Читать книгу Auf den Flügeln der Liebe - Barbara Cartland - Страница 2
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ОглавлениеDer Tempel war größer, als Armand ihn aus der Entfernung geschätzt hatte. Er war teilweise zerstört und wirkte im Mondschein fremd und geheimnisvoll, als wäre er der Schauplatz eines Traumes.
Der Pfad führte zur Mitte der Stufen, von denen einige nach oben zu der Öffnung zwischen den Marmorsäulen führten, andere nach unten in das kühle, silbrige und jetzt ruhig daliegende Wasser. Armand blieb stehen und wartete.
In der Ferne, irgendwo im Schatten der Bäume, sang eine Nachtigall. Es roch herrlich nach Rosen und anderen Blumen, deren exotische Düfte er nicht kannte. Alles war sehr still; es schien, als warteten selbst die Bäume und Blumen.
Plötzlich erschien sie, und obgleich er sie erwartet hatte, fuhr er bei ihrem Anblick beinahe zusammen.
Sie blieb zwischen zwei Säulen kurz stehen und trat gleich darauf lautlos aus der Dunkelheit des Eingangs hinaus ins Mondlicht. Dabei summte sie eine Melodie vor sich hin, und jetzt, da die Stille unterbrochen war, klang es, als jubelte ein ganzer Chor einen Triumphgesang.
Sie war wirklich wunderschön! Armand, der in seinem Leben schon viele schöne Frauen gekannt hatte, verschlug es den Atem angesichts einer so reinen, vollkommenen Schönheit.
Sie war nicht groß, doch ihre Grazie und die Anmut des Kopfes und des langen Halses verliehen ihr sowohl Größe als auch Würde.
Ihr Gesicht war herzförmig, ihr dunkles Haar fiel von einem Punkt in der Mitte ihrer weißen Stirn lose zu beiden Seiten herab. Sie hatte große Augen, schwarze Wimpern, und zwischen ihren Augen saß eine winzige, gerade, aristokratische Nase, die einen gewissen Gegensatz zu den weichen, einladenden Rundungen ihres roten Mundes bildete.
Ihre Lippen waren leicht geöffnet und ihre Augen groß und leuchtend, als sie einen Moment hinauf zum Mond blickte, ohne zu wissen, daß sie beobachtet wurde.
Sie trug ein durchsichtiges Gewand, das unterhalb ihrer Brüste mit Silberbändern zusammengehalten wurde, über ihre Schultern hatte sie einen mit Schwanendaunen besetzten Schal aus weißem, Samt gelegt.
Es erschien Armand nur selbstverständlich, daß sie aus diesem Tempel trat - keine Göttin, die je dem Olymp entstiegen war, hätte sich für diese Rolle besser geeignet.
Die Melodie, die sie summte, brach ab. Wieder sah sie hinauf zum Mond und seufzte, als hauche sie einen Wunsch oder ein Gebet gen Himmel und schaue, wie es langsam nach oben entschwebte. Doch auf einmal spürte sie, daß sie beobachtet wurde.
Sie wandte hastig den Kopf und entdeckte Armand. Einen Moment bewegte sich keiner von beiden, dann fuhr sich das Mädchen mit der Hand an den Busen, als wolle es sein plötzlich hastig schlagendes Herz beruhigen.
»Wer sind Sie? Was tun Sie hier?« fragte sie mit leiser, süßer Stimme, in der jedoch eine Spur von Angst lag.
Armand zog seinen Hut und verneigte sich.
»Ich bin ein Eindringling im Märchenland, Mademoiselle.«
»Eindringling, gewiß«, entgegnete sie kühl. »Bitte verlassen Sie das Grundstück augenblicklich auf dem Wege, auf dem Sie gekommen sind!«
»So grausam können Sie doch nicht sein!«
Ohne auf ihre Reaktion zu warten, stieg er die Stufen hinauf und stellte sich neben sie, so daß sie ihn deutlich im Mondschein erkennen konnte.
Einen Moment blickte sie ihm offen ins Gesicht, dann fragte sie: »Was wollen Sie hier?«
»Nichts!« antwortete Armand. »Ich bin ein Reisender, der sich verirrt hat - oder sollte ich sagen, der den Weg in eine verzauberte Märchenwelt gefunden hat.«
Offensichtlich hatte seine Antwort sie beruhigt, vielleicht hatte sie etwas Schlimmeres, Gefährlicheres erwartet. Die Hand an ihrem Busen hörte auf zu zittern, und sie erwiderte ruhig und ohne Eile: »Dieser Park ist privat. Bitte entfernen Sie sich!«
»Darf ich zuerst noch fragen, wer Sie befugt hat, derartige Befehle zu erteilen?«
Das Mädchen richtete sich auf und erwiderte mit stolzer Stimme: »Mich braucht niemand dazu zu befugen! Ich bin die Comtesse Rêve de Valmont, und dieses Grundstück gehört mir!«
»Rêve!« wiederholte Armand sanft. »Dann habe ich mich doch nicht getäuscht. Das hier ist ein Traum, und Sie sind der Traum im Traum!«
»Ein Traum, Monsieur, aus dem Sie gewaltsam erwachen werden, falls Sie nicht augenblicklich gehen.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Ihre Blicke trafen sich, und sie sah hastig zur Seite. Hilfesuchend schaute sie sich in dem dunklen, stillen Wald um, und er wußte, daß sie sich der Zwecklosigkeit ihrer Drohungen bewußt war. Er sah, wie sie plötzlich von einem Gefühl der Hilflosigkeit erfaßt wurde, und trat instinktiv einen Schritt zurück.
»Verzeihen Sie mir! Ich wollte Sie nicht erschrecken. Wenn Sie möchten, daß ich gehe, werde ich es augenblicklich tun.«
Jetzt, da er so vollkommen nachgegeben hatte, schien ihre Neugier geweckt. Sie sah ihn von oben bis unten an, sein hübsches Gesicht, die gutgeschnittenen, teuren Kleider, das Glitzern eines Diamanten an seinem kleinen Finger.
»Sie sagten, Sie seien ein Reisender, Monsieur. Haben Sie sich vielleicht verirrt?«
»Nein, verirrt nicht - aber mir ist etwas viel Schlimmeres passiert.«
»Tatsächlich?« Sie zog die Brauen fragend hoch.
»Es ist etwas, was mir noch nie zuvor passiert ist«, fuhr Armand fort. »Als ich dort hinten zwischen den Bäumen stand, nachdem ich - wie ich zugebe, Mademoiselle - durch eine verfallene Mauer in Ihr Grundstück eingedrungen war, sah ich etwas so Wunderschönes, so Erlesenes, daß mein Herz meinem Körper entflog und, wie ich glaube, für immer verloren ist.«
Ihre Hände bewegten sich unruhig hin und her, und sie wagte es nicht, ihn anzusehen.
»Sie - Sie meinen, Sie sind - Sie sind schon - längere Zeit hier?« stammelte sie.
»Ein paar Sekunden - eine ganze Ewigkeit lang; einen Augenblick, der sich nicht mit den irdischen Grenzen der Zeit messen läßt.«
Röte schoß ihr in die Wangen, die sie - falls das überhaupt möglich war - noch anmutiger machte. Schließlich sagte sie mit einer Geste, die Stolz mit Schüchternheit verband: »Ich muß Sie bitten, Monsieur, sich daran zu erinnern, daß Sie hier eingedrungen sind und daß das, was Sie sahen, weder für Ihre Augen noch für die eines anderen bestimmt war.«
»Ich erinnere mich an nichts weiter, als daß Sie der wundervollste Mensch sind, der mir in meinem ganzen Leben begegnet ist.«
Seine Stimme war ganz leise, und obwohl sie ihn plötzlich angsterfüllt ansah, rührte sie sich nicht vom Fleck. Beide waren sich einer geheimen Kraft bewußt, die sie zueinander hinzog, einer Art Magnetismus, der sie durchströmte und alles fremd und doch sprühend vor Leben erscheinen ließ. Dieser Strom verwandelte ihre Worte und erfüllte sie mit Erregung und einem nie gekannten Zauber.
Einen Augenblick lang konnte keiner von beiden sich bewegen. Sie standen wie angewurzelt da, sahen einander an, ihre Blicke aneinandergeheftet wie durch eine Macht, die stärker als ihr eigener Wille und ihre Gedanken war.
Armand spürte, daß sein Herz heftig schlug. An dem weißen Hals des Mädchens sah er das Pochen ihres Pulses und wußte, daß sie den Atem schnell und heftig zwischen ihren geöffneten Lippen ausstieß.
Nun fragte sie flüsternd: »Wer sind Sie?«
Es kostete ihn große Mühe, auf den Boden der Wirklichkeit zurückzukehren.
»Ich bin Armand de Segury«, antwortete er, »und bin auf der Reise von der Normandie, meiner Heimat, nach Paris.«
»Armand de Segury«, wiederholte sie. »Wie merkwürdig! Der Name meines Bruders ist ebenfalls Armand, und ich erwarte seine Ankunft.«
»Heute Abend? Jetzt?« fragte Armand nur zu dem einen Zweck, die Unterhaltung fortzusetzen.
Was spielte es schon für eine Rolle, was sie laut sagten, wenn ihre Herzen doch eine ganz andere Sprache sprachen?
»Heute Abend, morgen oder, wie Sie sagen, vielleicht auch jetzt! Wer weiß? Er kommt von weit her und hätte eigentlich schon vor ein paar Tagen hier eintreffen sollen. Aber das interessiert Sie gewiß nicht, mein Herr! Ich habe es auch nur erwähnt, weil Sie zufällig denselben Namen tragen wir er.«
»Doch, es interessiert mich sogar sehr«, entgegnete Armand.
»Warum?«
Die Frage war ziemlich naiv. Er antwortete lächelnd: »Möchten Sie wirklich die Antwort darauf hören?«
Wieder errötete sie. Dann schien sie sich mühsam an die Regeln des Anstands zu erinnern und sagte: »Ich muß ins Haus zurück. Es ist schon spät.«
»Ich bitte Sie, mich nicht allein zu lassen!« Seine Worte waren impulsiv, eindringlich.
»Aber ich muß gehen! Auf Wiedersehen, Monsieur!«
Sie streckte die Hand aus, doch statt sie, der Etikette entsprechend, zu küssen, nahm er sie in seine beiden Hände und hielt sie fest.
»Manchmal geschehen Dinge im Leben«, sagte er, »die so außergewöhnlich sind, wie man sie sich niemals erträumt hätte. Es gibt Momente, die einzigartig sind - wundervolle Momente, wie vom Himmel gesandt. Wir wären wirklich töricht, wollten wir solche Momente, solche Ereignisse ignorieren, oder wollten wir sie als alltäglich abtun. Heute Abend ist mir ein Wunder widerfahren. Als ich dort drüben den Wald betrat, war ich ein ganz anderer Mensch, als ich es jetzt, in diesem Augenblick, bin. Können Sie mich jetzt verlassen und von mir erwarten, nach Paris zu fahren, als wäre nichts geschehen?«
Er spürte, daß ihre Finger in seinen Händen zitterten, doch er ließ ihre Hand nicht los.
»Ihre Reise ist zweifellos wichtig, mein Herr.«
»Nichts ist wichtiger, als daß wir uns wiedersehen.«
»Aber das ist unmöglich!«
»Warum?«
Sie zögerte.
»Es gibt so viele Gründe, die dagegen sprechen«, meinte sie schließlich. »Sie sind ein Fremder, ich kenne Sie nicht! Wenn ich Ihnen gestattete, mir einen kurzen Besuch abzustatten, wie sollte ich dann Ihre Bekanntschaft erklären? Meine Großtante, die auch meine Anstandsdame ist, würde Fragen stellen. Außerdem erwarten wir meinen Bruder.«
»So viele Ausreden«, murmelte Armand, »und doch würde ich ohne Eitelkeit, in aller Bescheidenheit, schwören, daß Sie mich ebenso sehr wiedersehen möchten, wie ich Sie.«
Sie blickte zu ihm auf, und ihre Widerrede erstarb ihr auf den Lippen.
Sie spürte nur zu gut diese unerklärliche Anziehungskraft zwischen ihnen beiden, dieses prickelnde Gefühl, das sich wie Feuer von seinen Fingern auf sie übertrug und in ihrem ganzen Körper ausbreitete.
Sie hatte das Gefühl, als zöge er sie unbarmherzig näher zu sich heran, und von plötzlicher Panik ergriffen, riß sie ihre Hand los und wandte das Gesicht ab.
»Bitte gehen Sie!« flehte sie.
Armand sank auf die Knie, faßte erneut ihre Hand und drückte seine Lippen darauf.
»Ich werde morgen Abend wiederkommen und warten«, sagte er leise. »Wenn Sie nicht hier sind, werde ich wissen, daß dies alles nur ein Traum war.«
Er stand auf und eilte den gleichen Weg hinab, auf dem er zum Tempel gekommen war, ohne sich noch einmal umzusehen.
Erst als er das Ende des Sees erreicht und den Pfad fand, der durch den Wald zur Mauer führte, wandte er sich um. Doch sie war fort!
Der Tempel stand im Schein des Mondes leer und verlassen da.
Als Armand den Gasthof betrat, fand er den Wirt vor, der, mühsam ein Gähnen unterdrückend, auf ihn wartete.
»Wer lebt auf dem Grundstück auf der anderen Seite des Dorfes?« erkundigte sich Armand.
»Es ist der Familie de Valmont zurückgegeben worden«, antwortete der Wirt und fügte hinzu: »Oder denen, die noch davon übrig sind!«
»Haben sie es in den Jahren des Terrors verloren?«
Der Wirt nickte.
»Der Graf starb unter der Guillotine. Ich behaupte ja nicht, daß ihm nichts vorzuwerfen war, aber er war trotzdem kein schlechter Herr. Doch er mußte sterben, wie die meisten der verdammten Adligen in dieser Gegend. Aber der Kaiser, der ja ein gerechter Mann ist, hat der Tochter des Grafen, der Comtesse Rêve, den Grundbesitz zurückgegeben. Sie lebt dort mit ihrer Tante, der alten Herzogin.«
»Und der Sohn der Familie?« fragte Armand.
Der Wirt sah ihn überrascht an.
»Sohn? Es gibt keinen Sohn, soweit ich weiß! Der Graf und die Gräfin hatten nur ein einziges Kind, und sie lebt jetzt dort im Château, wie Sie selbst sehen können, falls Sie morgen auf Ihrem Weg nach Paris dort einen kurzen Besuch abstatten wollen.«
»Ich werde es mir überlegen«, entgegnete Armand in gleichgültigem Ton. »Übrigens breche ich morgen noch nicht nach Paris auf. Mein Pferd hat Ruhe nötig, und ich auch. Ich werde noch eine Nacht hierbleiben.«
Der Wirt wurde augenblicklich unterwürfig.
»Aber gewiß doch, Monsieur. Es ist mir eine Ehre, Monsieur. Wenn Monsieur mir morgen früh seine Lieblingsspeisen mitteilen möchten, wird meine Frau ein Essen zubereiten, das sogar dem Kaiser munden würde.«
Lange bevor der Wirt zu reden aufhörte, war Armand bereits die halbe Treppe zu seinem Schlafzimmer hinaufgeeilt.
Es war ein spärlich möblierter Raum; die Kerze warf dunkle Schatten auf die von dicken Balken getragene Decke und erleuchtete die unebenen Bretter und Risse im Boden. Doch Armands Gedanken drehten sich um andere Dinge, und als er sich schließlich aufs Bett legte, schlief er fast augenblicklich ein und wachte erst am nächsten Morgen wieder auf.
Die Sonne schien durch das vorhanglose Fenster und weckte ihn auf; einen Moment lag er still, mit geschlossenen Augen, und dachte an die Ereignisse des vergangenen Abends.
Im Rückblick wirkten sie grotesk, nicht wegen der Ereignisse selbst - er war in einen Wald eingedrungen und hatte eine junge Frau beim Baden in einem silbrig glänzenden See beobachtet -, sondern wegen der Gefühle, die in ihm erwacht waren, Gefühle, die zu empfinden er niemals erwartet hatte.
Er versuchte, sich einzureden, daß alles nur eine Sinnestäuschung war, und doch wußte er genau, daß dies nicht stimmte.
Gleichsam verärgert darüber, so viele Stunden mit Schlafen verbracht zu haben, sprang er aus dem Bett, mit einer Behändigkeit und Entschlossenheit, die so gar nicht seinen für gewöhnlich trägen Bewegungen entsprachen.
Nach dem Frühstück ging er hinaus auf die gepflasterte Dorfstraße, wo die Bauern ihre Waren verkauften.
Ohne sich um die auf ihn gerichteten neugierigen Blicke zu kümmern, schlenderte Armand durch das Dorf, und zwar in die Richtung, aus der er am Vorabend gekommen war, bis er den Weg erreichte, der von der hohen Mauer begrenzt war.
Diesmal wandte er sich jedoch statt nach links nach rechts und folgte der Mauer, bis er zu einem riesigen Eisentor kam, das von Steinpfeilern eingesäumt und von Wappenbildern gekrönt war. Hinter dem Tor wurde eine ungepflegte, von Unkraut überwucherte Auffahrt sichtbar, die jedoch von schönen Pappeln eingefaßt war.
Am Ende dieser Allee stand das Schloß. In der Morgensonne wirkte es sehr eindrucksvoll; seine Türme und Türmchen glitzerten vor dem blauen Himmel, die Fenster glänzten wie der See, der es von drei Seiten umgab.
Armand stand eine Weile da und starrte das Schloß an; dann kehrte er um und ging langsam zum Gasthof zurück. Der Wirt war nirgends zu entdecken, doch Armand fand auch allein den Weg zum hinteren Teil des Hauses.
In einer großen Küche mit niedriger Decke traf er die Frau des Wirtes an, die zwei junge Enten rupfte.
»Bonjour, Monsieur«, sagte sie und sah ihn mit leuchtenden Augen bewundernd an. Armand senkte den Kopf und trat durch die niedrige Tür ein.
»Bonjour, Madame«, erwiderte er. »Sagen Sie mir, wie heißt die Tante, die bei der Comtesse Rêve de Valmont lebt?«
»Madame la Duchesse de Malessene. Sie ist die Großtante der Comtesse und schon sehr betagt, Monsieur; aber sie ist noch im vollen Besitz ihrer Kräfte. Meine Nichte, die im Château arbeitet, hat mir erzählt, daß den Adleraugen der alten Dame nichts entgeht. Sie ist noch ganz vom alten Schlag, und das kann man heutzutage nicht von sehr vielen Leuten behaupten.«
»Wieso, Bürgerin, loben Sie die Aristokraten?« spöttelte Armand.
Ihm fiel auf, daß sie einen Blick über die Schulter warf, als habe sie Angst, belauscht zu werden. Dann lachte sie.
»Ich will damit ja nicht sagen, daß ich den alten Tagen nachtrauere, Monsieur. Wir wären auch wirklich undankbar, wenn wir das täten, wo unser geliebter Kaiser Frankreich doch zur größten und gefürchtetsten Nation der Erde gemacht hat. Doch es gibt einige, die die neuen Bedingungen und die neue Freiheit ausnützen. Es ist ja schön und gut, ohne Religion und all die alten Spielregeln auszukommen, mit denen wir aufwuchsen - aber sind die jungen Leute deshalb besser? Das frage ich mich manchmal.«
Sie war mit dem Rupfen der einen Ente fertig, band sie zusammen und legte sie auf den Tisch. Dann nahm sie die andere zur Hand.
»Ich hatte nie Streit mit denen, die im Château leben«, fuhr sie fort. »Der Graf war zu meiner Familie immer freundlich, und die kleine Comtesse ist ein wahrer Engel. Gott segne sie! Aber hier im Dorf werden Sie einige finden, Monsieur, die sogar über den Kaiser murren, weil er das Château den de Valmonts zurückgegeben hat.«
»Gewiß wagen sie aber auch nicht mehr als zu murren, oder?« meinte Armand.
»Ja, gewiß. Wer, so frage ich mich, sind die überhaupt, daß sie die Entscheidungen des Kaisers in Frage stellen? Das ist vielleicht eine Frechheit und Undankbarkeit! Aber, wie ich schon oft zu meinem Mann gesagt habe, man kann manchen Leuten hohe Stellungen und feine Kleidung geben, sie werden trotzdem immer die Schweine bleiben, die sie schon bei ihrer Geburt waren!«
»Ja, das stimmt«, antwortete Armand ernst. »Und im Château lebt niemand außer der Comtesse und ihrer Großtante?«
»Im Moment niemand, glaube ich, außer Antoinette.«
»Und wer ist das?« erkundigte sich Armand.
»Ach, das ist nur eine Dienerin, aber eine Persönlichkeit - eine echte Persönlichkeit! Sie war die Amme der kleinen Comtesse, und als der Terror einsetzte, schmuggelte sie sie aus dem Château, gerade in dem Moment, als die Bürger die Tore erstürmten. Viele Jahre lang wußte niemand, was der armen Kleinen zugestoßen war. Antoinette versteckte sie; es wird behauptet, daß die beiden durch das Land streiften wie Zigeuner. Vor zwei Jahren gab der Kaiser das Château der kleinen Comtesse zurück, und jetzt erwacht es allmählich wieder zum Leben.«
»Das hört sich ja fast wie ein Märchen an«, sagte Armand. »Hoffen wir, daß das Märchen glücklich ausgeht.«
Madame lachte.
»Aha«, meinte sie spitzbübisch, »Monsieur möchten, daß meine Geschichte mit einer Romanze endet! Da werden Monsieur nicht einmal enttäuscht werden, denn man hört, daß die Comtesse schon bald mit einem sehr vornehmen und äußerst wichtigen Mann verlobt werden soll.«
»Ach, wirklich?«
Armands Stimme klang plötzlich kalt. Die Hitze in der Küche und der Essensgeruch verursachten ihm mit einem Mal Übelkeit. Er wandte sich ab und trat gähnend durch die Tür ins Freie. Madame starrte ihm nach, verblüfft darüber, daß er sich so ohne ein weiteres Wort davonmachte.
Armand steuerte zielstrebig und ohne Zögern auf den Stall zu. Er rief den Stallknecht, trug ihm auf, seinen Hengst zu satteln, und wartete ungeduldig, bis der Knecht fertig war.
»Monsieur verlassen uns?« wollte der Knecht wissen.
»Nein! In ein paar Stunden bin ich wieder zurück.«
Damit schwang Armand sich in den Sattel.
Der schwarze Hengst, der nach der langen Nachtruhe erholt und voller Energie war, bäumte sich auf und tänzelte durch den Hof. Als Armand ihn schließlich in der Gewalt hatte, galoppierte er zum Château.
Genauso vernachlässigt, wie die überwucherte Auffahrt wirkte bei näherem Hinsehen auch das Château selbst; Fensterscheiben fehlten, die Fensterstürze bedurften dringend eines neuen Anstrichs, und die Gärten, die sich bergab bis zum See erstreckten, wucherten wild und ungepflegt.
Und doch war das Gebäude, dessen graue Mauern sich im Wasser spiegelten und dessen prächtige Formen auch durch äußeren Makel nicht beeinträchtigt wurden, sehr eindrucksvoll.
Armand stieg vor der Eingangstür ab und zog an der verrosteten Klingelkette. Es dauerte lange, bis die Tür geöffnet wurde.
Er hörte langsame, schlurfende Schritte im Flur, das Rasseln von Ketten und Schlössern, bis sich schließlich die Eichentür öffnete und ein alter Diener in einer schmutzigen, geflickten Livree, mit einer schiefen Perücke und kurzsichtigen, trüben Augen vor ihm stand.
»Oui, Monsieur?«
»Ich bin hier, um Madame la Duchesse de Malessene einen Besuch abzustatten«, sagte Armand.
»Gewiß doch, Monsieur. Würden Monsieur so freundlich sein einzutreten?«
Der alte Mann öffnete die Tür etwas weiter, doch Armand warf einen bedeutsamen Blick auf sein Pferd. Der alte Mann wurde nervös.
»Monsieur sind zu Pferde! Ach je, wie soll ich den Stallknecht nur so schnell hierherkommen lassen? Es ist ein langer Weg - Monsieur müßten warten.«
Er stand unschlüssig und mit besorgter Miene da. Armand schwieg, woraufhin der Diener nach einer Weile heraustrat und die Zügel des Pferdes ergriff.
»Ich werde das Pferd selbst zum Stall bringen. Treten Sie ein, Monsieur, und gehen Sie immer den Gang entlang. Sie treffen Madame im Purpursalon, der zum See hinausliegt, an. Sie müssen entschuldigen, Monsieur, wir haben keinen Besuch erwartet, und uns fehlen Arbeitskräfte - sehr viele Arbeitskräfte sogar.«
Der Alte führte das Pferd davon, und Armand betrat das Château, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
Er legte seinen Hut auf dem Tisch im Flur ab. Die Möbel waren wertvoll, doch der Gang war weder mit einem Teppich ausgelegt noch gefegt, und Armands Schritte hallten laut wider, während er eine hohe Marmorhalle durchquerte, von der aus eine kunstvolle Treppe nach oben führte.
Niemand war zu sehen. Er zögerte einen Moment, da vor ihm eine ganze Anzahl von Türen lagen; es ließ sich schwerlich erraten, hinter welcher der Purpursalon lag. Endlich entschloß sich Armand zu einem Versuch, öffnete eine Tür und betrat ein riesiges Zimmer, dessen Wände mit Gobelins behängen waren, das ansonsten jedoch jeder Einrichtung entbehrte.
Er wollte sich schon wieder zurückziehen, als er Stimmen hörte und merkte, daß auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers eine Tür offenstand.
Er ging leise über das Parkett und warf durch eine halbgeöffnete Tür einen Blick in ein Zimmer mit Stühlen und Wandbehängen aus purpurroter Seide.
Die Stimmen kamen vom Fenster. Jetzt sah er eine ältere Dame, die in einem Sessel aus purpurnem Samt mit einer hohen Lehne saß und von den Sonnenstrahlen, die durch das offene Fenster hereinfielen, beschienen wurde. Das mußte die Herzogin sein.
Sie war auffallend klein, wirkte jedoch äußerst ehrfurchtgebietend. Ihre Haut war welk und von Falten durchzogen, und ihre aristokratische Nase mit dem hohen Rücken stach aus ihrem Gesicht wie ein verblichener Elfenbeinturm hervor. Ihre kleinen, stechenden Augen bewegten sich unaufhörlich, als fürchte sie, irgendetwas könne ihr entgehen.
Sie trug die Kleidung einer vergangenen Generation - einen weiten Reifrock und ein Kleid mit einer tiefsitzenden, reich verzierten Taille, und auf ihrem Kopf saß eine scheußliche rote Perücke, die mit Juwelen geschmückt war.
Sie wäre ein wirklich lachhafter Anblick gewesen, hätte sie nicht eine angeborene Würde besessen, die jeden, der mit ihr sprach, augenblicklich ihre äußere Erscheinung vergessen ließ, und einen Sinn für Humor, der für sie selbst und alle, die sie kannten, eine nie versiegende Quelle des Vergnügens und der Freude war.
Auf einem Stuhl neben der Herzogin, eine Stickerei im Schoß, saß Rêve in einem weißen Musselinkleid, das mit blauen Bändern besetzt war.
»Glauben Sie, daß er heute kommen wird?« hörte Armand sie fragen.
Die alte Dame machte eine vielsagende Bewegung mit ihren dünnen Händen; die Sonne glitzerte dabei auf ihren Ringen.
»Wer weiß schon zu sagen, was ein junger Mann tut«, erwiderte sie mit einer spröden, knarrenden Stimme. »Außerdem hat er einen sehr langen Weg zurückzulegen.«
»Ja, das stimmt!« sagte Rêve. »Und auf dem Wege lauern so viele Gefahren, die ihn vielleicht aufgehalten haben. Ich frage mich -«
Sie brach ab, und ihre Augen weiteten sich voll Erstaunen, als sie Armand in der Türöffnung entdeckte.
Einen Augenblick starrte sie ihn fassungslos an, als traue sie ihren Augen nicht; dann erhob sie sich langsam, und die Röte schoß in ihre Wangen.
Im Sonnenlicht ist sie sogar noch schöner, dachte Armand. Der Mond war nicht stark genug, um ihre feine weiße Haut und ihre Augen, die unter den dunklen Wimpern in einer außergewöhnlichen Mischung aus Grün und der Farbe des Bernsteins schimmerten, zu zeigen. Doch als Armand das Zimmer betrat, blickte er nicht Rêve, sondern deren Großtante an, die ihn durch eine goldgerahmte Lorgnette musterte.
Armand schritt mit äußerster Gelassenheit zum Sessel der Herzogin, verbeugte sich und sagte: »Ich bitte Eure Hoheit, meinen unangekündigten Besuch zu entschuldigen, aber Ihr Diener bringt mein Pferd zum Stall, er sagte mir, daß ich Sie hier finden könne.«
»Und Ihr Name, junger Mann?« fragte die Herzogin.
»Ich bin Armand de Segury. Mein Vater, Maurice de Segury, trug mir auf, Ihnen einen Besuch abzustatten und meine Aufwartung zu machen.«
»Maurice de Segury...?« wiederholte die Herzogin, als gebe sie sich große Mühe, sich an diesen Mann zu erinnern.
»Es ist viele Jahre her, Eure Hoheit, daß Sie meinen Vater sahen«, sagte Armand. »Aber er hat oft von Ihrer Klugheit und Ihrer Schönheit gesprochen, und jetzt, da ich Sie sehe, kann ich nur zu gut verstehen, daß es für ihn leichter ist, sich Ihrer zu erinnern, als für Sie, sich seiner zu entsinnen.«
Die Herzogin kicherte.
»Ihr Vater hat Ihnen zumindest beigebracht, geschickt zu schmeicheln, junger Mann. Im Moment kann ich mich an Ihren Vater nicht erinnern, aber wenn man einmal so alt ist wie ich, spielt einem das Gedächtnis oft einen Streich.«
Wieder kicherte sie und warf Rêve einen Blick zu.
»Darf ich Sie meiner Großnichte, der Comtesse Rêve de Valmont, vorstellen?«
Armand verneigte sich. Rêve machte einen Knicks und reichte ihm die Hand, die er flüchtig mit den Lippen berührte. Ihre Finger waren kalt.
»Und was tun Sie hier?« fragte die Herzogin. »Sie sind en route nach Paris, nehme ich an?«
»Sie haben ganz recht, Euer Hoheit, ich befinde mich auf der Reise nach Paris.«
»Auf der Suche nach Abwechslung, Abenteuern und natürlich schönen Frauen?«
»Wieder haben Sie richtig vermutet, Hoheit, obgleich mir scheint, daß ich auf der Suche nach letzteren gar nicht erst nach Paris reisen muß.«
Er sah Rêve, deren Augen jedoch durch die Wimpern verborgen waren, flüchtig an. Sie erwiderte seinen Blick nicht.
»Ihrem Vater geht es gut?« erkundigte sich die Herzogin. »Ihr Grundbesitz in der Normandie ist ungeschmälert?«
Armand brauchte nicht erst zu fragen, was sie mit dem zweiten Teil ihrer Frage meinte.
»Wir haben großes Glück gehabt«, antwortete Armand. »Wir leben in einem sehr abgelegenen Teil des Landes, und die Bauern dort wurden nicht übermäßig von dem Fieber angesteckt, das den größten Teil Frankreichs heimsuchte.«
»Und jetzt?« fragte die Herzogin.
»Wie alle anderen in Frankreich dienen unsere Leute dem Kaiser.«
Die Herzogin nickte.
»Ja, es ist überall dasselbe. Napoleons Hunger nach Leuten ist unersättlich - Männer und noch mehr Männer, noch mehr Blutvergießen, noch mehr Verluste an Menschenleben.«
Die letzten Worte hatte sie voller Leidenschaft gesprochen, so daß Rêve sie erschrocken ansah und ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte.
»Seien Sie vorsichtig, Euer Hoheit«, sagte sie leise. Dann sah sie Armand an und fügte hinzu: »Ihre Hoheit ist in ihren Äußerungen immer sehr offen, Monsieur.«
»Warum auch nicht?« entgegnete Armand. »Ich bin kein Denunziant, Mademoiselle.«
»Natürlich nicht!« warf die Herzogin rasch ein, bevor Rêve etwas erwidern konnte. »Sie sehen auch nicht so aus. Außerdem sind Sie ein Edelmann - das sieht man schon auf den ersten Blick. Sie sind nicht wie diese gewöhnlichen, Karriere machenden Parvenüs, die in den Tuilerien einherstolzieren und mit lächerlichen Titeln überhäuft werden, um ihre angeborene Gewöhnlichkeit zu verhüllen.«
»Aber Madame!« mahnte Rêve besorgt.
Armand warf den Kopf in den Nacken und lachte. Die Herzogin stimmte ein.
»Eine vollkommene Beschreibung, Hoheit«, sagte er, »jedoch eine Beschreibung, die des Kaisers Sinn für Humor gewiß nicht entspricht.«
»Pah!« schnaubte die Herzogin. »Er hat ja gar keinen Humor! Kein Soldat hat jemals Humor besessen, und ein Korse schon gar nicht!«
»Und doch huldigt Frankreich ihm und bringt ihm absolute Verehrung entgegen«, gab Armand zu bedenken.
»Und zu Recht, denn er hat Frankreich vor sich selbst bewahrt«, antwortete die Herzogin. »Aber wird er sich mit dem, was er schon erreicht hat, zufriedengeben?«
Armand schwieg, und sie fuhr fort: »Nein - weil er niemals stillstehen kann, weil er immer weitergehen muß, weiter und weiter - aber wohin noch?«
»Er ist sehr ehrgeizig, Hoheit.«
»Ehrgeizig!« wiederholte die Herzogin verächtlich. »Es gibt drei Dinge, mein Junge, die einen Menschen zu einem Gott oder zu einem Teufel machen, drei Dinge, die den Geist eines Mannes wie einen Adler emporschwingen lassen: Ehrgeiz, Religion und die Liebe.«
»Also ist die Liebe ein Adler«, sagte Armand leise und richtete den Blick auf Rêve.
»Ja, das ist sie«, antwortete die Herzogin. »Und wer kümmert sich auch schon um die gurrenden Tauben? Doch vergessen Sie eines nicht: Ein Adler mag am Himmel schön und majestätisch sein, aus der Nähe betrachtet wirkt er oft furchterregend und wild und hinterhältig.«
»Dann ist Napoleon Bonaparte also ein Adler, der sich emporschwingt«, meinte Armand lächelnd.
»Ja, das ist er. Aber eines Tages werden seine Flügel erlahmen.«
Die Herzogin lachte schrill - wie zu einer bösen Prophezeiung.
Rêve trat ans Fenster und blickte hinaus auf den See.
»Sie vergessen, Hoheit«, warf sie ein, »daß der Kaiser mir das Haus meiner Ahnen zurückgegeben hat und mich mit seiner Freundschaft geehrt hat. Über ihn zu lachen, ist wohl kaum die angemessene Art, ihm unsere Dankbarkeit zu bezeugen.«
Die Herzogin lächelte ihr zu und streckte die Hand nach ihr aus.
»Schon gut, Kind. Ich bin eine geschwätzige alte Frau! Ich werde mir Mühe geben, meine Zunge zu hüten, aber ich lebe schon zu lange, um jedes meiner Worte auszuwählen und herauszupicken wie eine Henne ein Korn. Seit fünfundachtzig Jahren sage ich, was ich denke, und ich werde es auch weiterhin tun, ganz gleich, was es für Folgen hat.«
Die Worte der Herzogin hatten nichts Herausforderndes an sich, eher etwas Ergreifendes. Rêve wandte sich zu ihr, nahm ihre ausgestreckte Hand und drückte sie an ihre Wange. Es war eine impulsive Geste. Die Hand der Herzogin mit den blauen Adern und den glitzernden Ringen an den Fingern hob sich kraß von der elfenbeinfarbenen, glatten Wange ab.
Der Moment der Innigkeit war schnell vorüber. Die Herzogin zog ihre Hand zurück und sagte barsch: »Wir vergessen ganz unsere guten Manieren. Wein für den Besucher! Trinken Sie mit mir ein Glas Madeira, Monsieur?«
»Es ist mir eine Ehre«, erwiderte Armand.
Rêve durchquerte das Zimmer so schnell, daß Armand eilen mußte, um ihr die Tür zu öffnen. Dabei trafen sich ihre Blicke, und sie hielt einen Moment mitten in ihren Bewegungen inne. Dann holte sie tief Luft und verließ das Zimmer.
Armand spürte, daß die Herzogin ihn genau beobachtete. Langsam drehte er sich um und kehrte zu ihr zurück.
»Maurice de Segury«, sagte sie nachdenklich. »Ich wünschte, ich könnte mich an ihn erinnern. Sind Sie wie Ihr Vater, mein Junge?«
»Nein, ich ähnele meiner Mutter«, antwortete Armand wahrheitsgetreu.
»Sie muß eine sehr hübsche Frau sein«, bemerkte die Herzogin, worauf Armand wieder der Wahrheit entsprechend, sagte: »Sie war es.«
Er war auf weitere Fragen über seine Familie gefaßt, doch die Herzogin wechselte plötzlich das Thema. »Gefällt Ihnen meine Nichte?«
»Aber selbstverständlich, Eure Hoheit. Wem könnte auch eine so bewundernswerte Dame nicht gefallen?«
»Sie ist ein liebes Kind und ganz und gar nicht so schlicht, wie sie wirkt. Während der Jahre, in denen sie sich verstecken mußte, hat sie viel Außergewöhnliches erlebt und erlitten. Sie haben vielleicht schon von ihrem Wagnis gehört?«
»Ein wenig«, gestand Armand. »Aber ich glaube, es wurden viele solcher Geschichten über die Kinder adliger Familien erzählt, die aus Angst um ihr Leben durch das Land zogen, lediglich in Gesellschaft irgendeines treuen Dieners, der sie schließlich in Sicherheit brachte.«
»Ja, es gab viele solcher Geschichten; aber wie immer im Leben berührt einen eine ganz bestimmte Erfahrung, nämlich die eigene, am meisten. Ich lebte in Italien, als die Revolution ausbrach, und ich nehme an, daß mich das vor Madame La Guillotine bewahrte, aber ich erfuhr, daß mein Neffe nach Paris gebracht und dort enthauptet worden war. Es dauerte zehn Jahre, bis ich endlich erfuhr, was mit meiner Großnichte passiert war. Zehn Jahre, Monsieur! Das ist eine lange Zeit!«
»Aber sie war in Sicherheit!«
Die Herzogin nickte.
»Ja, in Sicherheit, dank der Ergebenheit eines Dienstmädchens. Aber wer weiß schon, was die Zukunft bringt? Meiner Großnichte hat das behütete, züchtige Leben gefehlt, das jedes französische Mädchen aus einer ehrbaren Familie führen sollte. Manchmal mache ich mir Sorgen um sie; manchmal wiederum, wenn sie mich schilt, weil ich zu offen und hitzig denke, denke ich mir, daß kein Anlaß zur Sorge besteht.«
Die Herzogin hatte ihre Stimme fast zu einem Flüstern gesenkt. Doch dann brach sie wieder in dieses Kichern aus, das durch das Zimmer hallte.
»Aber warum soll ich einen so hübschen jungen Mann mit derartigen Dingen langweilen? Erzählen Sie mir von sich, Monsieur! Für einen Mann gibt es kein interessanteres Thema.«
»Ich würde viel lieber mehr aus Ihrem Leben erfahren, Madame«, entgegnete Armand. »Ich finde meine eigene Geschichte oft unerträglich langweilig, Ihre jedoch ist sicherlich höchst interessant.«
Die Herzogin lachte noch, als Rêve ins Zimmer zurückkehrte. Sie trug ein Silbertablett, auf dem zwei Gläser und eine Karaffe mit Wein standen.
Armand und die Herzogin tranken zusammen ein Glas Wein, und als die Gläser geleert waren, stand Armand auf, um sich zu verabschieden.
Die wenigen Sätze, die er mit Rêve wechselte, waren höfliche Phrasen, doch er las viel in ihren Augen und in der Berührung ihrer Finger, als er sie an seine Lippen hob.
Die Herzogin entließ ihn scherzend, hänselte ihn wegen der lustigen Zeit, die er in Paris verbringen würde. Und als er schließlich die Auffahrt hinabritt, war er nicht sicher, ob er durch seinen kühnen Besuch etwas gewonnen oder sich etwas verscherzt hatte.
Der verbleibende Tag zog sich träge dahin, und Armand erwartete mit einer Ungeduld, die an sich schon ein völlig neues Gefühl für ihn war, den Einbruch der Dunkelheit.
Er aß zeitig zu Abend und machte sich viel zu früh auf den Weg durch das Dorf und den Pfad entlang, der zu dem Loch in der Mauer führte. Seine Füße trugen ihn so schnell und behände wie schon lange nicht mehr.
Er versuchte, über sich selbst zu lachen, sich einzureden, daß die französische Luft und der französische Wein ihm zu Kopf gestiegen seien, doch wußte er nur zu gut, daß diese Ungeduld seinem Herzen entsprang und sich nicht verleugnen ließ.
Der kleine See zwischen den Bäumen - wie Armand inzwischen erfahren hatte - war der letzte einer langen Kette von Seen, die sich vom Château zum Wald erstreckten und lag so still und silbern vor ihm wie in der Vormacht.
Nur der Mond schien heller auf den Tempel, so hell, daß es beinahe blendete, und die dunklen Schatten der Bäume hoben sich geheimnisvoll gegen das Licht ab.
Der Tempel war leer, ganz wie Armand es erwartet hatte. Er setzte sich auf die Stufen und wartete. Dabei versuchte er, sich die Gefühle und Regungen der letzten vierundzwanzig Stunden zu erklären, doch es gelang ihm nicht.
Er konnte nur angespannt dasitzen und darauf warten, daß Rêve erscheinen würde. Ein paar Minuten lang fürchtete er schon, sie würde vielleicht gar nicht kommen. Was tue ich dann? fragte er sich ängstlich, hörte jedoch im selben Moment hinter sich etwas rascheln.
Er wandte sich um. Rêve stand oberhalb von ihm zwischen den Säulen des Tempels.
Er hatte nicht erwartet, daß sie aus dieser Richtung kommen würde. Im ersten Augenblick rührte er sich nicht von der Stelle, sondern sah sie nur an. Sie trug ein Abendkleid aus Satin, das mit winzigen Perlen bestickt war; ihr Haar hatte sie hochgesteckt und mit einem Band zusammengebunden.
Sie stand abwartend da, und als er schließlich aufstand und auf sie zuging, waren Worte überflüssig. Er streckte die Arme aus und zog Rêve zärtlich an sich.
Sie vermochte ihm nicht zu widerstehen. Es war, als könne sie nicht länger gegen etwas kämpfen, das stärker war als alle Anstandsregeln. Sie beugte den Kopf, der an seiner Schulter ruhte, zurück; er sah ihre Augen, die in seine blickten, ihre Lippen, die warteten.
Er küßte sie, zuerst zärtlich und sanft, wie man ein Kind liebkost, dann heftiger, leidenschaftlicher, verlangender, bis er schließlich spürte, daß das Feuer in ihm auf sie übersprang.
Sie umarmten sich fester, preßten ihre Körper noch stärker gegeneinander, bis sie vereint schienen - unzertrennbar für alle Zeiten.