Читать книгу Auf den Flügeln der Liebe - Barbara Cartland - Страница 1
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ОглавлениеDer Earl of Morden schritt unruhig im Kabinettszimmer der Downing Street Nummer 10 auf und ab.
Die Stühle waren abgerückt, auf dem Tisch lagen Dokumente, die Federn waren noch naß von Tinte, und die Streusandbüchse war umgekippt - alles deutete darauf hin, daß hier noch vor kurzem eine Sitzung stattgefunden hatte.
Der Nachmittag neigte sich seinem Ende zu, und in einem anderen Teil des Hauses wartete Lady Morden auf ihren Gatten; auf dem Herd kochte bereits in einem silbernen Kessel das Wasser für seinen Lieblingstee.
Doch Lord Morden machte keine Anstalten, das Kabinettszimmer zu verlassen. Langsam schritt er auf und ab und hielt nur gelegentlich inne, um leeren Blickes durch die hohen Fenster auf den darunterliegenden Garten zu starren.
Einmal zog er seine Uhr aus der Westentasche, verglich die Zeit darauf mit der auf der Boulle-Uhr, die auf dem Kaminsims aus Marmor stand, und nahm dann seinen unruhigen Gang wieder auf.
Ungefähr zwanzig Minuten waren verstrichen, als die Tür aufging und ein Diener in einer goldbestickten Livree eintrat.
»Viscount Sheringham, Mylord!«
Eine kurze Stille trat ein, nachdem die Worte des Dieners verhallt waren, dann erschien Lord Sheringham.
Er war makellos gekleidet und trug sein dunkles Haar kunstvoll zu der modischen, erst kürzlich vom Prinzen eingeführten Windstoßfrisur gekämmt, dazu einen Rock aus dunkelblauem, hochfeinem Tuch, den der berühmte Swartz selbst zugeschnitten hatte, und Schaftstiefel, die mit einer ausgeklügelten Mischung aus schwarzer und champagnerfarbener Schuhcreme so lange poliert worden waren, bis sich das goldene Licht der Nachmittagssonne darin spiegelte.
Seine Halsbinde war ein Meisterwerk, der Sitz seiner Hosen fast ein Wunder - kurz gesagt, seine Lordschaft war ein Dandy. Als er langsam ins Zimmer schritt, sah Lord Morden ihm, seinem einzigen Sohn, finster und ohne Freude entgegen.
Lord Sheringham zeigte den Ausdruck moderner Langeweile: Seine Lider waren halb geschlossen, die Mundwinkel leicht und fast verächtlich herabgezogen. Doch das Gesicht, das sich hinter dieser Maske zu verbergen suchte, war auffallend hübsch.
Die Gesichtszüge waren scharf geschnitten und unverkennbar aristokratisch und ließen keinen Zweifel an Lord Sheringhams außergewöhnlicher Intelligenz.
Unter den gesenkten Lidern jedoch blitzten seine Augen aus Übermut oder aus Leidenschaft, was so gar nicht zu der trägen Miene und den affektierten Bewegungen paßte.
Seine Art zu Reden allerdings war ein vollkommenes Beispiel für die gedehnte Sprechweise, derer sich all die Lebemänner und Gecken bedienten, die ihre Zeit im Carlton House oder in einem der modernen Clubs von St. James verbrachten.
»Sie wollten mich sprechen, Vater?« fragte Lord Sheringham. »Ihre Nachricht kam in einem verdammt ungünstigen Augenblick, als ich gerade meine beste Karte seit Wochen in der Hand hielt. Da ich jedoch annahm, daß irgendein Unglück geschehen sei - daß Sie im Sterben lägen oder Ihr Konkurs bevorstehe -, bin ich, so schnell Ihre Kutsche mich fahren konnte, hierhergeeilt.«
Er schwieg kurz, fuhr dann aber fort: »Übrigens, weil ich gerade davon spreche - Sie sollten mir erlauben, Ihnen bei Tattersall ein paar neue Pferde zu kaufen, da Ihre dunklen Füchse wirklich äußerst lahm sind.«
»Danke, Armand, aber ich kann mir meine Pferde sehr gut selbst aussuchen«, entgegnete Lord Morden kühl. »Ich muß mich entschuldigen, wenn ich dich in einem so ungünstigen Augenblick kommen ließ, doch es ist unbedingt notwendig, daß wir sofort miteinander reden.«
Während er sprach, war er ans Fenster getreten, hatte sich umgewandt und kam nun wieder zur Mitte des Zimmers zurück.
Lord Sheringham hob sein Augenglas, blickte seinen Vater kurz an und rührte sich nicht vom Fleck.
Lord Morden hielt abrupt inne.
»Sicherlich weißt du, worüber ich mit dir sprechen muß«
»Ich habe eine vage Vermutung, Sir.«
»Das dachte ich mir«, entgegnete Lord Morden grimmig. »Die offizielle Beschwerde des preußischen Botschafters an den Außenminister wurde heute hier in die Kabinettssitzung gebracht, und wir haben sie ausführlich besprochen.«
Zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, machte Lord Sheringham ein respektvolles Gesicht.
»Das muß ja verflixt peinlich für Sie gewesen sein, Sir!«
»Es ist schon einiges mehr als nur peinlich!« sagte Lord Morden gereizt. »Armand, wie konntest du nur solch ein Narr sein - ein so verdammter Narr?«
Lord Sheringham hob leicht das Kinn, antwortete jedoch langsam, und offenbar ohne die geringste Absicht, sich zu verteidigen.
»Dieser Bursche hat keinen Sinn für Humor, Vater, sonst hätte er mir das nicht übelgenommen.«
»Kein Preuße hat je Sinn für Humor gehabt, aber das ist keine Entschuldigung für dein Benehmen!«
»Es sollte ja keine Beleidigung sein. Vorgestern Abend unterhielten Freddie Ainsby und ich uns im Club über das Essen, und ich wettete mit ihm um tausend Guineen, daß ich ein Abendessen zaubern könne, das ein Meisterwerk der Kochkunst sei, trotzdem aber ungenießbar aufgrund der Art, wie es am Tisch serviert wird. Da Freddie meinen Küchenchef kennt, nahm er die Wette an, und die Gäste wurden geladen.«
Er hielt einen Augenblick inne, um dann mit einem leichten Lächeln fortzufahren: »Ich gewann die Wette. Freddies Schuldschein habe ich hier in der Tasche. Das Essen begann mit Austern, den allerbesten und fettesten aus Colchester. Sie wurden den Gästen in Spucknäpfen serviert, die sie daraufhin unangerührt zurückgehen ließen. Als zweiten Gang gab es eine köstliche, außergewöhnlich gute Suppe, die die Diener jedoch in ganz gewöhnlichen Haus -«
»Genug!« unterbrach sein Vater ihn und hob die Hand. »Ich habe keine Lust, noch mehr Einzelheiten zu hören, Armand! An diesem Tisch ist heute nämlich bereits ausführlich darüber diskutiert worden.«
Lord Sheringham warf einen Blick auf die leeren Stühle. Nur zu gut konnte er sich die Kabinettsmitglieder dabei vorstellen: da waren Canning, der Außenminister, ein ehrgeiziger, theatralischer, oberflächlich geistreicher und verheerend unbesonnener Mann; daneben Lord Castlereagh vom Kriegsministerium, ein durchtriebener Mann aus Ulster mit einem instinktiven Gespür für Außenpolitik; dann Lord Hawkesbury, der klägliche Innenminister mit dem längsten Hals Englands, der immer wirkte, als wäre er gerade zum dritten Mal der Folter entkommen und sähe zu, wie sie für das vierte Mal hergerichtet wurde; und Spencer Perceval, Schatzkanzler und erster Mann des House of Commons, ein fröhlicher, bescheidener, kleiner Mann mit beschränkter Bildung und beschränkten Prinzipien, ein Protestant mit extrem protestantischen Ansichten.
Lord Sheringham konnte sich die Reaktionen der einzelnen Minister auf seinen letzten originellen Einfall sehr gut ausmalen - Unmut, Staunen, Empörung und vielleicht bei manchen von ihnen auch einen gewissen Neid.
Er blickte seinen Vater mit einem unmißverständlichen Augenzwinkern an.
»Ich muß gestehen, Sir, es war ein Fehler, den preußischen Botschafter einzuladen, aber es war eben ein spontaner Einfall von mir. Der Botschafter hat sich in letzter Zeit recht unbeliebt gemacht, und ich lud ihn lediglich zu einem Abendessen ein, das seinem Ruf entsprach.«
»Ohne vorher die genauen Umstände zu nennen, unter denen das Essen und die Einladung zustande kamen?« fragte Lord Morden unwirsch.
Das Glitzern in Lord Sheringhams Augen nahm zu.
»Ich fürchte, dieses kleine Detail habe ich leider übersehen, Sir.«
Die Blicke von Vater und Sohn trafen sich, und einen Moment lang schien es, als würde auch Lord Morden lächeln. Dann wandte er sich jedoch jäh ab, als ärgere er sich über seine eigene Schwäche, und begann erneut, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Es hat keinen Zweck, Armand«, sagte er. »Diesmal bist du zu weit gegangen. Ich habe dich bereits gewarnt, daß du die Grenzen allen Anstandes und jeglicher Schicklichkeit überschreitest. Gott weiß, wie sehr ich versucht habe, Geduld mit dir zu haben; doch diesmal hast du dich selbst übertroffen. Canning ist verärgert, ernsthaft verärgert - und wer könnte es ihm auch verdenken?«
Lord Sheringham zuckte die Achseln. »Wenn Canning ein energischer Mann wäre, würde er dem preußischen Botschafter sagen, er solle sich zum Teufel scheren.«
»Canning ist aber nicht energisch, und er ist es auch nie gewesen.« Fast schien es, als rede Lord Morden mit sich selbst. »Wenn Pitt doch nur noch lebte!«
Er hielt inne, wandte sich ab und wiederholte leise: »Wenn Pitt doch nur noch lebte!«
»Aber er lebt nicht mehr«, warf Lord Sheringham ein. »Und Canning ist auch nicht das einzige schwache Mitglied im Kabinett, Vater!«
»Das weiß ich. Das weiß ich nur zu gut! Aber wer sonst käme in Frage? Wer, frage ich dich?«
Seine Stimme wurde einen Moment lauter, klang fast verzweifelt. Doch gleich darauf drehte er sich mit entschlossener Miene zu seinem Sohn um.
»Versuch bloß nicht, mich abzulenken, Armand - ich kenne deine Methoden nur zu gut! Ich habe dich nicht nur hergerufen, um dich für das, was du gestern Abend getan hast, zu tadeln, sondern auch, um dir die Entscheidung mitzuteilen, die ich hinsichtlich deiner Zukunft getroffen habe.«
Lord Sheringham zog die Brauen hoch. »Wie interessant, Vater. Darf ich mich setzen? Ich finde es schrecklich ermüdend, längere Zeit zu stehen.«
Lord Morden schlug plötzlich so fest mit der Faust auf den Kabinettstisch, daß die Federn klapperten und die Papiere raschelten.
»Hör auf damit, Armand! Warum bist du immer so affektiert? Ich verabscheue deine geckenhafte Miene und dein Gehabe, die Art, wie du dich durchs Leben gähnst und dich benimmst, als wäre nichts es wert, gesagt oder getan zu werden. Ich spreche mit dir über deine Zukunft, und du erwiderst darauf nur, daß du zu müde bist, um mir im Stehen zuzuhören. Hast du denn gar keine Gefühle, keine inneren Regungen?«
Lord Sheringham ließ sich träge in einen Sessel sinken und streckte die langen Beine vor sich aus.
»Das letzte Mal, als Sie mich zu sich baten, Vater, haben Sie mir vorgeworfen, zu viele Gefühle und Regungen zu haben.«
»Damals sprachen wir über Frauen«, entgegnete Lord Morden. »Was sie anbetrifft, so ist dein Ruf auf die niedrigste Stufe der Entwürdigung gesunken. Lady Coldsworth will sich bei der Königin darüber beschweren, wie du ihre Tochter behandelt hast, und deine Gesellschaften im Morden House sind Stadtgespräch.«
»Die Leute müssen ja über irgendetwas reden«, bemerkte Lord Sheringham sanft.
»Nun, sie werden nicht mehr lange über dich reden, mein Junge«, sagte Lord Morden grimmig. »Und jetzt hör mir zu!«
»Ich möchte Sie daran erinnern, Vater, daß ich das bereits seit einiger Zeit tue«, erwiderte Lord Sheringham nachsichtig.
Lord Mordens Gesicht nahm einen härteren Ausdruck an. Er setzte sich in den Lehnstuhl am Kopf des Kabinettstisches und starrte seinen Sohn an.
Die beiden ähnelten einander nicht sonderlich; eigentlich bestand zwischen ihnen kaum eine Ähnlichkeit, außer daß beide ein etwas kantiges Gesicht und breite Schultern hatten.
Unter Lord Sheringhams vollkommen geschnittener Kleidung waren die muskulösen Arme und seine drahtige, durchtrainierte Figur, die ihn leichter wirken ließ, als er tatsächlich war, zu erahnen.
Obwohl Morden schwerer und breiter war als sein Sohn, war er in seiner Jugend ein berühmter Sportler gewesen. Er war stolz auf seine Kraft, stolz auf jene Tage, als er Hindernisrennen machte, gegen Gentleman Jackson kämpfte und als einer der besten Fechter des Landes galt.
Er hatte London noch nie sonderlich gemocht, und es reizte ihn zunehmend, daß sein Sohn so viel Zeit in der liederlichen Gesellschaft zubrachte, die den Prinzen umgab.
»Bei unserer Sitzung heute nachmittag besprachen wir zwei Dinge ausführlich«, begann Lord Morden mit etwas erhobener Stimme, als spreche er zu einer Anzahl von Leuten und nicht nur zu einem eleganten jungen Mann, der sich in dem einzigen bequemen Sessel des Zimmers rekelte. »Das eine war ein Brief des preußischen Botschafters, der deine Party gestern Abend betraf, das andere unsere Information aus Frankreich.«
»Beides ganz offensichtlich deprimierende Themen«, bemerkte Lord Sheringham.
»Da hast du recht«, erwiderte Lord Morden. »Beides deprimierende Themen, die jedoch leider besprochen werden müssen.«
»Was das erste Thema anbelangt, das mich betrifft - würde eine persönliche Entschuldigung da helfen?«
»Selbstverständlich mußt du dich entschuldigen, sowohl beim Botschafter als auch bei Canning, der sich ja mit der Angelegenheit befassen muß. Doch zufällig betrifft auch das zweite Thema dich.«
»Mich?« Lord Sheringham klang überrascht.
»Ja, dich! Ich brauche dir wohl nicht erst die Lage zu beschreiben, in der wir uns im Augenblick befinden. Seit Fox’ Tod letztes Jahr werden die Informationen, die wir aus Frankreich erhalten, von Monat zu Monat spärlicher und außerdem immer unzuverlässiger. Fox, wie uns allen bekannt, verfügte über seine ganz persönlichen Methoden, Dinge in Erfahrung zu bringen, die für unser Land sehr wichtig waren.«
Er hielt inne, als erwarte er eine Antwort, doch sein Sohn schwieg.
»Mit seinem Tode hörten diese Nachrichten auf oder wurden zumindest verhältnismäßig wertlos, und Napoleon begann im letzten November mit der Blockade Englands. 1806 lachten wir, als er erklärte, daß über die britischen Inseln eine Blockade verhängt werden sollte - wir konnten es uns nicht vorstellen; aber jetzt, im Jahre 1807, lachen wir nicht mehr. Die Blockade stellt sich als wirkungsvoller heraus, als wir ahnten.
Jedes Land in Europa wird allmählich Frankreichs Befehlen unterworfen, und heute haben wir erfahren, daß Napoleon dafür sorgen will, daß die Häfen Spaniens und Portugals geschlossen werden. Falls das stimmt, wird die Lage noch bedenklicher, als sie es im Augenblick schon ist. Wir müssen herausfinden, ob das stimmt und was für Schritte sich in dieser Angelegenheit unternehmen lassen. Napoleons Heere sind weit zerstreut. Wird er stark genug sein, um die Portugiesen und Spanier zu überwältigen? Und wie ist es mit den anderen Ländern, mit denen wir noch immer in Verbindung stehen? Diese Fragen müssen beantwortet werden, und wir haben augenblicklich niemanden in Frankreich, auf dessen Informationen wir uns verlassen können.«
Lord Morden hörte auf zu reden, und es entstand eine lange Pause. Lord Sheringham rührte sich nicht aus seiner trägen, lässigen Haltung. Seine Augen waren fast geschlossen, so daß man hätte meinen können, er schlafe, aber plötzlich preßte er die Lippen aufeinander.
»Und?«
Mit diesem einzigen Wort umriß Lord Morden seine Frage.
Lord Sheringham öffnete die Augen. Sein Vater wartete, jedoch vergebens. Nach einer Weile wurde die Spannung unerträglich für Lord Morden.
»So rede doch, Junge!« sagte er gereizt. »Was hast du selbst dazu zu sagen?«
Lord Sheringham blickte ihn überrascht an.
»Ich dachte, Ihre Meinung sei endgültig, Sir, und somit jegliche Art von Einwänden meinerseits nutzlos.«
Einen Moment schien es, als verliere Lord Morden die Selbstbeherrschung, dann aber wurde sein Gesichtsausdruck weicher.
»Armand, mein Junge«, sagte er in einem friedlicheren Ton als bisher, »es war nicht leicht für mich, vorzuschlagen, daß du, mein einziger Sohn, solch eine Mission übernimmst. Ich habe es nicht nur als Strafe - oder sollte ich lieber sagen, Buße? - vorgeschlagen, sondern aus anderen Gründen, die du nur zu gut kennst.
Deine Mutter war Französin. Du bist ihr sehr ähnlich und sprichst Französisch ebenso flüssig wie Englisch. In Frankreich würde niemand bezweifeln, daß du Franzose bist. Und außerdem hattest du auch einmal - bevor du mit diesem albernen Gehabe anfingst - so etwas wie Verstand. Erst gestern Abend sah ich ein paar deiner Zeugnisse aus Eton und Oxford durch. In allen stand, daß du eine außergewöhnlich gute Zukunft vor dir hast. Als ich sie durchlas, fragte ich mich, ob ich es irgendwie versäumt habe, deine Begabungen, die du in den letzten fünf Jahren so hervorragend zu verbergen verstanden hast, zu fördern.«
Lord Sheringham setzte sich ruckartig auf.
»Nein, Vater!« entgegnete er heftig und vergaß dabei einen Moment, die Silben zu dehnen. »Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen! Wenn ich mich in den vergangenen fünf Jahren schlecht benommen habe, tragen Sie daran nicht die geringste Schuld. Ich glaube, die Erklärung dafür ist, daß ich so verdammt einsam gewesen bin und mich unsagbar gelangweilt habe.«
Lord Morden erhob sich und trat ans Fenster. Dort verharrte er kurz und sagte dann mit völlig veränderter, ja fremder Stimme: »Jetzt hast du ganz wie deine Mutter gesprochen. Ich habe sie oft genau dieselben Worte sagen hören: ,Ich langweile mich, Bruno.' Weißt du noch, daß sie mich Bruno nannte, weil ich so groß und sie so klein war? ,Ich langweile mich, Bruno! Das Leben ist unerträglich öde!' Dann ging sie immer und tat irgendetwas äußerst Schockierendes.«
Lord Mordens Stimme verlor sich. Er stand noch immer am Fenster und starrte hinaus in den Garten, als er plötzlich die Hand seines Sohnes auf der Schulter spürte und zusammenfuhr. Er hatte nicht gehört, wie dieser sich aus seinem Sessel erhoben hatte.
»Auch ich habe mich schockierend benommen, Sir«, sagte Lord Sheringham ruhig, »und jetzt werde ich, um das wiedergutzumachen, nach Frankreich gehen und die Informationen besorgen, die Sie brauchen.«
»Es wird keine leichte Aufgabe sein«, gab Lord Morden zu bedenken.
»Das weiß ich.«
»Es wird sogar sehr gefährlich sein.«
»Möchten Sie mir etwa Angst vor ein paar Franzosen einjagen?«
Lord Morden wandte den Kopf, und beide Männer blickten einander an; dann lachten sie.
»Gott segne dich, mein Junge! Ich habe mich doch nicht in dir getäuscht!«
Lord Mordens Stimme bebte leicht.
Lord Sheringham schob seinen Arm unter den seines Vaters.
»Lassen Sie uns die Mission besprechen«, schlug er vor. »Haben wir irgendwelche Kontaktpersonen in Frankreich, mit denen ich Verbindung aufnehmen könnte?«
»In Paris gibt es ein paar Kontaktmänner«, antwortete Lord Morden, »aber bei keinem von ihnen sind wir unserer Sache sicher. Canning ist der Meinung - und da gebe ich ihm recht -, daß du am besten ganz auf dich allein gestellt arbeitest. Finde heraus, soviel du nur kannst, alles, was in deiner Macht steht, und komm dann hierher zurück! Da wir nicht sicher sind, wem wir trauen können, würden Briefe oder Empfehlungsschreiben, die wir dir mitgeben, vielleicht gerade die Schlinge um deinen Hals bedeuten. Selbstverständlich können wir dir gewisse Informationen mitgeben; doch es ist ratsam, daß du keinem Menschen traust, bis er sich als zuverlässig erwiesen hat, und selbst dann solltest du noch auf der Hut sein.«
»Ich verstehe, Vater. Welche Vorkehrungen haben Sie für meine Reise dorthin getroffen?«
»Du wirst den Kanal auf einem Kriegsschiff überqueren«, erklärte Lord Morden. »Du wirst an die normannische Küste gerudert und dort abgesetzt werden. Natürlich erhältst du genügend Geld.
Du kannst dir ein Pferd oder eine Kutsche kaufen und dich gemächlich auf den Weg nach Paris machen. Canning zieht gerade bei seinen Agenten Erkundigungen über Familien in der Normandie ein, die seit der Revolution ziemlich zurückgezogen gelebt haben.
Sicherlich gibt es darunter mindestens eine, die einen Sohn in etwa deinem Alter hat, der entweder tot oder in irgendeiner Weise untauglich ist. Du wirst seinen Namen annehmen und mit seiner Identität wenig oder gar kein Aufsehen in Paris erregen.«
»Ein guter Plan«, erwiderte Lord Sheringham, »vorausgesetzt, daß alles sorgfältig vorbereitet wird. Es wäre doch sehr peinlich, bei einer Abendgesellschaft einem Herrn zu begegnen, dessen Namen und Stammbaum ich mir, ohne ihn vorher zu fragen, ausgeliehen habe.«
»Wir werden dafür sorgen, daß das nicht passiert. Also, Armand, was hältst du von dem Vorschlag? Und hast du irgendwelche Ideen hinsichtlich der Ausführung dieser Mission?«
Lord Sheringham lächelte.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, Sir, mich nach meiner Meinung zu fragen. Ich bin bereit, nach Frankreich aufzubrechen. Wie Sie vor ein paar Minuten sagten, habe ich fünf Jahre in London verbracht - ausschweifende und liederliche Jahre, wenn Sie so wollen. Ich bin sechsundzwanzig und habe bis jetzt nichts erreicht und kaum etwas anderes gelernt, als daß Frauen so lange begehrenswert sind, bis sie sich einem Mann hingeben, und daß das Spielen ein teurer und im Grunde ziemlich reizloser Zeitvertreib ist.«
Lord Morden warf den Kopf in den Nacken und lachte.
»Ein Zyniker!« rief er. »Und das mit sechsundzwanzig! Armer Armand!«
»Trotzdem, es ist die Wahrheit«, widersprach Lord Sheringham. »Vielleicht liegt es an meinem französischen Blut, Sir, daß ich so ruhelos bin. Ich muß immer neue, aufregende Sachen finden, neue Wege, um mich bei Laune zu halten, selbst wenn ich dabei riskiere, Botschafter zu beleidigen!«
»Du wirst diese Sache nicht vergessen«, sagte Lord Morden.
»In der Tat, ich habe sie nicht vergessen«, antwortete Lord Sheringham. »Sehen Sie denn nicht, Sir, daß sie in gewisser Hinsicht vorteilhaft ist? Sie sind ganz offensichtlich äußerst verärgert über mich, und die gesamte adlige Welt wird sich darin einig sein, daß Sie völlig recht daran tun, mich für ein paar Monate aufs Land zu schicken und Morden House in der Zwischenzeit zu schießen.«
»Ich verstehe«, sagte Lord Morden. »Wir werden eine Erklärung für deine Abwesenheit von England brauchen.«
»Von London, Sir«, verbesserte Lord Sheringham ihn. »Sie besitzen doch Güter in Norfolk. Sie werden verlauten lassen, daß ich dorthin geschickt wurde, um ein ländliches Leben zu führen - keine Frauen, keine Karten; als einzige Unterhaltung Rebhühner schießen, wenn sie abschußreif sind.«
»Ausgezeichnet!« pflichtete Lord Morden ihm bei.
»Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Sir«, fuhr Lord Sheringham fort, »so halte ich es für ratsam, daß niemand außer Ihnen, Mr. Canning und den Kabinettsmitgliedern, die heute nachmittag hier waren, wissen, wohin ich fahre. Es wäre mir am liebsten, wenn Sie es auch nicht meiner Stiefmutter erzählten. Sie wissen, wie sehr ich Lady Morden schätze, aber Frauen klatschen nun einmal viel, weil sie sonst wenig zu tun haben.«
»Ich werde ihr sagen, daß du in Norfolk bist«, sagte Lord Morden. »Aber wie steht es mit deinen Freunden, mein Junge, besonders mit den weiblichen?«
»Denen werde ich genau dasselbe erzählen. Heute Abend wird ganz London bereits von Ihrer Härte und Strenge wissen. Ich werde Sie wegen Ihres Verhaltens beschimpfen und vielleicht sogar ein paar Tränen an einer weißen Schulter weinen. Und schon morgen könnte ich dann aufbrechen.«
Lord Morden streckte seine Hand aus.
»Danke, Armand.«
»Im Gegenteil, Vater, ich habe Ihnen zu danken. Zum ersten Mal seit Monaten habe ich etwas zu tun, was mich wirklich interessiert.«
»Willst du mir etwa erzählen«, fragte Lord Morden mit gespieltem Ernst, »daß dich all jene wunderschönen Damen, mit denen dein Name auf solch widerwärtige und bedauerliche Weise in Verbindung gebracht worden ist, nicht interessierten?«
»Bis zu einem gewissen Punkt interessieren sie mich zwar«, sagte Lord Sheringham, »aber dieser Punkt, Sir, war immer gegen Morgen erreicht.«
Lord Morden lachte, doch sein Blick, der auf dem hübschen Gesicht seines Sohnes ruhte, war traurig.
Drei Tage später landete Monsieur Armand de Segury bei Tagesanbruch an der Küste Frankreichs. Die Matrosen, die ihn gemäß ihren Anweisungen ans Land ruderten, sprachen nicht, als er zum Abschied winkte.
Sie beobachteten, wie er leichtfüßig vom Bug des Bootes auf den Sand sprang, und warteten, bis seine hohe Gestalt im Schatten der Klippen verschwunden war. Dann ruderten sie rasch zurück zu ihrem Schiff.
Armand begab sich in aller Ruhe zu einem Dörfchen, das etwa eineinhalb Kilometer von der Küste entfernt lag. Zur Frühstückszeit schlenderte er in einen Gasthof, bestellte sich eine gute Mahlzeit und erzählte dem Gastwirt eine lange und komplizierte Geschichte.
Seine Kutsche sei etwa fünfzehn Kilometer vom Dorf entfernt zusammengebrochen, er sei von einem Bauern auf dessen Wagen bis zum Dorf mitgenommen worden und jetzt brauche er ein Pferd, da er dringende Geschäfte in Rouen zu erledigen habe.
Der Wirt glaubte ihm seine Geschichte ohne weiteres und erkundigte sich im ganzen Dorf und in der Umgegend nach Pferden, die zum Verkauf angeboten würden.
Glücklicherweise war es leicht, ein Tier mit einem ganz passablen Stammbaum aufzutreiben. Der im Dorf ansässige Burgvogt, der durch die Revolution verarmt war, züchtete seit einiger Zeit Pferde, erhielt jedoch, wie er sagte, für seine Tiere nur selten einen vernünftigen Preis.
Natürlich konnte er sie an die Armee verkaufen, aber die drückte den Preis bis auf den letzten Sou herab, wo er doch ohnehin schon oft beim Verkauf eines Pferdes ein Verlustgeschäft machte.
Als er merkte, daß Armand reich genug war, um einen anständigen Preis zu zahlen, bemühte er sich beinahe rührend darum, es ihm recht zu machen.
Nach kurzen Verhandlungen, die bei einer Flasche Wein endeten, setzte Armand seine Reise auf dem Rücken eines temperamentvollen schwarzen Hengstes fort.
Es überraschte Armand nicht, daß das Land hier gut bestellt war, die Leute in den Dörfern einen zufriedenen Eindruck machten und die Kinder rotbackig und wohlgenährt waren. Die schändlichen Sansculotten und blutbefleckten Szenen auf Gillrays Karikaturen, die ganz England hatten schaudern lassen, waren durch saubere Straßen und ordentliche Bürger ersetzt worden.
Die Frauen in den Dörfern, mit ihren roten Jacken aus leichtem Wollstoff, mit den Latzschürzen und den langen, flatternden Zipfeln an den weißen Hauben, hatten ein freundliches Wort für jeden, der die Märkte besuchte, um ihre leuchtend bemalten Eier zu kaufen.
Sie klapperten mit ihren Holzschuhen mit scharlachroten Troddeln fröhlich über die Pflastersteine, und in den Gasthöfen servierten sie duftenden Kaffee, schaumige, gelbe Omeletts und lange, knusprige Brötchen mit der ihnen eigenen Geschicklichkeit.
In den Provinzstädten jedoch sah es ganz anders aus. Hier bekam man bereits die Härte des Wirtschaftskrieges, den Napoleon angefangen hatte, zu spüren. Für Tausende von französischen Staatsbürgern bedeutete er den Ruin. Es gab keinen Absatzmarkt für überschüssige Produktionen, die Steuern stiegen in zerschmetternde Höhen, während der Konsum sank; die Scharen hungernder Bettler wurden von Tag zu Tag größer.
Den passenden Hintergrund bildeten die Schlösser, Burgen und Landsitze, die während der Revolution zerstört worden waren, die geplünderten und verlassenen Kirchen, die entweihten Grabstätten und zerschlagenen Altäre.
Nur auf den Feldern, von denen die jungen Männer zwangsweise zum Heeresdienst eingezogen worden waren, gab es noch Vollbeschäftigung. Hier, wenn auch nirgendwo anders, wurden die Jahre der Vernachlässigung und Zerstörung rasch wieder aufgeholt.
Armand hatte es nicht eilig, nach Paris zu gelangen. Er war sich der Risiken und Schwierigkeiten, die ihm bevorstanden, und der Tatsache, daß er hier in Frankreich ein gefährliches Spiel spielte, wohl bewußt.
Er dachte an die Geschichte, die einer der Würdenträger an der Universität oft erzählte: dieser hatte einmal versucht, nach Mekka zu gelangen, indem er vorgab, ein arabischer Pilger zu sein.
»Die wichtigste Kunst der Tarnung«, pflegte er den aufmerksamen Studenten zu sagen, »ist es, in der Sprache, derer man sich bedient, zu denken.«
Armand hatte jene Worte nie vergessen, und während er nun durch Frankreich ritt, übte er sich darin, nur noch Französisch zu denken, was ihm natürlich leichter fiel als anderen Leuten.
Seine Mutter hatte, als er noch klein war, Französisch mit ihm gesprochen; seine allerersten Worte als Kleinkind waren sogar eine Mischung aus Französisch und Englisch gewesen. Wenn er und seine Mutter zusammen waren, hatten sie immer Französisch geredet, und oft hatte sie liebevoll zu ihm gesagt: »Du mußt auch mein Sohn sein, nicht nur der deines Vaters. Dein Vater kann dir sehr viel geben - deine Stellung, deinen Titel, den großen Reichtum, den du eines Tages erben wirst -, aber auch ich kann dir etwas Wertvolles geben. Ich kann dich das Geheimnis eines ausgefüllten Lebens lehren, kann dir die Kunst beibringen, über dich selbst zu lachen, und ich kann dir von der Freude und dem Schmerz des Liebens erzählen.«
Er erinnerte sich daran, wie sie in solchen Momenten den Kopf in den Nacken warf und ihr ganzer Körper sich ein wenig bog, als fühlte sie eine tiefe Sehnsucht, wenn sie ausrief: »Tiens! Aber diese Engländer! Sie wissen nicht, wie man liebt! Wenn du älter bist, Armand, werde ich dir eine Menge darüber erzählen!«
Als er jedoch alt genug war, um derartige Dinge zu verstehen, war sie nicht mehr da. Seine faszinierende, bewundernswerte, kleine französische Mutter starb, als er gerade siebzehn geworden war.
Nur zu lebendig erinnerte er sich noch des Schocks, den er erlitt, als er von ihrem Tod erfuhr. Er wußte noch, daß er auf eine Schale mit Frühlingsblumen im Salon - dem Zimmer, das ganz besonders ihr gehört hatte - gestarrt und dabei gedacht hatte, daß auch sie sterben würden, daß auch ihre Schönheit vergehen würde, genau wie die seiner Mutter.
Er hatte es seinem Vater nicht verübelt, daß er wieder heiratete. Er hatte verstanden, daß die Leere in den Räumen, wo seine Mutter gelacht und gescherzt hatte, unerträglich dumpf und schmerzlich wurde.
Er hatte geahnt, daß für seinen Vater jegliche Gesellschaft, und sei sie auch noch so alltäglich, besser war, als allein dazusitzen und auf eine Stimme, die nie mehr ertönen würde zu lauschen oder auf Schritte, die sich nie wieder nähern würden, oder auf das Rascheln eines Kleides, das seine Besitzerin nie wieder tragen würde.
Auch er hatte dieses schmerzliche Verlangen nach etwas, das für immer aus seinem Leben entschwunden war, kennengelernt. Auch er hatte sich gefragt, ob das Leben wohl je wieder so wie früher sein werde, ohne den Menschen, der es so ausgefüllt, der es zu so etwas Wundervollem, Aufregendem gemacht hatte.
Seine Mutter war sehr hübsch gewesen, und er wußte, daß er ihr sehr ähnelte, mehr als seinem Vater, und daß sie mit gutem Grund so oft gelacht und ihn »mein kleines französisches Baby« genannt hatte.
Im ersten Jahr nach ihrem Tod konnte er es nicht einmal ertragen, an sie zu denken. Er sprach nicht mehr Französisch, und hörte auch nicht zu, wenn irgendjemand Französisch sprach; doch als der erste, schlimmste Schmerz über den Verlust verklungen war, lernte er jede Erinnerung an sie, jedes ihrer Worte, das er noch wußte, schätzen und wie einen Schatz hüten.
Und jetzt fiel ihm alles wieder ein - ihre Sätze, ihre Ausrufe, die faszinierenden und amüsanten kleinen Redewendungen, die sie immer gebrauchte und die ihn jedes Mal wieder zum Kichern brachten.
Während er über das weite Land dahinritt, in dem sie geboren war, hatte er das Gefühl, als begleite sie ihn und führe ihn durch dieses größte Abenteuer, auf das er sich je eingelassen hatte.
Nach zehn Tagen gelangte Armand in die Nähe von Paris. Das Wetter war herrlich warm, doch eine sanfte Brise wehte über das Land, so daß es sich selbst um die Mittagszeit gut weiterreiten ließ.
Inzwischen wartete Armand ungeduldig auf den Moment seiner Ankunft am Ziel. Er hatte keine Pläne, keine Vorstellungen, was geschehen sollte, sobald er in Paris eintraf, und doch war er von dem Drang beseelt, auf schnellstem Wege dorthin zu gelangen.
Er wollte die Aufgabe, die er übernommen hatte, beginnen, wollte sich an die Arbeit machen. Die Reise hatte ihm Gelegenheit gegeben, sich gut vorzubereiten, auf alles - und sei es noch so seltsam, noch so unerwartet - gefaßt zu sein.
An einem Mittwochabend ritt er die lange, gerade Straße entlang, die zu dem Dorf St. Denis führte. Die ersten Sterne erschienen am Himmel, der Mond ging auf. Armand zog seine Uhr aus der Tasche, es war bereits Viertel vor zehn.
Er war ebenso müde wie sein Pferd. Eigentlich hätte er schon fünfzehn Kilometer vorher zu Abend essen und sich in einem Gasthof zum Schlafen einquartieren sollen, aber er steckte voller Ungeduld. Jetzt jedoch, da er in St. Denis war und wußte, daß es nur ungefähr siebenunddreißig Kilometer von Paris entfernt lag, beschloß er, die Nacht über hierzubleiben.
Die Landschaft war wunderschön - überall wuchs grünes Gras, und üppige, hohe Bäume säumten die Straßen und den wellenförmigen Berghang.
Armand erreichte den Dorfgasthof, der, wie nicht anders erwartet, klein und spärlich möbliert war. Doch alles wirkte sauber, und der Wirt beeilte sich, das Abendessen und eine Flasche Wein für Armand zu holen. Beides war so appetitlich, daß er sich nicht lange bitten ließ. Als sein Hunger gestillt war, ging er zum Stall, um nachzusehen, ob sein Pferd ordentlich gestriegelt und mit Streu versorgt war.
Als er wußte, daß alles seine Ordnung hatte, schlenderte er gemächlich die Dorfstraße entlang. Nach dem langen Tagesritt tat es gut, sich die Beine zu vertreten, und bald bog Armand von dem gepflasterten Weg ab in einen schmalen Feldweg, der, wie er feststellte, von einer hohen Mauer begrenzt war.
Die Mauer war von gewaltigen Ausmaßen, mindestens zehn Meter hoch, und von Eisenspitzen als unübersehbares Abschreckungsmittel für etwaige Eindringlinge gekrönt. Doch sie stellte gar kein so unüberwindbares Hindernis dar, wie es im ersten Moment schien, denn ein Stück weiter unten war sie teilweise zusammengebrochen, so daß ein Loch entstanden war, durch das man leicht mit Pferd und Wagen hätte eindringen können.
Neugierig spähte Armand zwischen den Bäumen und Büschen hinter der Mauer hindurch und entdeckte in der Ferne etwas silbrig Glitzerndes.
Da er ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, kletterte er über die am Boden liegenden Steine und wagte sich über einen weichen Teppich aus Kiefernnadeln und Moos, zwischen Bäumen hindurch, weiter ins Innere des Gartens hinein.
Hinter der zusammengestürzten Mauer hatte er ein verfallenes Château erwartet, wie er es nur zu oft auf seiner Reise von der Küste hierher gesehen hatte; aber obgleich er ein gutes Stück Weg zurücklegte, entdeckte er nirgends ein Gebäude; die Bäume lichteten sich, doch dahinter lag ein kleiner See, der von einem künstlichen Wasserfall gespeist und von hohen Bäumen überschattet wurde.
Dies also war der silberne Schimmer, den er aus der Ferne gesehen hatte. Einen Augenblick lang stand er wie angewurzelt da, fasziniert von dem wunderbaren Anblick.
Dort, wo Armand aus dem Wald hervortrat, plätscherte ein Wasserfall herab; oberhalb davon lag vermutlich ein See und darüber vielleicht noch einer.
Links von dem Wasserfall stand ein kleiner griechischer Tempel aus Marmor, der früher einmal elfenbeinweiß gewesen sein mußte, mit der Zeit jedoch verwittert und mit einer bunt schillernden Patina überzogen war, und an dessen Säulen Geißblatt und Rosen üppig emporrankten.
Der Mondschein flutete auf den kleinen, von dunklen Bäumen eingesäumten Tempel, von dem aus Stufen aus Stein hinunter zum See führten. Alles lag still da, nur das leise Plätschern des Wasserfalles und die zauberhaften, sanften nächtlichen Geräusche des Waldes waren zu hören.
Armand stand unbeweglich da. Es war nicht nur die Schönheit dieses Ortes, die ihn bannte. Fast schien ein Zauber auf ihm zu liegen, er spürte, daß dieser Augenblick unsagbar wichtig war, er ahnte, daß sich hier etwas Entscheidendes ereignen würde.
Während er so dastand, erfüllt von einer seltsamen, unerklärlichen Vorahnung, schritt eine Frau, fast ein Mädchen noch, die Stufen vom Tempel herab. Sie bewegte sich sehr langsam und war in ein weißes, durchsichtiges Tuch gehüllt, das sie vorn zusammenraffte. Sie erreichte die letzte Stufe, die vom Tempel ins Wasser führte, blieb dort stehen und sah sich um, als atme sie tief die Schönheit der Natur ein. Dann ließ sie das Tuch, das sie trug, langsam sinken - so langsam, daß es fast aussah wie ein Nebel, der der Morgensonne weicht; es glitt auf ihre Taille hinab und dann zu ihren Füßen.
Sie warf den Kopf in den Nacken und wandte ihr Gesicht dem Mond entgegen, der über den Bäumen schien. Völlig nackt, von einer unbeschreiblichen Schönheit, stand sie da, weiß und vollkommen, und doch leuchtend wie eine Perle vor dem Hintergrund des grauen Gesteins. Sie erinnerte an eine antike griechische Statue.
Doch ihre wogenden, runden Brüste, die langen, schlanken Beine und die stolze, kräftige Linie ihres Rückens hatten nichts Antikes oder Lebloses an sich.
Ihre Taille ließ sich mit zwei Händen umfassen, und ihr langer, anmutiger Hals verlieh ihrem hübschen Kopf etwas Vornehmes, das selbst aus dieser Entfernung erkennbar war.
Eine Sekunde stand sie noch so da, dann tauchte sie in das Wasser ein. Sie schwamm über den See, drehte, schwamm zurück und erklomm erneut die Stufen. Glitzernd stand sie im Mondschein, Wassertropfen fielen schillernd auf den Boden zu ihren Füßen.
Ihr Haar hob sich dunkel von ihren Schultern ab. Sie nahm es und schlang es mit einer unendlich langsamen, sanften Bewegung zu einer Rolle, um es trocken zu wringen.
Plötzlich stieg sie genauso unvermutet, wie sie erschienen war, die Stufen hinauf und verschwand im Schatten des Tempels.
Armand holte tief Luft. Er hatte kaum gewagt zu atmen, während er sie beobachtete, gebannt von einer Schönheit, wie er sie sich niemals hätte träumen lassen - dem Mondschein, dem silbernen Wasser, den dunklen Bäumen, dieser lieblichen, vollkommenen Gestalt.
Einen Moment glaubte er schon, alles nur geträumt zu haben, dann jedoch bemerkte er eine kleine dunkle Wasserpfütze auf den Steinstufen - Wasser, das ihren Körper berührt hatte.
Langsam, wie im Traum, fast gegen seinen Willen, schritt er auf den Tempel zu.