haben doch keine dunklen Augen«, sagte sie und sah ihn an. Die Knöpfe an seinen Ärmeln waren offen, an seinem Kinn war ein orangefarbener Fleck. Sie beobachtete ihn, wie er sehr aufmerksam sein Frühstücksei aß. Sein gutes, helles Hemd war mit einer Stoffserviette bedeckt, die in seinem Krawattenbund verschwand, er hob langsam die Hand mit dem Löffel, worauf das zitternde und schleimig aussehende Eiweiß war, seine Augen waren weiter geöffnet als sonst, und er führte den Löffel langsam und konzentriert zum Mund, und trotzdem fiel manchmal ein Tropfen auf die Serviette. Die Finger seiner linken Hand spielten nervös mit seinem Kragenknopf. Er war ein schöner Mann, kam ihr aber in diesem Moment und mit dem orangefarbenen Fleck am Kinn plump vor und gewöhnlich, und sie dachte, dass schließlich nicht jeder Mensch etwas Besonderes sein konnte.
»Mir ist kalt«, sagte sie dann.
»Ich muss jetzt zur Arbeit«, sagte er, »lass dir doch ein heißes Bad ein.«
»Bonn/Bad Honnef«, sagten sie im Radio, »im Prozess gegen die Pflegeeltern Petra und Ralf W., die ihre neunjährige Pflegetochter Anna in der Badewanne ertränkt haben, gibt es neue Erkenntnisse. So wurde gestern festgestellt, dass die psychiatrischen Gutachten, die bescheinigten, das Kind zeige autoaggressives Verhalten und verletze sich selbst, ausgestellt wurden, ohne das Kind jemals persönlich in Augenschein genommen zu haben. Besorgte Nachbarn, die schon vor einiger Zeit die Schreie des Kindes vernommen hätten, hätten mehrmals das Jugendamt angerufen, es sei jedoch nichts geschehen. Das Gericht prüft, ob diese Fahrlässigkeit zum Tod der kleinen Anna geführt hat.«
Omka hatte zugehört. »Daraus kann man dem Jugendamt keinen Strick drehen«, sagte sie, »auch wenn ein Kind augenscheinlich sexuell missbraucht wird, hat das Jugendamt keinen Handlungsbedarf, weil innerfamiliäre Angelegenheiten immer im Sinne der Kinder geregelt werden müssen.«
Er sah sie erstaunt an. »Wie meinst du das?«, fragte er sie.
»Ich meine, dass das höchste Wohl immer der Schutz der Familie ist, und das Jugendamt muss abwägen, inwieweit zum Beispiel eine unbelegte Missbrauchsbehauptung zu überprüfen gerechtfertigt ist, denn wenn man das nicht beweisen kann, zieht das massive innerfamiliäre Probleme nach sich, allein schon durch den erhobenen Vorwurf. Das ist hier wahrscheinlich das Gleiche. Jemand hört das Kind schreien, die Pflegemutter sagt, das Kind ist gestört, weil die Mutter zum Beispiel Alkoholikerin war und es Angst vorm Wasser hätte, und das Jugendamt geht davon aus, dass …«
Plötzlich hört sie auf zu reden und schaut in die Luft.
Dann sieht sie ihn an.
»Ich bin Rechtsanwältin«, sagt sie.
In dem Moment fiel ihm die Möwe wieder ein und der leere Blick von Omka. Das passt irgendwie zusammen, dache er. Und aus Gründen, die er sich selbst nicht erklären konnte, war er auf einmal stolz auf sie.
»Ich dachte schon, dass du eine solche bist«, sagte er, ohne viel nachzudenken.
»Eine solche? Was für eine?«, fragte sie und lachte.
»Na, eine ganz Knallharte. Eine emanzipierte, selbständige, junge Karrierefrau, meine ich natürlich«, sagte er, umarmte sie und wirbelte sie herum, und sie lachten beide.
»Du bist gemein«, sagte sie und biss ihm leicht ins Ohr.
Sie küssten sich. Er sah das Muttermal an ihrem Hals an und freute sich, wusste aber nicht warum. Ein Stück der Leichtigkeit war wieder da.
Am Nachmittag, als er bei der Arbeit war, ging sie zum See, an dessen Ufer man sie gefunden hatte, und setzte sich auf die scharlachfarbene Bank. Von dort aus konnte man fast den ganzen See überblicken. Auf dem Weg dorthin hat sie einen kleinen Stein aufgehoben und die ganze Zeit mit sich getragen. Sie dachte lange nach. Dann warf sie den Stein ins Wasser. Schon als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, dass dort, wo der Stein einschlug, in der Mitte der sich ausbreitenden Ringe, etwas auftauchen könnte, der Kopf eines Mannes wie im Märchen vom Jäger und der Nixe oder die Hand einer Meerjungfrau oder eine Seeschlange, die aus dem Wasser schaut. Sie dachte lange nach. Dann schaute sie auf, der Himmel war grau mit den gleichen rosa Wolken wie an dem Tag, als sie zum ersten Mal in Josefs Haus übernachtet hatte. Es kam ihr sehr lang vor, dass sie schon bei ihm war, und sie dachte, das sei ein gutes Zeichen. Obwohl ihr immer wieder der ekelhafte Gedanke kam, dass er eigentlich nichts Besonderes war, fasste sie einen stillen Entschluss.
»Mein Gedächtnis kommt zurück«, sagte sie am Abend zu ihm, »langsam, aber es wird immer mehr.«
Er sah sie an und wusste nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht.
»Weißt du, wie du heißt?«, fragte er.
Sie nickte. »Omka Rampelhoff«, sagte sie dann.
»Das passt ja gar nicht zusammen«, sagte er und nahm einen Schluck Wein.
»Natürlich nicht. Denkst du, wenn ich mit Nachnamen Enduni oder so was Exotisches hieße, dass ich dann einen so ausgefallenen Vornamen brauchen würde?«
Er lachte.
»Und jetzt – muss man das nicht der Polizei sagen?«
»Doch«, sagte sie »morgen.« Sie schaute auf das Gemüse auf ihrem Teller.
»Ist etwas?«, fragte er.
Sie sagte eine Weile nichts. Dann flüsterte sie: »Ich … was ist, wenn ich einen Mann habe?«
Ihm fiel ein Bild ein. Ein weiß blühender Kirschbaum mitten in der stockdunklen Nacht. Etwas Weißeres kann es wohl nicht geben, dachte er sich, und ihm wurde unbehaglich.
»Ich meine … nur weil ich keine Kinder habe …«, sagte sie.
»Du brauchst dich nicht zu sorgen«, sagte er. »Wenn du keinen Mann hättest«, sagte er fröhlich, »dann würde ich dich wahrscheinlich auch nicht mehr mögen. Es gibt einen französischen Philosophen, der sagt, Liebe besteht hauptsächlich aus Neid. Einen, den keiner will, will auch keine haben.« Er stockte, sprach immer langsamer und sagte dann: »Ich wollte jetzt eigentlich … ich meine …«
Da stand sie auf und schlug ihn. Sie schlug ihm ins Gesicht und setzte sich wieder hin. Er war fassungslos.
»Was …«, sagte er, und als er sah, dass sie nicht reagierte, sagte er plötzlich aufspringend: »Sag mal, was soll denn das? Omka! Bist du nicht mehr bei Trost?«
Sie sah ihn an. »Was ist denn?«, fragte sie ruhig.
»Ich … ich meine, du … du hast mich eben geschlagen, mitten ins Gesicht und … und fragst mich, jetzt fragst du mich, was los ist?«
Ihre Augen wurden leer. »Du hast mich auch nicht gefragt, ob du so kalte Sachen sagen darfst, du sagst sie einfach.« Sie drehte eine Strähne ihres Haares zwischen den Fingern und sah ihn schief von der Seite mit zusammengekniffenen Augen an.
»Was?«, fragte er ungläubig, »deshalb hast du mich geschlagen?«
Sie zog die Augenbrauen hoch und sagte mit demselben leeren Blick: »Ja.«
»Und was daran kränkt dich so, dass du mich schlagen musst?«, fragte er und hielt sich die Hand immer noch an die Wange, obwohl sie nicht mehr wehtat.
»Ich will nicht reden«, sagte sie, »sonst hätte ich dich nicht geschlagen.« Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und wollte gehen, als sie ihn hastig fragte: »Bist du mir jetzt böse?«
Er drehte sich um und sah sie erstaunt an. »Meinst du das ernst?«, fragte er.
»Ja«, sagte sie, und ihr Blick war klar und ohne Ironie.
Er merkte, dass die Narbe an seiner Brust zu jucken begann und dachte, das sei ein gutes Zeichen, dass die Hautränder wieder zusammenwuchsen.
»Ich … ja, ich bin dir böse!«, sagte er zögerlich.
Ihr leerer Blick machte ihm ein banges Gefühl und forderte ihn gleichzeitig zu etwas heraus, aber er wusste nicht genau, zu was. Sie stand auf und trat einen Schritt auf ihn zu. Draußen war es schon lange dunkel. Ihre Augen ruhten auf ihm.
»Wie böse denn?«, fragte sie, und ihr leerer Blick verschwand.
»Ich … was soll die Frage«, sagte er. »Das ist doch absolut unwichtig. Ich verstehe nur nicht, warum du mich ins Gesicht geschlagen hast. Du hättest immerhin etwas sagen können, und wir hätten uns aussprechen können, wir hätten ein Glas Wein trinken können, und ich hätte dir erklären können, was ich gemeint habe und dass ich es wahrscheinlich einfach zum genau falschen Zeitpunkt gesagt habe. Dann wäre das alles nicht …«
Er hörte auf zu sprechen, weil sie noch einen Schritt auf ihn zumachte. Sie stand ganz nah. Ihre Augen waren jetzt wach.
»Dann wehr dich doch«, sagte sie leise, »oder hast du Angst, weil ich eine Frau bin?«
Sein Blick fiel auf das Muttermal an ihrem Hals, und in dem Moment dachte er, es passe nicht zu ihr. »Sie ist verrückt«, dachte er kurz, und ihm fiel ihr Schwimmunfall ein und das Trauma und der Gedächtnisverlust und die Psychiatrie.
»Omka«, sagte er leise, »was ist denn mit dir?«
»Wieso fragst du, was mit mir ist? Wieso tust du so, als wüsste ich nicht, was ich tue? Ich bin doch nicht unzurechnungsfähig!«
Sie sah ihn wütend an. Seine plötzliche Milde und sein Verständnis machten sie rasend.
»Ich bin doch …«
Sie sah ihn an, wie er vor ihr stand, die Hand gehoben wie zur Beschwichtigung, wieder kam ihr seine schüchterne Art in den Sinn, sein Verständnis für alles und dass er eigentlich nichts Besonderes war, und das ungeachtet dessen, dass er sich um sie kümmerte, sie bei ihm wohnte und er gut zu ihr war, seit sie sich kannten. Sie bekam Angst. Es lief ihr kalt über den Rücken, vor ihr tat sich ein dunkles Loch auf, und etwas drückte sie am Hals, etwas, das sie schon kannte. Der blaue Plastikfußboden in der Küche reflektierte das Licht ein bisschen.
»Josef«, sagte sie »ich liebe dich. Entschuldige.«
Er war wie vor den Kopf gestoßen und wollte etwas erwidern, da war sie schon zur Tür hinaus.
In dieser Nacht bildete er sich ein, etwas singen zu hören. Sein rechter Arm war eingeschlafen, weil Omka darauf lag. Er strengte sich an, genauer hinzuhören, konnte aber nicht genau herausfinden, woher das Singen kam. Es klang wie ein Wimmern, Klagen und dann wieder wie ein hochgezogener Ton, eine traurige Melodie. Er schlief kaum und träumte wirr. Ein Fisch mit einem Pfeil oder einer Harpune im Bauch kam zu ihm geschwommen und sagte: »Zieh es heraus, zieh es heraus«, ein Teller gebratener Finger stand auf einer Stiege und sagte: »Steig da hinauf, steig da hinauf«, und die Finger deuteten die Stiege hoch und als er oben war, kamen zwei Kugeln durch die Wand und fuhren in seine Brust, dort, wo die Narbe war, aber es machte ihm nichts aus.
Als er aufwachte, war er nass geschwitzt. Er sah Omka an. »Eigentlich ist sie ein Mädchen«, dachte er bei sich.
Da machte sie die Augen auf und sah ihn an.
»Guten Morgen«, sagte er.
Sie gähnte. »Hast du gut geschlafen?«, fragte sie.
»Nicht wirklich«, meinte er, »ich habe die ganze Nacht ein Geräusch gehört, das klang, als würde jemand vor dem Fenster weinen und singen.«
»Ach das«, sagte Omka, »im ersten Stock ist der Fensterladen nicht eingehängt, weil an der Halterung etwas kaputtgegangen ist. In einer windigen Nacht klingt das dann komisch.«
Beim Frühstück begann sie auf einmal, ohne besonderen Anlass, zu reden. Es sprudelte aus ihr heraus, nachdem es länger still gewesen war und nur das Radio geredet hatte: »Josef, ich liebe dich, und ich möchte bei dir bleiben. Ich habe keinen Mann, seit gestern erinnere ich mich wieder daran. Auch wenn ich einen hätte, würde ich ihn jetzt nicht mehr wollen, sondern ich will dich. Ich kann mir eine Zukunft vorstellen mit dir, und ich bin gern bei dir und möchte nicht mehr ohne dich sein.«
Er ließ den Löffel fallen.
Am Nachmittag rief sie bei der Polizei an und sagte, sie könne sich an ihren Nachnamen erinnern und an ihren Beruf.
»Dann haben wir ja etwas in der Hand«, sagten die Polizisten, »wir melden uns. Unter dieser Nummer?«
»Ja«, sagte Omka.
Auf dem Weg zur Arbeit sann er dem Ganzen nach. Seit zwei Monaten war sie bei ihm. Ihr leerer Blick machte ihm auf eine Art Angst, doch diese Angst oder was es war abzulegen schien ihm nicht sonderlich erstrebenswert. Ihre Reaktionen kamen ihm entweder unterkühlt oder hysterisch vor, das Mittelmaß, wie es vernünftigen Menschen eigen ist, kannte sie offenbar nicht. Ihm fiel ein, dass sie gesagt hatte, Fische hätten keine dunklen Augen, und etwas daran rührte ihn. Sie war wirklich ein Mädchen! Und dabei Rechtsanwältin! Er dachte an ihre weiße Haut, an ihren leeren Blick, wenn sie nachts in seinen Armen lag, und erschauderte. Sie hatte ihm gesagt, sie würde ihn lieben, und er hatte nichts erwidert.
Das schien ihr nichts auszumachen. Er fragte sich, ob es ihr genüge, ihn zu lieben, und ob sie überhaupt daran interessiert war, dass er sie auch liebe. Dann dachte er wieder an ihre Fürsorge, an die Mühe, die sie sich mit dem ganzen Haushalt gab, und an das, was ihr zugestoßen war, und da erschien sie ihm ungeheuer tapfer und voll Durchhaltevermögen mit einem unbändigen Lebenswillen.
Am Abend hatte Omka eine französische Bouillabaisse gekocht und sah ihn strahlend an, als er fragte, ob es etwas Neues gäbe.
»Ja«, sagte sie, »die Polizei hat angerufen.«
Sie erzählte, dass man herausgefunden hatte, dass sie aus dem Schwarzwald kam und dort ein Haus besaß.
»Und sonst nichts?«, fragte er und dachte bange daran, dass sie doch einen Mann haben könnte.
»Doch, es stimmt, dass ich Rechtsanwältin bin. Ich arbeite in der Verwaltung einer Restaurantkette und hatte ein halbes Jahr Bildungskarenz genommen. Und …«, sie stockte.
»Was denn?«, fragte er.
»Ich bin heute genau 36, geschieden und habe keine Kinder«, sagte sie leise. »Heute genau?«, hakte er nach.
»Ja«, sagte Omka »ich habe heute Geburtstag.«
Es war der neunzehnte September.
Er sah in seinen Teller.
»Jetzt habe ich gar nichts für dich«, sagte er. »Ich wusste ja nicht, dass …«
»Ich auch nicht«, sagte sie, und sie lachten.
Er sah ihr zu, wie sie ihm noch eine Kelle Suppe nachschöpfte, sah ihren Hals von der Seite und ihren ruhigen, konzentrierten Blick, der auf die sehr volle Kelle gerichtet war, ihre andere Hand, die sie, ohne hinzusehen, nach seinem Teller ausstreckte und dann langsam die dampfende Suppe in den Teller goss.
»Die ist wirklich sehr gut«, sagte er. »Was ist da drin?«
»Ach, nichts Besonderes«, sagte sie, »frischer Fisch, Zitrone, Knoblauch, Weißwein, Suppengemüse, frische Kräuter, Olivenöl und ein bisschen Chili. Aber es ist sehr wichtig, dass man Fischabfall hat für die Brühe. Köpfe, Gräten, Flossen, alles Mögliche. Sonst wird sie nicht gut.«
Ihm wurde ein bisschen unbehaglich zumute. Die Frage war eigentlich absichtslos gewesen, man fragt es eben.
»Und … das braucht man unbedingt, ich meine, muss das alles … da rein?«
»Ja«, sagte sie, »in die erste Brühe. Die macht man aus dem Fischabfall und dem Suppengemüse, daraus wird der Fond. Und darin kocht man dann die ganzen schönen Zutaten, die Fischfilets, das geputzte Wurzelgemüse, den Zitronensaft, das Olivenöl und so. Dann hat man am Ende die Bouillabaisse. Aber für den Fond braucht man den Fischabfall.«
Als sie sich ein Stück vom Knoblauchbaguette abbrach, drehte er sich um und sah eine Plastiktüte an der Türklinke der Küche hängen, wo Omka die Gemüseschalen und die ausgekochten Suppenzutaten hineingetan hatte, und ein Fischkopf sah ihn durch das milchige Plastik an. Das eine Auge, das er sehen konnte, war trüb. Es begann, ihn zu ekeln.
»Ich kann nicht mehr«, sagte er, »danke, vielen Dank. Aber ich habe wirklich genug. Und das Knoblauchbrot ist auch so sättigend.«
Ohne es zu wollen, sah er nochmals zu der Plastiktüte mit dem Fischkopf, und Omka folgte seinem Blick. Sie kniff die Augen zusammen und schaute ihn prüfend an. Dann stand sie auf und ging in Richtung Küche, langte in den Plastikbeutel und holte den Fischkopf heraus. Sie warf ihn auf ihren Teller.
»Was?«, fragte er.
»Nichts«, sagte sie. »Das ist doch nur ein Fischkopf«, sagte sie und tippte mit dem Zeigefinger von hoch oben drauf, ihre Stimme bekam etwas Scherzhaftes, »davor braucht es einen weder zu ekeln, noch braucht man Angst davor haben. Er war in der Suppe, und jetzt ist er im Müll, aber man könnte ihn essen und würde es auch überleben. In Japan hätte man damit gar kein Problem. Da findet man es eher komisch, den Kopf übrigzulassen.«
»Ich war noch nie in Japan«, sagte er unbeholfen und lachte und räusperte sich gleich darauf.
Da steckte sich Omka den Fischkopf in den Mund, zerkaute ihn laut krachend und schluckte ihn hinunter. Seine Nackenhaare sträubten sich, und die Gabel fiel ihm aus der Hand.
Sie lachte.