Читать книгу Zitronenbaiser - Barbara Bilgoni - Страница 6
ОглавлениеLimonentage
Lucia öffnete verträumt ihre Augen. Zu dieser frühen Stunde war noch keineswegs klar, ob heute ein Limonen- oder ein Zimttag sein würde. Lucia teilte seit ihrer Kindheit die Tage, je nachdem, wie sie verlaufen waren, in drei unterschiedliche Kategorien.
Als Limonentage bezeichnete sie ihre absoluten Lieblinge. Seit Lucia als Kind öfter bei ihrer Nonna auf Sizilien, in Taormina, ihre Ferien verbracht hatte, waren die wunderbaren, prallen, gelben, saftigen italienischen Zitrusfrüchte ihr Lieblingsobst. Sie liebte die leuchtende, fröhliche Farbe und den aromatischen, sauren Saft. Auf Sizilien hatte sie gern unter den herrlichen Zitrusbäumen am Hügel ihrer Großeltern gelegen und war ihren Tagträumen nachgehangen.
So konnte sie beim Betrachten der Wolken die Zeit vergessen. Sie träumte von edlen Prinzen auf weißen Pferden und stolzen Rittern in ihren glänzend silbernen Rüstungen. Gegen Abend, wenn es Zeit zum Heimgehen war, kam ihre Nonna immer und holte ihre verträumte Bambina nach Hause. Liebevoll rügte sie das gedankenverlorene Mädchen – was habe es denn wieder einmal so lange sinniert? – die Großmama lächelte aber dabei und tätschelte zärtlich Lucias Kopf.
Bei Nonna gab es am Abend immer ein großes Familienessen, meist mit selbst gemachter Pasta, Muscheln direkt aus dem Meer, gegrilltem Fisch mit Peperoni und Salat und als Nachtisch noch Zuppa Inglese alla Romana oder Pannacotta oder auch einfach, aber mindestens genauso genüsslich: Erdbeeren mit Schlagobers.
Lucia liebte diese Abendessen im engsten Kreise. Da waren immer der Onkel Umberto mit seiner Frau, Maria, die stets stritten, die Cousins Alfredo und Ricci und Cousine Arabella, die nichts als Unfug im Kopf hatten, bei Tisch. Und natürlich auch Nonno, der Patriarch. Er saß stets am Kopf der Tafel, denn er war das absolute Familienoberhaupt. Wenn er zu essen begann, dann erst durften alle anfangen. Wenn Entscheidungen anstanden, wurden an der Abendtafel immer das Für und Wider abgewogen, jeder brachte seine Meinung ein. Letztlich wurde aber schon rein aus Respekt vor dem Alter immer Nonnos Ansicht gefolgt. Er wusste für alles einen Rat und seine Meinung zählte.
Diese wunderbaren Erinnerungen gaben nun diesen besonders schönen Tagen ihren Namen. Und das waren eben die Limonentage: Frisch, prall, fröhlich! Lucia liebte sie.
Die Zimttage wiederum waren etwas anders.
Lucia mochte Zimt sehr gern. Besonders wenn es draußen kalt war. Im Winter eine Prise davon in den Kaffee, den sie schon als Kind gern trinken mochte, oder ein bisschen von dem Gewürz auf den Milchreis, das gab Lucia das heimelige Gefühl des Trostes. Zimt schmeckte warm, etwas holzig, ein bisschen scharf und ein klein wenig süß. Der Geschmack spendete ihr wärmende Geborgenheit. Zimt hatte früher ihre Mutter stets schon verwendet, gerade wenn es draußen ungemütlich war, nach einem langen Winterspaziergang, nach dem Rodeln oder Eislaufen. Aber auch im Sommer liebte Lucia diesen vertrauten Geschmack. In ihrem Lieblingseissalon gleich um die Ecke bestellte sie an Zimttagen gern den „Coppa a la Canella“. Der bestand aus Vanille-, Stracciatella- und Haselnusseis übergossen mit Zimtlikör und einem Tupfer Schlagobers. Mhm, der war eine Sünde wert!
Ja, und dann gab es auch noch die Anistage. Das waren die ganz schlimmen! Auf die wollen wir aber jetzt nicht näher eingehen. Die waren einfach zum Vergessen. Lucia mochte sie gar nicht. Aber auch solche kamen natürlich immer einmal wieder vor.
So! Also welcher Tag würde das heute wohl werden? Lucia blinzelte und überlegte, wollte sich aber noch nicht festlegen. Das würde sich im Laufe des Tages ohnehin zeigen.
Die Sonne schien freundlich durchs Fenster.
Von Weitem, aus dem Park schräg gegenüber, hörte sie Vogelgezwitscher. Wenn sie richtig lag, dann waren das Amseln, die ihr Morgenlied trällerten. Vögel starten zu unterschiedlichen Zeiten mit ihrem Gesang und halten die Artenreihenfolge dabei exakt ein. Das hatte Lucia einmal gelesen. So singen beispielsweise der Star fünfzehn und die Kohlmeise dreißig Minuten vor Sonnenaufgang. Der Gartenrotschwanz ist mit seinem Einsatz achtzig Minuten vor dem Morgenrot ein echter Frühaufsteher.
Lucia räkelte sich, gähnte ausgiebig, streckte ihre Arme in die Höhe, schlug die Decke zurück und schaute auf ihre nackten Beine, die von der kurzen Pyjamahose kaum verdeckt waren. Sie wackelte mit den Zehen. Die rot lackierten Nägel leuchteten fröhlich und unternehmungslustig.
Ich beschließe einfach, dass das heute ein Limonentag werden soll, dachte sie und ging gähnend ins Bad. Ihr war einfach danach! Der Tag versprach, schön zu werden. Was sollte also schiefgehen? Sie duschte mit ihrem Limonen-Duschgel, rubbelte die Haut sanft mit einem Luffaschwamm ab, trocknete sich mit ihrem weichen Badetuch den ganzen Körper ab. Dann cremte sie sich mit Limonen-Körperbutter ein. Die war ein Geschenk ihrer besten Freundin Lisa zum sechsundzwanzigsten Geburtstag und war natürlich selbst hergestellt, eigenhändig von der Freundin in ihrer Hexenküche mit Kakaobutter, Mandelöl und ätherischem Zitronenöl. Lucia liebte diese Creme. Sie gab der Haut die nötige Feuchtigkeit und einen frischen Duft.
Lucia schlüpfte in eine leichte Jogginghose und ihr Lieblingsshirt mit – nein, nicht mit Zitronen – einer toskanischen Landschaft auf der Vorderseite. Sie ging in ihre kleine Küche, bereitete sich einen Milchkaffee und aß dazu ein mürbes Kipferl. Auch das liebte sie.
Dann band sie ihre Haare zusammen, nahm den Schlüssel und machte sich auf zu ihrer täglichen Laufrunde in den Rosenpark. Sie musste dazu nur die Straße überqueren und schon war sie da. Gleich hinter dem Eingang stellte sie ein Bein nach dem anderen auf eine Bank und machte ausgiebig ein paar Dehnungsübungen, ohne die sie nie startete.
Sie kam an dem kleinen grünen Teich vorbei, wo die nette alte Dame immer die Enten fütterte. Auch heute war sie wieder da und winkte der jungen Frau freundlich zu. Lucia grüßte zurück und lief weiter. Dann war da der Spielplatz. Um diese Uhrzeit tollten noch nicht viele Kinder dort. Lediglich eine junge Mutter mit einem Kinderwagen saß in der Sonne, hatte die Augen geschlossen und schaukelte sanft ihr Baby, das aus Leibeskräften schrie. Lucia tat die Frau leid. Sie konnte sich vorstellen, dass auch die Nächte für so eine junge Mutter nicht sehr erholsam waren. Umso mehr wollte diese nun sicherlich die ersten warmen Strahlen der Sonne genießen und hätte gern gehabt, dass ihr Baby endlich einschlief.
Lucia lief weiter und kam zu einem Trinkbrunnen, wo sie einen herzhaften Schluck nahm. Das kühle Wasser erfrischte sie und sie machte sich auf den Heimweg. Bis zum Trinkbrunnen und retour, das war ihre kurze Laufstrecke. Eine lange gab es auch. Als sie wieder an dem Teich vorbeikam, sah sie plötzlich die alte Frau am Ufer liegen. Sie eilte sofort zu ihr und bereute zutiefst, dass sie ihr Handy nicht mithatte.
Die alte Dame hatte wohl das Gleichgewicht verloren und war im nassen Uferbereich ausgerutscht. Jetzt lag sie halb auf der Böschung, die Füße schon im Wasser und konnte alleine nicht aufstehen. Lucia trat behutsam zu ihr und fragte: „Darf ich Ihnen aufhelfen?“ „Ja bitte, mein Kind. Ich schaffe es alleine nicht. Bei jedem Versuch rutsche ich tiefer ins Wasser.“ Lucia nahm die Dame unter den Achseln und stellte sie mit einiger Anstrengung wieder auf die Füße.
„So, das hätten wir! Darf ich Sie vielleicht nach Hause begleiten? Ich würde Sie ungern hier so mit nassen Füßen zurücklassen. Ich bin Lucia. Vom Sehen kennen wir uns ja schon“, stellte sie sich vor.
„Bitte, Kindchen, das wäre sehr lieb von Ihnen. Ich wohne auch nicht weit. Ich glaube außerdem, dass wir Nachbarn sind. Sie wohnen doch auch in dem alten gelben Haus da drüben, oder?“
Lucia bejahte. „Ich wohne aber erst seit einem Monat hier am Rosenpark und bin noch gar nicht dazu gekommen, mich bei den Nachbarn vorzustellen. Das hole ich jetzt nach:
Ich heiße Lucia Berger und freue mich, dass Sie meine Nachbarin sind.“ „Ich bin Grete Sorko und wohne hier schon zweiunddreißig Jahre. Ich bin noch mit meinem Albert hier eingezogen. Leider ist er letztes Jahr von uns gegangen. Er war schwer krank, müssen Sie wissen. Die letzten Monate waren ein ständiges Auf und Ab. Fünf Tage im Spital, dann wieder eine Woche zu Hause. Ich schwankte ständig zwischen Hoffen und Bangen. Letzten Endes hat es doch nichts geholfen und Albert hat mich für immer verlassen. Aber ich will nicht undankbar sein. Wir hatten ein schönes langes Leben. Wir haben uns ein bisschen was aufgebaut, sind gereist und hatten Freude an unserer gemütlichen Wohnung mit Blick ins Grüne.“
Lucia und die alte Dame gingen langsam in Richtung Haus, und als sie den Aufzug erreichten, sagte Frau Sorko: „Bitte kommen Sie doch auf einen Kaffee zu mir, Kindchen! Dann können wir uns ein bisschen kennenlernen. Ich wechsle nur schnell Strümpfe und Schuhe und Sie könnten schon einmal den Kaffee aufsetzen. Ich glaube, es gibt auch noch ein paar Cantuccini. Sie müssen wissen, ich freue mich immer über ein bisschen Abwechslung und Gesellschaft.“
Lucia nahm gerne an und war froh, dass heute ein Feiertag war und sie nicht ins Büro musste. Sie ging in die Küche und suchte das Kaffeepulver. Da sah sie an der Kästchentür ein Foto von einem jungen Mann hängen. Er hatte südländische Züge, schwarze Haare und die blauesten Augen, die Lucia je gesehen hatte. Auf dem Foto stand in ebenmäßigen Lettern „für meine Oma Grete“.
Da kam auch schon Frau Sorko in die Küche und sah, wie Lucia das Bild betrachtete. „Das ist Rocco, mein italienischer Enkel. Er lebt in Catania auf Sizilien. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Manchmal telefonieren wir und er sagt immer, ich soll ihn besuchen kommen. Er arbeitet auf einem Weingut und kann dort schwer weg. Urlaub gibt es da nicht.
Nun, was die Freizeit anbelangt, hab ich ja als Pensionistin mehr als genug. An dem sollte es also nicht liegen, aber ich traue mir die lange Reise allein einfach nicht mehr zu. Du siehst ja, ich darf doch du sagen, was einer alten Frau passiert, wenn sie übermütig wird. So habe ich die Hoffnung aufgegeben, Rocco noch einmal wiederzusehen.“
„Sie haben einen Enkel in Catania? Ich habe meine Nonna und meinen Nonno in Taormina. Das ist ja bloß eine Autostunde von Catania entfernt. Na, so ein Zufall! Ich fasse es nicht. Frau Sorko, wir sind Seelenverwandte!“ Dann tranken sie zusammen gemütlich Kaffee, knabberten ein paar Cantuccini und die Seniorin bedankte sich noch einmal bei Lucia: „Kindchen, aber sag doch auch Grete zu mir! Das macht mich irgendwie jünger“, sagte sie und zwinkerte verschwörerisch. „Sehr gerne, liebe Grete!“ Nach dem Kaffee bedankte sich Lucia bei der netten Nachbarin und ging in ihre Wohnung, nachdem sie sich nochmals versichert hatte, dass es Grete an nichts fehlte.
Das Sizilien-Thema ließ Lucia keine Ruhe. Unruhig lief sie in ihrer Wohnung auf und ab. Sie selbst hatte ihre Großeltern schon seit drei Jahren nicht mehr gesehen und hatte große Sehnsucht nach dem Land, wo die Zitronenbäume blühen. Und natürlich nach dem italienischen Teil ihrer Familie. Ihr Vater aus Österreich hatte sich nämlich in einem Italienurlaub in die wunderschöne Isabella aus Taormina verliebt. Die war dann zu ihm gezogen und jetzt lebten sie zusammen in Österreich. Lucia war ihre gemeinsame Tochter. Alle paar Jahre fuhren sie in Urlaub nach Taormina, aber leider viel zu selten.
Sie holte ihr Notebook hervor und begann zu recherchieren. Sizilien, die Flüge, die anderen Verbindungen, und ob es einen Bus von Taormina nach Catania gab. Am Abend um achtzehn Uhr hielt sie es nicht mehr aus. Alle Informationen waren zusammengetragen. Sie lief zu ihrer Nachbarin, läutete Sturm und fiel gleich mit der Tür ins Haus, als die alte Dame öffnete. „Grete! Wir fliegen zusammen nach Sizilien. Bitte sag ja! Bitte! Bitte! Bitte! Nächsten Montag geht schon unser Flug nach Catania. Dann besuchen wir uns gegenseitig. Ich habe drei Wochen Urlaub. Das wird wunderbar! Ach, Grete. Das wird toll!“
Grete schaute zuerst ganz verdutzt auf ihre junge Freundin, dann machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit und immer breiter. „Komm herein, Kindchen. Das ist eine wundervolle Idee! Wir rufen gleich bei Rocco an. Der wird uns gar nicht glauben. Bitte nimm das kleine Nummernverzeichnis dort neben dem Telefon und wähle seine Nummer. Ich finde meine Lesebrille gerade nicht.“ Die junge Frau schmunzelte, denn die Brille thronte bereits auf Gretes Nase.
Lucia wählte die Nummer. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie kannte Rocco ja nicht. Was würde er sagen? Was würde er für eine Stimme haben? Würde er an einen schlechten Scherz glauben? Wäre Grete im Moment bei ihm willkommen? Es klingelte sieben Mal, dann: „Acienda Vinicola, Rocco, pronto!“ „Hall… Hallo, hier spricht Lucia.“ Sie räusperte sich schnell. „Ich bin die Nachbarin von Ihrer Oma Grete aus Wien. Ich gebe den Hörer weiter an sie.“
Grete plauderte zehn Minuten mit Rocco und erzählte ihm von dem soeben geschmiedeten Plan. „Dürfen wir kommen, Rocco? Bitte, sag ja! Ich möchte dich so gerne wiedersehen!“ „Si claro, Nonna! Ich hole euch von die Flugplatz ab. Ich bin sehrrr sehrrr fröhlich. Ah, no! Ich bin sehr glücklich!“
Auf diese freudige Nachricht tranken die zwei Damen noch schnell einen Limoncello, dann verabschiedete sich Lucia und ging heim. Roccos Stimme hatte sie sehr beeindruckt. Sie war warm und tief, und wenn Lucia daran dachte, stellten sich die Härchen auf ihren Unterarmen auf.
„Ach, er ist sicher hässlich. Das ist auch egal. Ich bringe ja nur Grete zu ihm. Mehr will ich nicht. Was interessiert mich, wie er aussieht?“ Nachdem Robert, ihr Ex, vor drei Monaten so plötzlich und unerwartet mit Lucia Schluss gemacht hatte, hatte sie von Männern erst einmal die Nase voll. Nein, ihr Leben war gut so, wie es jetzt war. Basta! Lucia überlegte lang. Das war heute ganz eindeutig ein Limonentag gewesen! Toll, aufregend und voller Überraschungen.
Der Abreisetag kam sehr schnell. Es hatte ja noch allerhand erledigt und eingekauft werden müssen. Und dann natürlich das Kofferpacken! Eine Qual für Lucia. Grete ging es ähnlich, aber am Montag um zehn Uhr wartete das Taxi pünktlich vor dem Haus und schon fuhren sie zum Flughafen Schwechat.
Der Flug war kurzweilig und schnell vorbei, weil die beiden so aufgeregt plauderten und ein Gläschen Sekt hatten sie auch getrunken. Etwas stürmisch war bloß die Landung, denn Catania hat eine sehr kurze Landebahn. Die abrupte Bremsung ließ diverse Handgepäckstücke durch die Kabine sausen. Aber auch das hatten die beiden gut überstanden und ab ging es zum Kofferband.
Jede mit einem Koffer im Schlepptau traten sie in den Wartebereich, wo zahllose Menschen auf ihre Gäste warteten. Grete konnte aber Rocco nicht in der Menge entdecken. Sie blickte sich suchend um. Da hörte sie plötzlich: „Nonna, Nonna, Oma Grete. Hier ich bin!“ Und der tollste Mann, den Lucia jemals gesehen hatte, bahnte sich seinen Weg und stürmte auf die beiden zu.
Er hatte dunkles, fast schwarzes, gelocktes Haar, ein bisschen länger. Gerade so lang, um nicht als geschniegelter Beau zu gelten, und seine bergseeblauen Augen strahlten vor Freude und Glück. Er blickte zuerst nur Oma Grete an, doch dann sah er plötzlich zu Lucia und diese bekam auf der Stelle eine Gänsehaut und weiche Knie. Sein Blick schien ihr direkt ins Herz zu zielen. Dort, tief in ihrer Brust, fühlte sie, wie sich dieser pochende Muskel zusammenzog und wohlig warm wurde. „Oma Grete, mia Cara, wie konntest du mir verschweigen, mit welche Traumgestalt, no scusi, Traumgeschöpf du hier ankommst?“
Grete lachte herzhaft und Lucia schmunzelte über die „Traumgestalt“. Rocco umarmte beide sehr herzlich und schnappte sich kurzerhand beide Koffer. „Meine Auto steht drauße vor die Türe. Kommt, wir fahre los.“
Beide Damen nahmen im Wagen Platz, Rocco verstaute das Gepäck und auf typisch italienische Art startete er mit quietschenden Reifen und brauste auch schon los.
Nach einer knappen halben Stunde waren sie auf dem Weingut angelangt. Inzwischen war es später Nachmittag. Mit Erstaunen sah Lucia, dass bereits eine lange Tafel vorbereitet war. Eine rundliche, italienische Mamma stürmte mit ausgebreiteten Armen auf die drei zu und rief einen ganzen Schwall herzlicher Willkommensgrüße. Sie drückte Oma Grete an ihr mütterliches Herz und küsste sie immer wieder auf beide Wangen. Dann nahm sie Lucia bei beiden Händen und rief: „So eine schöne Fraulein! Benvenuto nella mia casa!” Lachend führte sie beide ins Haus. „Bitte, Sie frisch machen, dann wir können mangiare.”
Grete und Lucia wuschen sich kurz Hände und Gesicht und hörten draußen schon ein fröhliches Geschnatter. Als sie wieder aus dem Haus traten, saßen am Tisch schon mindestens fünfzehn Leute. Der Großteil waren Kinder und Teenager.
Rocco hatte inzwischen die Koffer verstaut und sagte nun: „Bitte, Lucia, sei heute unsere ospite, wie sagt man? Gast, si Gast. Bitte! Wir essen zusammen und morgen bringen ich dich nach Taormina.” Lucia war etwas verblüfft, sah jedoch ein, dass es wohl besser war, erst bei Tageslicht weiterzufahren. Sie rief ihre Nonna an und sagte ihr Bescheid.
Das Familienessen war laut, fröhlich, vorzüglich und dauerte bis tief in die Nacht. Den Abschluss bildete ein ausgezeichnetes Limetteneis mit Pignoli und Obers. Danach ging die gesamte Famiglia zu Bett. Lucia war sehr müde, konnte aber trotzdem nicht gleich einschlafen. Sie ließ den ganzen Tag noch einmal vor ihrem geistigen Auge ablaufen. Eindeutig ein Limonentag. Jawohl! Gar kein Zweifel.
Am Morgen war nur ein kleiner Tisch gedeckt. Roccos Mamma hatte schon Kaffee gekocht und herrliche Bomboloni, kleine Krapfen, gebacken. Es duftete verführerisch. Grete und Lucia ließen es sich mit Rocco und Mamma gut schmecken. Dann sagte Rocco: „Komm, Lucia, ich führen dich nach Taormina zu deiner Famiglia!” Er holte ihr Gepäck und verstaute alles im Auto.
Grete und Lucia verabschiedeten sich voneinander und Grete versprach, mit Rocco nach Taormina zu kommen, um auch Lucias Familie kennenzulernen. Dann fuhren die beiden los.
Lucia war etwas beklommen, sie wusste nicht, was sie reden sollte. So fragte sie einfach: „Wie kommst du eigentlich zu einer österreichischen Oma?” „Sie ist gar nicht meine richtige Nonna. Als ich war bambino, zehn Jahre alt, ich war krank von die Lunge. Il dottore hat gesagt, Bergluft ist gut für mich. Mio Papa kannte Grete noch von Jugend und schickte mich zu ihr. Grete ist mit mir nach Tirole gefahre. Und bald ich wieder gesund. Due Monat, dann ich bin wieder heimgeschickt worde. Aber ich liebe immer noch Oma Grete.”
Dann hielt er das Auto an. Sie befanden sich an einem wunderbaren Aussichtspunkt hoch oben auf einem Felsen und unten das tiefblaue Meer. Sie setzten sich auf einen Stein und genossen den Ausblick. Lucia schloss die Augen und atmete tief ein. Sie roch das Meer, die Vegetation um sich herum, aber auch den herben Duft von Roccos Lederjacke und seines Rasierwassers. Sie hörte das Zirpen der Grillen, das Summen der Insekten und das Kreischen der Möwen. Ach, herrlich, dachte sie, das könnte ewig so bleiben.
„Rocco, warum hast du keine Frau? Für die Arbeit auf dem Weingut wären doch zwei zusätzliche Hände sicher von Vorteil. Ich hab ja einen ungefähren Eindruck eures Anwesens bekommen.”
„Ach, Lucia, ich und le donne. Keine gute Redethema! Alle sehen die Geld von Rocco, das in die Trauben steckt, aber keine will die Arbeit. Alle wolle reich heirate. Das ich will aber nichte. Ich bin Rocco, der Mann, der will eine Donna verwöhnen, ihr Lieder singe, ihr Spaghetti koche, ihre Hände halte, sie küsse. Mit ihr al chiaro di Luna, Mondenscheine, liegen. Die Grille höre. Das wolle die nicht. Die wolle Schmuck und Kleider und Schuhe. Das ist nix Rocco.”
„Ich verstehe dich sehr gut. Ich habe auch kein großes Glück mit den Männern. Mein Freund hat sich vor drei Monaten plötzlich dafür entschieden, mit seiner Firma nach Schweden zu gehen. Die produzieren eine spezielle Art von Computern für medizinische Zwecke.
Er hatte zugesagt, ohne mich zu fragen. Ich wollte aber aus meiner Heimat nicht weg. Er ist trotzdem gegangen. Ich bin geblieben. Dann hab ich mir eine neue Wohnung gesucht und so habe ich auch deine Oma Grete kennengelernt. Ich bin schon manchmal noch traurig, aber Reisende soll man nicht aufhalten. Er hat übrigens jetzt eine Neue.” Sie seufzte und merkte plötzlich, dass sie sich Schutz suchend an seine Schulter gelehnt hatte.
Peinlich berührt rückte sie ab und schaute Rocco an. Seine Augen strahlten und er zog sie an seine Schulter zurück und hielt sie tröstend im Arm. In der Zwischenzeit war die Sonne schon über ihren höchsten Punkt gestiegen, der Nachmittag war angebrochen.
Gemeinsam schauten sie den Schiffen zu, die weit draußen am Horizont vorbeizogen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Wo mochten die Leute wohl alle hinreisen? Seemöwen kreisten über dem Meer und die schaumigen Wellenkämme klatschten an Land. Lucia fühlte sich hier wohl und geborgen. Es war wunderschön. Eigentlich hätte die Zeit jetzt stehenbleiben können.
„Deine Freunde ist eine große cretino. Hätte ich so eine bella ragazza, ich bleibe und gehe nichte weg.“ Er streichelte ihr über den Kopf und schaute sie freundlich an. Lucia rann es heiß und kalt den Rücken hinunter. „Weißt du, ich möchte Kinder und ich möchte in der Heimat sein, wo meine Eltern sind. Ich kann mir auf gar keinen Fall vorstellen, ins Ausland zu gehen.“
„Ich verstehe dich gutte. Rocco möchte auch nicht forte von bella Itala. Ich hier geboren und ich hier sterben. Basta!“
Dann saßen sie wieder eine Weile und beobachteten die Natur um sich herum. Es dämmerte und Lucia meinte: „Ich denke, wir sollten jetzt fahren. Meine Nonna wird schon voller Sehnsucht warten.“ Rocco erhob sich, reichte ihr beide Hände und zog sie so schwungvoll auf, dass sie ihm direkt in die Arme flog und sich ihre Nasenspitzen berührten. „Scusi, Lucia!“ Diese wurde rot.
Sie stiegen ins Auto und fuhren los. Auf der ganzen Fahrt dachte Lucia an diesen letzten Moment. Schön war er und ja, Rocco wäre schon ein toller Mann! So ganz anders als ihr Ex, der immer nur die Arbeit, das Geld und die Pflicht im Sinn hatte. Rocco arbeitete mit seinen Händen, das sah man ihnen an. Sie mussten jeden Tag hart zupacken. Aber sie konnten auch sanft streicheln, das hatte sie sehr wohl gespürt.
„Ah, Rocco, rief Nonno. Unser Weinlieferant. Wir kennen uns schon lange.“ Lucia staunte nicht schlecht, dass sie sich alle kannten. Rocco stellte den Koffer vors Haus und verabschiedete sich höflich. „Ich komme di lunedi und bringen Oma Grete und neue Lieferung von Vino. Ciao!“ Und schon brauste er davon. Lucia wurde umringt von ihren Verwandten und überschwänglich geherzt und geküsst. Alle redeten und lachten durcheinander. Dann gab es Nonnas berühmtes Abendessen bestehend aus fünf Gängen. Lucia glaubte zu platzen und entschuldigte sich mit Müdigkeit, um auf ihr Zimmer gehen zu können.
Dort packte sie noch schnell ihren Koffer aus und hüpfte unter die Dusche. Lange stand sie unter dem herrlich prickelnden, lauwarmen Wasser und dachte über den Tag nach. Ihr Herz klopfte sehr schnell, das spürte sie deutlich. Was das wohl zu bedeuten hatte? Als sie dann schon im Bett lag, ging ihr noch immer Gretes schöner Enkel durch den Kopf. Das war heute eindeutig ein Zimttag gewesen. Warm, vertraut, duftend und zart. Die Nacht war dann sehr kurz, denn sie war sehr spät erst endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen.
Am nächsten Tag machte sie mit Alfredo, Ricci und Arabella einen Ausflug an den Strand. Sie schwammen im warmen Wasser und spielten Beachball. Dazwischen aßen sie Eis und Melone und tranken Mineralwasser. Arabella fragte: „Sag, wie gefällt dir Rocco? Ich finde ihn toll, ein schmuckes Kerlchen, aber er ist so unnahbar. Ich kann ihn nicht einschätzen.“ „Ich denke, er hat schlechte Erfahrungen mit Frauen gemacht“, antwortete Lucia nachdenklich. „Das Leben gibt einem halt nicht immer nur Bonbons, manchmal sind auch saure Gurken darunter.“
Am nächsten Tag saß Lucia mit Nonno und Nonna und Onkel Umberto samt Frau Maria unter der großen Pinie vor dem Haus. In der ausladenden Baumkrone hatten viele Vögel ihre Nester gebaut und entsprechend laut war das Gezwitscher. „Erzähl uns doch, warum du wieder alleine bist, meine arme Lucia“, meinte Nonna voller Mitgefühl.
„Ach, ihr Lieben! Mein Freund ist ins Ausland gegangen. Seine Firma hat ihn dort hingeschickt und ich wollte nicht mit. So ist er ohne mich abgereist. Es ist vorbei. Das Kapitel ist abgeschlossen.“ Sie tranken Zitronenlimonade mit Minzblättern und Eiswürfeln und ließen es sich im Schatten gutgehen. Jeder erzählte ein bisschen was aus seinem Leben. Und so erfuhr Lucia auch, warum ihre Großeltern ihren Wein jetzt nicht mehr beim alten Carlo kauften, sondern bei Rocco.
Carlo war einfach zu alt geworden und hatte seine Weinberge an seinen Neffen Andrea übergeben. Der arbeitete aber mit Kunstdünger und spritzte alle möglichen Chemikalien, nur damit er mehr Ertrag erzielen konnte. Carlo kränkte das sehr, denn seine Weinberge waren sein Leben gewesen. Lucias Großeltern wollten den gespritzten Wein nicht und hatten sich daher nach einem anderen Lieferanten umgeschaut. So lernten sie Rocco kennen. Mit seinem biologisch angebauten Wein waren sie sehr zufrieden und so kam des Öfteren einmal eine neue Lieferung aus Catania. „Rocco ist ein feiner Mann“, sinnierte Nonno, „aber mit Frauen hat er leider kein Glück.“
Am nächsten Tag machte Lucia allein einen Spaziergang durch Taormina. Das Städtchen liegt an einem Berghang und die engen Gässchen dort sind sehr steil.
„Auf dem Platz vor dem Dom steht ein 1635 erbauter Barockbrunnen mit zwei übereinanderliegenden Wasserbecken. Darüber thront eine Figur, die Centauressa, sie ähnelt den griechischen Kentauren, aber sie ist weiblich. Die Skulptur ist das offizielle Wahrzeichen der Stadt und wird auch im Stadtwappen abgebildet“, las Lucia in ihrem Reiseführer. Eine sehr interessante Figur, dachte sie noch, gerade in Zeiten des Feminismus. Dann trank sie im Café „Wunderbar“ einen Cappuccino, den sie sich schmecken ließ. Den Schaum auf der Oberlippe leckte sie genüsslich ab. Der Ausblick von diesem beliebten Touristenlokal war wirklich sehenswert. Man sah direkt hinunter aufs Meer. Und wieder zogen weit draußen die Ozeanriesen vorbei. Sie schürten Lucias Sehnsucht.
Dann kam der Montag und Rocco brachte Oma Grete und die neue Weinlieferung natürlich persönlich vorbei.
Nonno ging mit ihm in den Weinkeller, wo die Kisten mit den Flaschen gelagert wurden. Nach längerer Zeit kamen die beiden Männer wieder heraus. Sie mussten etwas besprochen haben. Nonno sagte zu Lucia: „Willst du Rocco nicht deinen Lieblingsplatz im Zitronenhain zeigen, wo du als Kind so gerne gelegen und in den Himmel geschaut hast?“ „Aber Nonno! Rocco wird doch wohl noch Zitronenbäume kennen.“
„No, no, bella Lucia! Zeige mir deine Platze unter die Bäume. Ich möchte auch träume und in die Himmel schaue.“ Lucias Gesicht hatte eine rosa Farbe angenommen, aber sie war einverstanden. Rocco nahm ihre Hand und sie gingen los. Gleich hinter dem Haus war ein steiler Pfad bergauf und nach der ersten Kurve lachte schon das helle Gelb der reifen Früchte ihnen entgegen. Sie verlockten direkt zum Pflücken.
Beide legten sich ins Gras und blickten in den Himmel. „Weißt du, ich habe als Kind gerne hier gelegen. Stundenlang. Ich hab die Wolken beobachtet und mir vorgestellt, es sind Hunde, Vögel, Ungeheuer, Drachen und Lämmchen. Sie liefen da oben um die Wette und ich vergaß regelmäßig die Zeit. Und ich erdachte mir Geschichten dazu. Es war so schön! Oft waren schon die Sterne am Himmel und Nonna musste mich holen. Oder sie schickte Isabella vorbei und wir gingen Hand in Hand nach Hause.“
Rocco sah sie staunend an. Er konnte nicht verstehen, dass eine moderne Frau so fantasiebegabt, verträumt und gar nicht materiell sein konnte. Er war plötzlich sehr in sich gekehrt und nachdenklich. „Mia cara, ich verstehe dich sehrrr gut. Ich habe die Bücher geliebt. Indianer, Trapper, Cowboys, das waren meine eroi, wie sagt man – Helden. Überall ich wollte die eroe sein. Mein Freunde habe mich nix verstande.“ Lucia bemerkte, wie ähnlich sie beide sich waren. Ihr Ex, wie sie ihn für sich immer nannte, hatte weder Fantasie noch war er verträumt noch hätte er sich jemals mit ihr in einen Zitronenhain gelegt und stundenlang in den Himmel geschaut. Sie seufzte aus allertiefstem Herzen.
Rocco wandte den Kopf zu ihr und schaute sie verliebt an. Da sie ihm ebenfalls tief in die Augen blickte, sprang er über seinen eigenen Schatten und nahm ihr Gesicht zärtlich in beide Hände. Sachte berührten seine Lippen die ihren und er gab ihr einen zarten Kuss. Ein Blitz fuhr durch Lucia, sie stand unter Strom. Ihr Körper wurde ganz weich. Leise sagte sie: „Rocco, lass uns bitte heimgehen. Meine Leute vermissen mich sicher schon.“ Widerstrebend stand er auf, half ihr ebenfalls auf die Beine und zusammen gingen sie zurück zum Haus.
Die beiden Großmütter hatten inzwischen einen unterhaltsamen Tag verbracht. Sie hatten über ihre eigene Jugend gesprochen, die eine in Taormina, die andere in Wien. Beider Leben waren lang, manchmal schwer, aber schön gewesen. Da waren sie sich einig. Dann verabschiedete sich Rocco mit dem Satz: „Morgen sehen wir uns wieder, mia cara!“ Er half Grete ins Auto. Lucia winkte ihnen noch lange nach und ging dann zu ihrer Oma. „Nonna, ich glaub, ich bin verliebt! Das war heute mein allerallerschönster Limonentag! Und ich glaube, es werden noch mehr kommen.“
Nonna lächelte verschmitzt in sich hinein und dachte: „Lucia, mein Mädchen – mit ihren wundervollen Limonentagen.“
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