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Rêve erwachte, öffnete die Augen und blieb noch eine Weile liegen. Sie beobachtete die Sonne, die mit schmalen, goldenen Strahlen die dicken Vorhänge, die die Fenster ihres Schlafzimmers verhüllten, durchdrang.

Als Kind hatte sie immer in diesem Raum geschlafen, und nicht nur aus Sentimentalität hatte sie sich wieder für dieses Zimmer entschieden, als sie ins Château zurückkehrte. Sie tat es auch aus dem glühenden Wunsch heraus, die Glückseligkeit, die Zufriedenheit und den inneren Frieden der Jahre vor der Revolution wiederzuerlangen.

Sie hatte gespürt, daß die weißen Wände mit dem Muster aus Goldrosen, die mit molligen, lächelnden Putten bemalte Decke und die Fenster, von denen man auf den See blickte, einen Zauber in sich bargen, der sie zurück in die glückliche Vergangenheit trug.

Doch ein Zimmer konnte ihr das, wonach sie sich sehnte, auch nicht geben, und so fand sie innerhalb der Mauern ihres alten Zuhauses nichts weiter als die Sehnsucht nach ihrer verlorenen Kindheit und die Angst vor der Zukunft.

Mehr noch - sie wurde gequält von den Erinnerungen an den Terror, Erinnerungen, die wie eine nicht ausgeheilte Wunde bei allem, was sie tat, schmerzten.

Es gab nicht einen Tag, an dem sie sich, wenn sie die Vorhalle durchquerte und die kunstvolle, sich verjüngende Treppe hinaufging, nicht der rohen Schreie und des Schlagens gegen die Außentür, das das Nahen der Revolutionäre ankündigte, erinnerte.

Sie sah im Geiste wieder ihren Vater vor sich, wie er langsam die Stufen herabkam, fein gekleidet wie immer. Die Diamanten an seinem Hals glitzerten im Schein des Kronleuchters, in den schmalen Fingern hielt er seine goldene Schnupftabakdose so lässig, als wäre er im Begriff, ein paar willkommene Freunde zu bewirten.

Als sie einander auf der Treppe trafen, blieb er stehen, und als Rêve mit angsterfülltem Gesicht zu ihm aufsah, hob er ihr Kinn und blickte ihr einen Moment lang in die Augen. Dann sagte er ruhig: »Es gibt nur eine Sache, wovor man Angst haben muß, mein Kind, und zwar davor, Angst zu haben.«

Rêve hatte ihn kaum gehört. Obgleich sie noch sehr klein war, spürte sie, daß irgendetwas Folgenschweres und Furchterregendes ihr Leben bedrohte.

Sie streckte die Arme nach ihrem Vater aus und klammerte sich an ihn, merkte gar nicht, daß sie zitterte, nahm nur wahr, daß die Schreie und das Klopfen an der Außentür lauter und heftiger wurden.

Der Graf beugte sich zu ihr hinab, küßte sie, und für einen kurzen Augenblick ruhten seine Lippen auf ihrer Stirn; dann wandte er sich mit einem leichten Lächeln der jungen Kinderfrau zu, die hinter ihnen stand.

»Allons, Antoinette!« sagte er und stieg weiter die Treppe hinab.

Danach war alles nur ein einziger Alptraum aus Zusammenhanglosigkeit und Schrecken. Antoinette schmuggelte Rêve über eine geheime Treppe in einen uralten Durchgang, der vor langer Zeit unterhalb des Sees gegraben worden war und der, da er lange nicht benutzt worden war, feucht war und stank.

Als sie zwanzig Minuten später ins Freie gelangten, war ihr nach dem muffigen Gestank unter der Erde die Luft erstaunlich süß und frisch vorgekommen. Nachdem sie ihre Lungen mit Luft gefüllt hatten, standen sie im Schutz des Waldes und blickten auf das Château zurück.

Sämtliche Fenster waren hell erleuchtet. In manchen von ihnen brannten Wachskerzen, die zu dieser Stunde immer in den großen Kristallüstern und den mit dem Wappen verzierten Silberleuchtern angezündet wurden; hinter den anderen Fenstern jedoch glühten die in Teer getauchten Fackeln der Revolutionäre rot wie Blut.

Erst einige Jahre später erfuhr Rêve, daß ihr Vater den betrunkenen, mörderischen Pöbelhaufen höflich und würdevoll begrüßt hatte, was den Blutrausch der Revolutionäre für eine Weile dämpfte.

Sein unbezähmbarer Mut hatte ihm tatsächlich für den Augenblick das Leben gerettet, aber als er nach Paris gebracht und dort in den Kerker geworfen wurde, wurde das Todesurteil über ihn verhängt, und wenig später stieg er mit einem Scherz auf den Lippen auf die Guillotine.

Das Château wurde fast vollständig ausgeplündert.

Als Rêve zurückgekehrt und wieder in das Haus ihrer Vorfahren gezogen war, wurde ihr jedoch oft berichtet, daß die Diener, die morgens als Erste aufstanden, kleine Stöße von Möbeln, Vorhängen und anderen Gegenständen draußen vor der Haustür entdeckten, die ein paar von Gewissensbissen geplagte Bürger in der nächtlichen Dunkelheit dorthin geschafft hatten.

Einmal, als sie im Dorf einkaufen ging, sah sie durch eine offene Tür in einem Geschäft einen goldgerahmten Spiegel stehen, der früher im Schlafzimmer ihres Vaters gehangen hatte. Sie hatte nur darauf gestarrt, ohne etwas zu sagen, worauf der Besitzer des Ladens, dem ihr Blick nicht entgangen war, vor Verlegenheit dunkelrot anlief.

Am nächsten Morgen lag der Spiegel draußen vor der Tür des Châteaus. Derartige kleine Gesten rührten Rêve und gaben ihr das Gefühl, wieder unter ihren Leuten zu leben.

Aber die Qualen, die sie in jenen Jahren, als sie ohne Heimat und ständig auf der Flucht mit Antoinette durch das Land zog, ausgestanden hatte, vergaß sie nicht so leicht.

Anfangs war sie noch sehr jung gewesen und hatte von einem Tag zum anderen gelebt; doch als sie älter wurde, merkte sie allmählich, wieviel ihr von dem Leben, das ihr eigentlich zustand, versagt blieb, von den Gefährten, die sie hätte haben können und von der Stellung, die sie hätte genießen sollen.

Erst als Napoleon Bonaparte an die Macht kam und die Franzosen, sich wieder anständig und zivilisiert benahmen, machte Rêves Leben eine zweite Verwandlung durch.

Inzwischen war es Antoinette gelungen, mit einigen von Rêves Verwandten aus Paris in Verbindung zu treten. Es handelte sich dabei um schwerfällige, verarmte Vettern, die so unbedeutend waren, daß sie die Wut der Revolutionäre nicht auf sich gezogen und daher während der Jahre des Terrors ungestört und unbemerkt gelebt hatten.

Sie empfingen Rêve so herzlich sie konnten, doch gaben sie ihr und der treuen Antoinette sehr wohl zu verstehen, daß sie keine Lust hatten, einem wenn auch bezaubernden sechzehnjährigen Mädchen und dessen Kinderschwester für immer ein Zuhause zu bieten.

Sie besprachen alles offen miteinander. Ihr Cousin François, ein Mann mittleren Alters, den nur eines im Leben wirklich interessierte, nämlich das Sammeln antiker Münzen, fragte einen Advokaten, mit dem er auf freundschaftlichem Fuß stand, um Rat.

Der Rechtsanwalt teilte ihm mit, daß man den Émigrés gestattet habe, nach Hause zurückzukehren, und daß Napoleon dabei sei, einigen von ihnen das Eigentum und die Häuser zurückzugeben, die man ihnen während der Revolution genommen hatte.

Aufgrund dieser Nachricht besprach die Familie nun, was für Rêve am Ratsamsten wäre. Sie könnte beim Zivilgericht ein Gesuch einreichen oder an den großen Napoleon höchstpersönlich herantreten oder aber ins Château zurückkehren und versuchen, sich dort niederzulassen, denn wie sie wußten, stand es leer. Rêve selbst traf die endgültige Entscheidung.

»Ich werde selbst mit dem Kaiser sprechen«, sagte sie.

In den Tuilerien, wo Napoleon residierte, gelang es ihr mit den damals üblichen Methoden, Schmeicheleien und Bestechung der Hofbeamten, sich Eintritt in das Vorzimmer zu verschaffen, wo diejenigen, die eine Audienz beim Kaiser wünschten, warteten, bis sie an die Reihe kamen. Manchmal vergingen Monate, bis sie ihr Anliegen vortragen konnten.

Nach all den Jahren, in denen Rêve unter den Bauern gelebt und weder Geld noch Güter besessen hatte, war sie im ersten Moment überwältigt von der Pracht und dem Luxus des Palastes, von den grün-goldenen Livreen der Diener, von den Pagen mit ihren Goldketten und Medaillen, von den mit Orden behängten Sicherheitsbeamten. All das blendete sie so sehr wie Bilder aus einem Märchen.

Sie erblickte die Einrichtungen der verschiedenen Salons - in einem hingen Wandbehänge aus einem blau lila Glanzgewebe, die mit einem kastanienbraunen Geißblattmuster bestickt waren.

Ein anderer war mit Satin in Gelb und Braun und Fransen in sang de boeuf ausgestattet; um die Spiegel waren an Stelle von Rahmen Stoffe drapiert. Darunter standen Tische aus Porphyr und wertvollem Marmor mit Vasen aus kostbarem Sèvresporzellan oder aus Granit, in Goldbronze gefaßt.

Unbezahlbare Schätze zierten die Wände. Da Napoleon einen Sieg nach dem anderen errang, war es nicht verwunderlich, daß seine Paläste mehr und mehr an Aladins Höhle erinnerten.

Da hingen Gemälde von Rembrandt und van Dyck, die er den Holländern genommen hatte, antike Rüstungen aus der Wiener Sammlung, der Säbel Friedrichs des Großen von Preußen - lediglich aus England hatte er noch keine Beute.

All das war sehr verwirrend für ein Mädchen, das so viele Jahre hindurch nur Lumpen und eine Strohmatte gekannt hatte, das sich so oft gesehnt hatte nach der Kruste eines dunklen Schrotbrotes, für das ein Glas Milch ein Luxus, ein frisches Hühnerei ein Festmahl gewesen war.

Der Gegensatz war bitter, nicht nur für sie selbst, sondern für alle, die ihr auf der Flucht geholfen hatten, die sich nur mit äußerster Mühe von den erbärmlichen Ernteerträgen ernährten und dabei eine Vielzahl von Steuern zu zahlen hatten.

Für einen Augenblick wurde sie von dem heftigen Verlangen erfaßt, diesen korsischen Abenteurer öffentlich zu rügen, diesen Mann, der durch die Revolution an die Macht gelangt war und sich jetzt mit genau den Extravaganzen umgab, die ursprünglich die Flamme des Aufstands entzündet hatten.

Aber gleich darauf faßte sich Rêve wieder und zwang sich, ihre Gefühle zu unterdrücken. Schließlich war sie hierhergekommen, um etwas ganz Bestimmtes zu erlangen, und nur durch Ruhe und Besonnenheit konnte sie sich einen Erfolg erhoffen.

Es dauerte drei Wochen, bis endlich ihre Chance kam.

Der Kaiser, dessen Audienz soeben beendet war, durchquerte das Vorzimmer, und während die anderen ehrfurchtsvoll zurücktraten, eilte Rêve nach vorn und warf sich vor ihm auf die Knie.

Bevor die Beamten sie beiseite drängen konnten, hatte sie in sein Gesicht geblickt und leise gesagt: »Ich flehe Euch um einen Gefallen an, Sire!«

Er sah auf sie hinab, und seinen kalten, stahlgrauen Augen entging weder ihre Jugend noch ihre Schönheit. Napoleon konnte einer schönen Frau niemals widerstehen.

»Wer sind Sie?« fragte er mit schneidender Stimme, fast so, als erteile er einen Befehl.

»Ich bin die Comtesse Rêve de Valmont, und ich bin hier, um Sie zu bitten, mir mein Gut in St. Denis zurückzugeben.«

Ein Beamter, ein überheblicher Mann mittleren Alters mit einer harten, hochmütigen Miene, trat vor.

»Diese Bitte, Euer Majestät, kann wie gewöhnlich von den dazu Beauftragten untersucht werden. Es besteht kein Grund, warum diese junge Frau Sie persönlich belästigen sollte.«

Napoleon ignorierte diese Unterbrechung. Sein Blick ruhte auf Rêves herzförmigem Gesicht und den reizvollen, großen Augen, die ihn flehentlich ansahen.

»De Valmont...«, sagte er gedehnt. »War Ihr Vater Graf Maxime de Valmont?«

»Ja, Sire.«

»Lebt er noch?«

»Nein, Sire. Er starb unter der Guillotine.«

»Wenn er noch lebte, wie alt wäre er jetzt?«

Rêve dachte kurz nach.

»Er wurde 1761 geboren.«

Napoleon nickte. »Das dachte ich mir doch! Er war mit mir zusammen auf der Militärschule in Brienne. Ich erinnere mich noch an ihn! Er war einmal sehr nett zu mir. Er lud mich zum Essen ein, als ich Hunger hatte. Sie sollen Ihren Besitz zurückbekommen. Und du leitest das in die Wege!«

Letzteres galt dem Beamten, der sich hatte einmischen wollen. Rêve hatte sich noch nicht ganz von ihrer Überraschung erholt und begann erst allmählich, das Geschehene zu begreifen und sich darüber zu freuen. Der große Napoleon war schon längst weitergegangen, und das Vorzimmer leerte sich.

Ihre erste Freude über die Rückkehr ins Château dauerte nicht lange; sie mußte feststellen, daß es dort noch sehr viel zu tun gab, bevor sie überhaupt wieder darin wohnen konnte. Sie verfügte jedoch nur über eine sehr geringe Summe Geld.

Über ihre Vettern nahm sie Verbindung mit ihrer Großtante, der Herzogin von Malessene, auf. Diese war auch bereit, als ihre Anstandsdame zu ihr zu ziehen und einen großen Teil ihres Mobiliars mit ins Château zu bringen; aber auch sie hatte als Angehörige des Adels, dessen Machtposition durch die Revolution zusammengebrochen war, kaum Geld.

Trotzdem kamen sie irgendwie durch, und das war nicht einmal so schwer wie erwartet, denn im Dorf St. Denis wohnten eine Menge Leute mit schlechtem Gewissen. Zimmerleute und Maurer kamen ins Château und arbeiteten viele Stunden für nur ein paar Sous. Maler und Steinmetze waren bis zur Dunkelheit am Werk, und auch ihre Rechnungen waren niedrig. Nach und nach wurden die Löcher im Dach ausgebessert, die Fenster der Räume, die benutzt wurden, verglast, die Türen wieder eingesetzt.

Jedenfalls ließ es sich wieder im Château leben, auch wenn es nur ein ärmlicher Schatten seiner früheren Pracht war. Und als die Möbel der Herzogin aus dem Süden eintrafen, zog zumindest wieder ein Teil der alten Eleganz ein.

Es hatte jedoch keinen Zweck, allzu viel auszupacken, da zum Hauspersonal nur noch der alte Jacques und seine Frau gehörten, die schon dem Grafen gedient hatten, außerdem Antoinette und zwei oder drei Mädchen aus dem Dorf.

Jacques war bereits ein alter Mann. Als die Revolution ausbrach, hatte er sich gerade zur Ruhe setzen wollen. Dies war ihm nun nicht mehr möglich, da er kein angemessenes Ruhegeld erhielt. Sie alle waren froh, daß sie ihn bei sich hatten!

Er wußte, wie man einen Haushalt führte, und obgleich er unaufhörlich vor sich hin brummelte, den alten Zeiten nachtrauerte und den Notbehelf und die provisorischen Einrichtungen, derer man sich ständig bedienen mußte, verurteilte, war es doch seine Erfahrung, die dafür sorgte, daß das Hauspersonal wenigstens zum Teil die Formen gegenüber der Herrschaft wahrte.

Manchmal hatte Rêve das Gefühl, daß alles eine einzige Farce war, daß das Leben, das sie zwischen den Ruinen der Vergangenheit aufzubauen suchte, leer und sinnlos war.

In solchen Momenten konnte sie nur noch der nie endende, sonnige Humor ihrer Großtante davor bewahren, sich der Verzweiflung hinzugeben.

Während aus dem Chaos Schritt für Schritt ein geordnetes Leben wurde, traten neue Schwierigkeiten auf, die ihr Sorgen und Angst bereiteten.

Ja, Angst! Und jetzt, da Rêve in ihrem Bett lag und nachdachte, gestand sie sich selbst ein, daß sie schreckliche Angst vor der Zukunft hatte.

Von ihren Gedanken aufgeschreckt, sprang sie aus dem Bett, zog die Vorhänge zurück und blickte hinab auf das klare Wasser des Sees, der direkt unter ihrem Fenster lag.

Erst jetzt kam ihr richtig zu Bewußtsein, was in der Vornacht geschehen war, und sie hob die Hände zu den Wangen, als wolle sie die dunkle Röte verbergen, die sie überflutete.

Wie wundervoll, wie unerwartet schön war es gewesen! Sie hatte nicht gewußt, daß man überhaupt so glücklich sein, daß man solch ein Entzücken verspüren konnte.

Das also war Liebe! Liebe, die, wie die Herzogin sagte, wie ein Adler aufstieg, bis man sich völlig in dem strahlenden Blau einer leuchtenden Freude verlor, einer Freude, die einen vor Schüchternheit beben ließ und doch als glühende Flamme emporschoß, um eben diese Schüchternheit zu verzehren.

Rêve holte tief Luft. Sie war glücklicher, als sie es jemals in ihrem Leben gewesen war! Sie war verliebt! Und trotzdem hing ein Schatten, eine dunkle Wolke im Hintergrund; sie hatten gestern Abend keine Zeit gehabt, darüber zu sprechen.

Kein einziger Moment war für Worte geblieben, als sie sich mit ihrem ganzen Sein einander hingaben, und sie hatte gewußt, daß sie nichts weiter hören wollte als das Schlagen seines Herzens im Gleichklang mit dem ihren, seine drängenden Lippen auf den ihren und der zärtliche Druck seiner Hände - das war alles, was sie spüren wollte!

Wie hätte sie sich daran erinnern sollen, daß es noch etwas anderes gab als die wundervolle Erfahrung ihrer eigenen Antwort, als das atemberaubende Glück, die Flamme der Leidenschaft in seinen Augen zu sehen und zu wissen, daß er sie begehrte?

Wie hätten sie reden sollen, wenn nicht in den flüsternden Worten der Liebe, die so sanft und melodisch klangen wie die Abendbrise in den Kiefern.

»Je t’adore!«

»So wunderschön - so vollkommen!«'

»Noch einmal!«

»O mein Gott - noch einmal!«

Sie hatten nicht sprechen wollen, hatten keine Zeit zum Reden gehabt. Doch jetzt, im hellen Licht des Morgens, dachte sie daran, wieviel sie einander zu berichten hatten.

Jetzt bedauerte sie es, daß einer so wenig vom anderen wußte. Sie wußten allerdings das Wesentliche - daß sie einander liebten, daß sie zueinander gehörten. Dies war nicht Liebe auf den ersten Blick, sondern eher die Wiedervereinigung zweier Menschen, die in einem früheren Leben zusammen gewesen sein mußten und sich jetzt in diesem Leben wiedergefunden hatten.

Vom ersten Moment an, als Rêve Armand sah, war er ihr vertraut erschienen. Sie wußte nicht, ob es an seinem hübschen Gesicht lag, an seinen dunklen Augen, dem festen, eckigen Kinn oder an seiner Art, die Mundwinkel zu verziehen, wenn er sich amüsierte.

Jedenfalls konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, daß es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der sie ihn nicht gekannt, nicht geliebt hatte. Und sie wußte, ohne daß er es ihr hätte sagen müssen, daß er genauso empfand.

Sie hatten einander gefunden, und ihre Körper hatten das, was sie aus der Erinnerung verloren hatten, wieder entdeckt.

»Dein Haar!«

Armand hatte es sanft berührt, als wäre es irgendein zerbrechlicher Stoff, den seine Finger leicht zerreißen könnten. Sie hatte sofort begriffen, was er wollte, und mit vor Erregung zitternden Händen die Nadeln aus den dunklen, glänzenden Locken gezogen.

Wieder glühte ihr Gesicht, als das Haar ihr weich über die nackten Schultern fiel wie in der Nacht zuvor. Sie hatte gewußt, woran er dachte, als er einen Schritt zurückgetreten und sie angesehen hatte.

Dann war er ehrfurchtsvoll, ja fast andächtig, auf die Knie gesunken, hatte eine einzige schmale Locke in die Hand genommen und seine Lippen fest darauf gepreßt.

Einen Augenblick lang hatte sie ein Gefühl der Angst erfaßt, als hätte er sie zu einem geheiligten Ort zurückgezogen, an den sie ihm nicht folgen könnte, doch dann war er wieder aufgestanden, und sie hatte erneut in seinen Armen gelegen.

Sie hatte gefühlt, wie seine Kraft sich ihrer immer mehr bemächtigte. Sie hatte gewußt, daß sie ein wildes Feuer in ihm entfacht hatte, und daß nur seine eiserne Selbstbeherrschung ihn davon abhielt, sie mit Gewalt in die dunklen Schatten des Tempels zu tragen.

»Meine Kleine, meine Geliebte!«

Seine Lippen hatten erneut ihren Mund gesucht. Sein Verlangen machte seine Liebkosung fast rauh.

Rêve spürte die warme Sonne auf ihren Lippen und fühlte noch einmal jenen schmerzhaften, hinreißenden Kuß.

Allein bei diesem Gedanken bebte ihr Körper schon, und während das Verlangen wie eine Flamme in ihr brannte, fühlten sich ihre Lider schwer und ihr Mund wund an. Bald, sehr bald, würde sie ihn wiedersehen!

Ihr Herz sprang vor Freude. Sie würde ihn wiedersehen! Auf einmal schien sich jedoch eine dunkle Wolke vor die Sonne zu schieben, ihr fiel ein, daß ihr Stiefbruder vielleicht schon an diesem Tag ins Château kommen würde.

So lange hatte sie sich auf ihn gefreut, hatte sie Stunde um Stunde seine Ankunft erwartet. Aber jetzt fürchtete sie sich zum ersten Mal davor und wünschte, sie hätte ihre Tante daran gehindert, ihm zu schreiben.

Armand, Marquis d’Augeron, war der Sohn von Rêves Mutter aus erster Ehe. Sie war sehr unglücklich in dieser Ehe, die beschlossen wurde, als sie noch zur Schule ging, eine Ehe mit einem Mann, der ihr Vater hätte sein können. Und als schließlich ihr Mann starb, kehrte Rêves Mutter in ihr Elternhaus zurück.

Doch die Verwandten ihres Mannes sorgten dafür, daß sie ihr Kind nicht mitnehmen durfte. So wuchs der Junge, der den Titel des Vaters erbte, auf dem polnischen Gut seiner Großeltern auf. Als seine Mutter den Grafen de Valmont heiratete, hatten sie alle Verbindungen zueinander abgebrochen.

Rêve hatte ihren Stiefbruder nie kennengelernt. Sie wußte, daß er fünfzehn Jahre älter war als sie, und daß ihre Mutter immer sehr traurig wurde, wenn man ihn erwähnte. Das alles hatte Antoinette ihr erzählt, denn ihre Mutter starb, als Rêve erst zwei Jahre alt war, an einer unbekannten, qualvollen Krankheit, die die Ärzte weder heilen noch lindern konnten.

Die Herzogin hatte darauf bestanden, Rêves Stiefbruder ihre Rückkehr ins Château mitzuteilen und ihn dorthin einzuladen.

Sie hatte dieses Thema mehrere Male angeschnitten, bevor Rêve endlich einwilligte. Erst als von ihrer Heirat die Rede war, gestattete sie der Herzogin, Armand d’Augeron einzuladen.

»Es schickt sich nicht, daß ich wegen deiner Heirat verhandle, wenn du einen noch näherstehenden Verwandten hast«, gab die Herzogin zu bedenken. »Wenn dein Bruder nicht existierte, täte ich notgedrungen mein Bestes für dich, Kind; aber wenn es sich um eine Heirat handelt, ist es von äußerster Wichtigkeit, die Form zu wahren und geschickt vorzugehen.

Ich aber werde alt. Bei Finanzen und Zahlen schwindelt mir, ich kann sie nicht erfassen. Der Mann, der um deine Hand angehalten hat, ist sehr reich, und der Ehevertrag sollte sehr großzügig ausfallen. Ich jedoch habe Angst davor, derart heikle Verhandlungen zu führen. Laß uns deinen Halbbruder bitten herzukommen!

Er hat eine hohe Position, und seine Ländereien und Besitztümer sind durch die Revolution nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Er wird ganz gewiß bessere Abmachungen aushandeln, als ich es könnte. Folge meinem Rat, und sei es auch nur dieses eine Mal!«

Rêve hatte sich damit einverstanden erklärt, unter anderem deshalb, weil die Vorbereitungen für ihre Hochzeit ruhen mußten, während sie auf Armands Ankunft warteten. Sie wußte nichts über den Comte de Durieux, der um ihre Hand angehalten hatte.

Soweit sie sich erinnerte, hatte sie ihn noch nie zu Gesicht bekommen, obgleich eine Freundin der Herzogin anvertraut hatte, daß der Comte Rêve einmal in Paris gesehen und sich in sie verliebt habe.

Die Herzogin war so alt, lebte so fern der modernen Welt, daß sie genauso wenig über den Grafen und seine Familie wußte wie Rêve selbst.

»Sein Großvater war ein sehr gutaussehender Mann«, erzählte sie Rêve. »Ich kann mich noch daran erinnern, daß ich einmal mit ihm in Versailles tanzte, doch das ist auch schon alles, was ich über die Familie Durieux weiß. Dein Halbbruder wird eben Nachforschungen anstellen müssen, um zu erfahren, ob sie auch wirklich reich und von untadeliger Herkunft ist.«

Rêve war sich wohl bewußt, daß diese Heirat von ihr erwartet wurde und daß sie auf die in ihrem Land traditionelle Weise stattfinden würde. Und doch hatte es ihr merkwürdigerweise widerstrebt, diesen Schritt zu tun, Valmont zu verlassen, ihr Zuhause, zu dem sie erst kürzlich zurückgekehrt war.

Daher nahm sie mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis, daß bis zum Eintreffen ihres Stiefbruders einige Monate vergehen würden.

Es dauerte dann sogar zwei Monate, bis sie auf den Brief der Herzogin eine Antwort erhielten. Frankreich war in Aufruhr, Napoleon zog mit seinem Heer durch das Land, sie befanden sich im Krieg mit Rußland. Als der Bote endlich zurückkam, hatte er mehr über die Schwierigkeiten, auf die er unterwegs gestoßen war, zu berichten, als über den Marquis d’Augeron.

Offensichtlich hatte ihn der Marquis kaum beeindruckt. Stattdessen berichtete er ziemlich ausführlich über einen Monsieur de Fremond, der seinen Zorn erregt hatte. Doch der Brief der Herzogin hatte sein Ziel nicht verfehlt: Armand schrieb freundlich, daß er Rêves Lage verstehe, daß er sich so schnell wie möglich auf den Weg nach Valmont machen würde und daß sie ihn innerhalb der nächsten zwei Monate erwarten könnten. Doch diese zwei Monate waren längst verstrichen, ohne daß er erneut von sich hatte hören lassen.

Stattdessen erhielten sie einen Brief des Comte de Durieux, in dem er darum bat, die Verhandlungen so rasch wie möglich aufzunehmen, und andeutete, daß der Kaiser höchstpersönlich ein Interesse an der vorgeschlagenen Verlobung habe.

Beim Lesen dieses Satzes war Rêve von Panik ergriffen worden. Wer mochte dieser Comte de Durieux sein? Was wußte sie schon von ihm? Warum drängte er sie so?

Und jetzt, nachdem sie in der letzten Nacht den Mann gefunden hatte, den ihr Herz seit vielen Jahren suchte, würde sie niemals einen anderen heiraten können.

Während sie so am Fenster stand und hinaus auf den See starrte, fiel ihr ein, daß sie sehr wenig über Monsieur de Segury wußte, eigentlich nur, daß er wie ihr Stiefbruder Armand hieß, aus der Normandie stammte und daß sie ihn liebte.

Weiter wußte sie nichts. Aber spielte das eine Rolle? Nur eines war wirklich wichtig: daß sie einander liebten. Er konnte verheiratet sein oder keinen Sou in der Tasche haben, vielleicht war auf seinen Kopf sogar eine Prämie ausgesetzt! Und doch war das alles ohne Bedeutung gegenüber der Tatsache, daß sie einander liebten.

Bei dem bloßen Gedanken an ihn bebte ihr ganzer Körper.

»Meine Geliebte - mein Leben - je t’adore!«

Sie hörte seine vor Erregung rauhe Stimme wieder. Sie spürte, wie ihr Herz unter seiner Hand pochte.

»Du bist mein! Du gehörst mir allein!« Triumph hatte in seinen Worten gelegen - Triumph über seine Eroberung! Wie stolz waren die Männer doch! Aber verlangte sie denn überhaupt mehr im Leben, als erobert zu werden - erobert von ihm?

Wenn ihr Stiefbruder schließlich eintraf, würde ihn eine völlig andere Geschichte erwarten, als die, welche ihm die Herzogin nach Polen geschrieben hatte. Sie würde ihm erzählen, daß sie sich verliebt habe, daß man dem Comte de Durieux mitteilen müsse, daß sein Heiratsantrag vergeblich sei und daß sie mit der Familie Armand de Segurys Verhandlungen aufnehmen müßten.

Und das möglichst schnell! Rêve errötete vor sich selbst, als sie sich eingestand, wie sehr sie sich nach raschen Verhandlungen sehnte. Sie wollte ihn heiraten, wollte ihm mit ihrem Herzen, ihrer Seele gehören. Falls je eine Ehe im Himmel beschlossen worden war, so ihre.

»Armand de Segury!«

Sie wiederholte im Stillen seinen Namen, er gefiel ihr. Doch dann mußte sie über sich selbst lächeln. Gewiß würde ihr jeder Name gefallen, den er trug, und sei er noch so gewöhnlich! Sie seufzte leise und wandte sich vom Fenster ab.

Sie mußte hinuntergehen und das petit dejeuner im Schlafzimmer ihrer Großtante einnehmen, wie sie es immer tat. Es würde ihr nicht leichtfallen, ihre Glückseligkeit vor den durchdringenden Augen ihrer Tante zu verbergen, vor ihrem Scharfsinn, der sie manche Dinge schon fast erahnen ließ, bevor man sich selbst ihrer bewußt wurde.

Rêve hatte schon befürchtet, daß ihre Großtante bereits bei Armands Besuch am Vortag ahnte, daß etwas Außergewöhnliches geschehen war. Nachdem er das Zimmer wieder verlassen hatte, hatte die Herzogin eine Weile kein Wort gesagt.

Sie schien nachzudenken, den Blick sinnend auf die Tür gerichtet, durch die er gegangen war. Auf einmal hatte sie gesagt: »Wirklich ein gutaussehender junger Mann! Unter diesem anziehenden Antlitz vermute ich sowohl Charakter als auch Intelligenz. Gefällt er dir, mein Kind?«

Rêve war bei dieser Frage erschrocken, doch sie hatte sich Mühe gegeben, mit möglichst gleichgültiger Stimme zu antworten: »Er schien mir ein sehr angenehmer Mensch zu sein, Madame.«

»Zweifellos denkt er in denselben überschwenglichen Ausdrücken über dich«, hatte die Herzogin darauf sarkastisch und mit einer Spur trockenen Humors erwidert, der keinen Zweifel daran ließ, daß Rêve sie mit ihrer ungeschickten Bemerkung nicht hatte täuschen können. »Ich wünschte, ich könnte mich an etwas erinnern, was seine Familie betrifft, denn der Junge gefällt mir. Etwas an ihm verrät eine gute Kinderstube und eine ausgeprägte Persönlichkeit. Heutzutage, da Ladenschwengel und Küchenjungen ihre Vorgesetzten nachäffen, gibt es von solchen jungen Männern nicht allzu viele.«

Rêve hatte nichts darauf entgegnet, aus Angst, sich selbst zu verraten. Ein paar Minuten später hatte die alte Dame ihr die Hand auf die Schulter gelegt und ruhig gesagt: »Hélas! Laß uns hoffen, daß dein Stiefbruder bald kommt und wir deine Zukunft regeln können!«

In diesem Moment war Rêve sicher gewesen, daß die Herzogin ihre Gefühle erraten hatte, und nun wünschte sie schon beinahe, daß sie sich ihrer Großtante anvertraut hätte, denn da es ihr schon gestern so schwergefallen war, nichts zu erzählen, würde es heute noch viel schwieriger sein.

Sie hatte das Gefühl, vor Glück zu zerspringen, und als sie sich im Spiegel betrachtete, war es ihr, als leuchte ihr Gesicht so, daß es ihr Geheimnis jedem, der sie ansah, verraten müßte.

Sie begann sich anzukleiden; sie wählte ihr hübschestes Kleid aus und kämmte sich mit größter Sorgfalt. Dabei summte sie dieselbe trällernde, beschwingte Melodie, die ihr an jenem Abend, der jetzt schon so lange zurückzuliegen schien, durch den Kopf gegangen war, als sie aus dem Tempel trat und Armand sah.

Sie war fast fertig mit Ankleiden, als es laut an die Tür klopfte. Ehe sie jedoch »Herein« rufen konnte, kam eines der Mädchen aus dem Dorf, ein großes, plumpes Geschöpf mit einer Hasenscharte, hereingestürzt.

»Mam’selle? Oh, Mam’selle!« rief die Bedienstete aufgeregt, wobei sie noch mehr Silben verschluckte als sonst.

Rêve sah erstaunt auf.

»Was ist los, Lili?« fragte sie, während das Mädchen nach Atem rang. »Hat dich irgendetwas erschreckt? Du siehst so bestürzt aus!«

Lili schien die Angst im Gesicht geschrieben. Ihr Haar quoll in dunklen, fettigen Locken unter ihrer weißen Haube hervor, sie rang die großen roten Hände und schien jeden Moment in Tränen ausbrechen zu wollen.

»Kommen Sie gleich mit, Mam’selle, bitte. Die alte Dame, die alte Dame.«

Den Mädchen war unzählige Male aufgetragen worden, die Herzogin nicht »die alte Dame« zu nennen, doch in diesem Augenblick merkte Rêve die Entgleisung nicht einmal. Sie sprang auf, und ehe Lili noch ein einziges Wort sagen konnte, war sie bereits aus dem Zimmer geeilt und die breite Treppe zum Zimmer der Herzogin hinabgelaufen.

Die Tür stand offen, die Vorhänge waren zugezogen, und ein wenig erleichtert stellte Rêve fest, daß Antoinette neben dem Bett saß. Vermutlich hatte diese Lili auch zu ihr geschickt.

Als sie durch das Zimmer auf das große, vierpfostige Bett mit dem Baldachin aus gefärbtem Satin zuging und das Gesicht der Herzogin auf den Kissen liegen sah, wußte sie, daß Lili Angst gehabt hatte, ihr die Wahrheit zu sagen.

Wie angewurzelt blieb sie stehen und vermochte sich nicht zu rühren.

Die Herzogin war sehr alt, trotzdem hatte die Flamme des Lebens so kräftig, so jugendlich in ihrem alten Körper gebrannt, daß es fast unmöglich gewesen war, sich vorzustellen, daß auch sie sich einmal von der Welt, die sie so amüsant gefunden hatte, trennen müßte.

Rêve stand vor Schmerz erstarrt da. Antoinette drehte sich nach ihr um, kam zu ihr und legte ihr die Arme tröstend um die Schultern, wie sie es seit Rêves Geburt so oft getan hatte.

»Es war ein schöner Tod, meine Kleine. Du darfst dich nicht grämen! Sie ist so gestorben, wie sie es sich gewünscht hat.«

»Aber was sollen wir ohne sie anfangen, Antoinette?« fragte Rêve mit gebrochener Stimme.

Antoinette zog sie mit sich ans Fenster. »Ja, ja, ich weiß; aber wir weinen nur um unser selbst willen. Das Leben geht weiter! Wir müssen immer daran denken, wieviel reicher wir dadurch sind, daß wir sie gekannt haben.«

»Ja, das stimmt«, sagte Rêve. »Sie hat uns so viel gegeben.« Einen Moment legte sie ihren Kopf auf Antoinettes Schulter. »Wie weise du doch bist, Antoinette! Du weißt immer das Richtige zu sagen, das Richtige zu tun. Manchmal wünsche ich mir, so tapfer wie Madame und so weise wie du zu sein.«

Während sie sprach, traten ihr Tränen in die Augen und flossen ihre Wangen hinab. Antoinette zog sie enger an sich und tröstete sie wie ein ängstliches Kind.

»Ich weiß, meine Kleine«, murmelte sie. »Wir alle fühlen uns manchmal so. Aber für dich fängt das Leben gerade erst an, und du darfst es nicht mit nutzloser Trauer vergeuden. Madame la Duchesse hätte das nicht gewollt. Sie hat ein ausgefülltes Leben gehabt. Wie oft sagte sie zu mir: »Antoinette, die einzigen Dinge, die ich in meinem Leben bereue, sind die Male, da ich Nein sagte - und davon gab es nicht allzu viele!««

Rêve lächelte trotz ihrer Tränen.

»Ich kann mir genau vorstellen, wie sie das sagte.«

»Madame hat das Leben mit beiden Händen ergriffen. Sie hat es umschlossen, hat jeden Moment genossen, bejaht, sie hat Mut gezeigt. Das ist es, was zählt, meine Kleine, hab Mut!«

Rêve hob den Kopf und sah ihrer Kinderfrau ins Gesicht. Antoinette war trotz ihrer fast weißen Haare eine jung aussehende Frau mit einem gütigen, sanften Gesicht, das den gleichen Ausdruck zeigte, den Rêve oft bei Nonnen gesehen hatte, die ihr Leben der Pflege von Kranken und Leidenden weihen. Es war ein Ausdruck der Hingabe, der einer inneren Stärke und Entschlossenheit entsprang.

Und genauso war Antoinette auch: Rêve wußte, daß sie ihr Leben ihr gewidmet hatte, vom Augenblick ihrer Geburt an.

Spontan umschlang sie mit beiden Armen ihren Hals und zog ihren Kopf zu sich herab. »Ich werde versuchen, so tapfer wie Madame und so verständnisvoll wie du zu sein, Antoinette.«

Antoinette küßte sie. In ihren Augen schimmerte es feucht, als habe die Schlichtheit von Rêves Worten sie tief bewegt, doch ihre Stimme klang ruhig und gefaßt.

»Wir haben noch viel zu tun, mein Kind. Du schickst jetzt Jacques mit der Nachricht ins Dorf! Er wird wissen, wen er holen muß. Dann gehst du in den Garten und pflückst so viele Blumen, wie du kannst. Die werden wir Madame zu Füßen legen, wenn sie in der großen Halle feierlich aufgebahrt wird.«

Rêve war dankbar dafür, daß Antoinette ihr Aufgaben zuteilte, und führte sie ohne Widerrede aus. Sie teilte dem alten Jacques den Tod der Herzogin mit und gab ihm Antoinettes Anweisungen weiter.

Sie ging nicht in die Küche, um dort vom Tod der Herzogin zu berichten, da sie wußte, daß Lili das bereits getan hatte. Sie hörte auch schon das hysterische Schluchzen der anderen Hausangestellten. Als sie durch eine Seitentür in den Garten entschlüpfte, hatte sie einen Moment lang das Gefühl, in die Freiheit des Sonnenscheins zu entkommen. Gleichzeitig wußte sie aber, daß sie nicht wirklich entkommen konnte. Sie mußte der Zukunft ins Auge sehen.

Sie pflückte einen Arm voll Blumen. Es waren Rosen, die früher einmal gezüchtet und zurückgeschnitten worden waren, jetzt aber in einem exotischen, wilden Muster wucherten. Sie pflückte Rittersporn, so blau wie der Himmel, und flammend rote Gladiolen, die ihre Großtante ganz besonders gern gemocht hatte.

Sie würde noch viele Blumen holen, doch im Augenblick konnte sie nicht mehr tragen. Als sie mit ihrem Strauß zum Haus zurückkehrte, hörte sie das Klappern von Hufen, das sich hinter der Kurve der Auffahrt dem Haus näherte.

Verwundert, wer das sein könnte, ging sie von der Terrasse zur Eingangstür, wo sie zu ihrem Erstaunen einen Mann in einem hellblauen Rock und einer hellblauen Weste mit Silbertresse am Kragen von einem vornehm geschirrten Pferd steigen sah. Er warf einen Blick auf die Haustür, als ob er die Klingelschnur suchte.

Rêve ging mit den Blumen im Arm auf ihn zu.

»Haben Sie eine Botschaft für jemanden hier?« fragte sie.

Der Mann drehte sich zu ihr um, grüßte höflich, und jetzt erst sah sie, daß er die Livree der persönlichen Diener des Kaisers trug.

»Ich habe eine Nachricht für die Comtesse Rêve de Valmont, Mademoiselle«, sagte er.

»Ich bin die Comtesse«, erwiderte Rêve. »Sie können sie mir geben.«

Er zog einen Brief mit einem roten Siegel aus der Tasche und reichte ihn ihr mit einer Verbeugung. »Vom Kaiser, Madame!«

Rêve legte ihre Blumen auf das Geländer. Es dauerte einen Moment, bis sie sie so ausbalanciert hatte, daß sie nicht herunterfallen konnten.

Schließlich öffnete sie den Brief.

Zuerst starrte sie fassungslos darauf, als verstehe sie den Inhalt nicht, dann las sie die Worte noch einmal langsam.

Kaiser Napoleon Bonaparte schickt der Comtesse Rêve de Valmont seine Empfehlung und wird sie am Abend des sechzehnten August mit seiner Gegenwart beehren, wenn er auf dem Weg nach Paris durch St. Denis kommt.

Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen. Als sie sah, daß das Siegel das berühmte ,N' trug, wußte sie, daß sie nicht träumte. Allerdings konnte sie die volle Bedeutung dieses Briefes noch immer nicht recht fassen.

Sie dachte nur an die Herzogin, die tot war, an die vielen, jetzt leeren Zimmer, an Jacques’ zitternde Hände, an Lilis taktlose Ungeschicklichkeit.

Auf einmal fiel ihr Armand ein. Er würde heute Abend am Tempel neben dem See auf sie warten. Plötzlich faßte sie einen Entschluß und drehte sich zu dem Boten um.

»Ich bedaure unendlich...«, begann sie, hielt jedoch mitten im Satz inne.

Der Bote war fort - verschwunden, während sie den Brief las! Sie hatte ihn nicht einmal davonreiten hören. Von einer Antwort konnte offenbar keine Rede sein. Der Kaiser erteilte Befehle, die anderen hatten zu gehorchen.

Auf den Flügeln der Liebe

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