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ОглавлениеMit Fenster gegen die Berge
Die Gymnasiastin geht ihren Vorlieben nach, die nicht dem entsprechen, was in Zeiten von Wirtschaftskrise und aufkommendem Faschismus von jungen Frauen erwartet wird.
Zweierlei wünscht sich Gertrud Heinzelmann zum bevorstehenden Abschluss am Mädchengymnasium der Stadt Zürich. Von ihren Eltern will sie einen Eispickel und dazu bar auf die Hand vier Schweizer Franken, die sie selbst auf das Konto des Zürcher Frauenstimmrechtsvereins einzahlen will.
Zu Hause erregen die Wünsche keinen Widerstand, denn Mutter Bertha ist für das Frauenstimmrecht, und Vater Hans, als Kaufmann zwischen Oslo und Kairo unterwegs, beunruhigt es nicht, dass seine Tochter zu den Suffragetten will, wie die Stimmrechtlerinnen abschätzig genannt werden, und er stört sich ebenso wenig daran, dass sie zu den Alpinistinnen drängt. Diese gelten als Mannweiber, und die Bergsteiger verweigern ihnen missgünstig die Aufnahme in ihren Club, weil Klettern das beliebte Vergnügen von Städterinnen ist, denen Freiheit und Leistung mehr bedeuten als eine gute Partie.
Im Gegensatz zu diesen beiden Neigungen stößt im Elternhaus von römisch-katholischer Konfession eine andere Veranlagung der Tochter auf Ablehnung. Dieser Wesenszug wird von keinem Familienmitglied geteilt, auch nicht in der weiteren Verwandtschaft. Er trägt Gertrud Heinzelmann den Übernamen «Betblätz» ein, eine Bezeichnung für einen Stofflappen, den eifrige Kirchgänger zum Beten unter die Knie schieben, um Schmerzen zu vermeiden. Dieser Spottname bedeutet, dass da eine entgegen der liberalen Familientradition allzu fromm niederkniet. Religiöse Handlungen und Heiliges üben auf die Gymnasiastin einen starken Zauber aus; ihr Verhältnis zur katholischen Kirche ist jedoch zwiespältig.
Das Herzstück in ihrem Zimmer ist der kleine Schrank, in dem Bücher religiösen Inhalts neben staatstheoretischen Werken stehen. Zum Erstaunen ihrer Mitschülerinnen, die sich eine derartige Lektüre nur als Schulaufgaben zumuten würden, verschlingt sie in ihrer Freizeit Bücher wie «Der Staat: über die Gerechtigkeit» von Platon. Täglich liest sie die «Neue Zürcher Zeitung», Vaters Leibblatt, und schwärmt für den gewaltlosen Widerstand des indischen Freiheitskämpfers Mahatma Gandhi. In ihren Aufsätzen behandelt sie vorzugsweise theoretische Fragen, sodass eine Lehrerin findet, sie solle sich doch endlich einmal weniger abstrakten Themen zuwenden. Daneben ist sie eine leidenschaftliche Briefschreiberin, und der große Brieffreund, dem sie ein halbes Leben lang schreiben wird, ist Mutters jüngerer Bruder. Onkel Paul lebt in Rio de Janeiro, und überall in Brasilien gehen die Reichen und Schönen in Schuhen aus seiner Lederfabrik. Ihm schreibt Gertrud Heinzelmann im August 1933 in den letzten Sommerferien vor dem Abitur:
Lieber Päuk!
Federhalter kauend & Glace verdauend sitze ich in meiner Bude & warte auf eine Inspiration für einen Brasil-Fackel. Weisst Du überhaupt, dass ich eine eigene Bude habe? Ich sage Dir, sie ist fabelhaft. Erstens mal hat sie eine wunderbare Lage: Mansarde, mit Fenster gegen die Berge. Zweitens ist sie erstklassig in der Möblierung: In der neuen Stube fanden der Schreibtisch & das Bücherkästchen keinen Unterschlupf & und diese stehen jetzt hier oben, zu meiner Freude natürlich nebst einer Klappe & einem Kasten. Sonst ist nichts da, kein Helgen oder sowas, & ich freue mich täglich über diese erzsachliche Möblierung, in der man so fein wenig abstauben & aufräumen muss. –
Das Fenster ist permanent sperrangelweit geöffnet, so dass ich von meinem Kopfkissen aus nach Herzenslust in die Wolken oder den klaren Sternenhimmel oder eine sommerliche Vollmondlandschaft hineindösen kann. Dazu bin ich hier vor allen Ruhestörungen gesichert, wenn sich dennoch jemand in mein Juheh verirren sollte, so höre ich die Herrschaften von weitem die Estrichtreppe hinaufpoltern. Der Aufstieg ist ja weniger königlich, dagegen ist es aber die Bude umso mehr. –
Dies zur Illustration, damit Du, bis Du selbst Augenzeuge wirst, auf einem eventuellen Europabesuch per Zepp [Zeppelin] so ungefähr eine Ahnung hast, wo in der Welt meine Geistesprodukte wuchern & wo ab & zu mal ein Päukbrief entsteht. – (…)
Also, Tschau Päuk, mit 1000 Grüssen und Küssen, Deine Trut.1
Im unteren Stockwerk des Mehrfamilienhauses leben die Eltern, die jüngere Schwester Elisabeth und zeitweise auch ein Dienstmädchen. Anders als die Schwester hat die Gymnasiastin nichts für Handarbeiten oder Tier- und Blumenbilder übrig. Der Ausblick aus dem Fenster, ein Versprechen baldiger Freiheit, ohne das Kopfkissen unter dem elterlichen Dach aufgeben zu müssen, ist mehr nach ihrem Geschmack. Die Angabe, ihr Fenster gebe den Blick «gegen die Berge» frei, trifft zu – bei entsprechender Wetterlage. Denn Wallisellen, ihr Wohnort, grenzt an die Stadt Zürich und liegt inmitten ausgedehnter Felder und Wiesen. An der Glatt, einst ein mäandernder Fluss, der die Gegend überschwemmte und versumpfte, stehen die Fabriken, und hier befindet sich auch die Zwirnerei «Zwicky Nähseide und Nähgarn», deren Faden Hans Heinzelmann in der halben Welt verkauft. Auf Wallisellens Boden gibt es kaum Hügel, und der höchste erreicht keine fünfhundert Meter über Meer. Bei föhnigem Wetter ist es allerdings möglich, aus einem Dachfenster in weiter Ferne die weißen Spitzen der Glarner Alpen zu sehen.
Eine «Talschlange», wie die Gymnasiastin Spaziergänger bezeichnet, die ehrfürchtig zu den Bergspitzen hochblicken, will sie bestimmt nicht werden. Der gewünschte Eispickel hingegen verspricht Kitzel, Mutproben und Selbsterfahrung. Er ist das Initiationsobjekt zur Aufnahme in die Gemeinschaft der Alpinistinnen. Die Familienausflüge, die höchstens bis zur Passhöhe führen oder am Bergsee beim Picknick enden, sind ihr viel zu langweilig. In den letzten Sommerferien vor dem Abitur gibt Bertha Heinzelmann dem Drängen ihrer Ältesten nach, lässt sie erstmals ziehen, unter erschwerenden Bedingungen allerdings, sie muss Elisabeth mitnehmen. Die Schwestern setzen sich in den Kopf, dass diese Ferien anders werden müssen, und reisen nach Kandersteg im Berner Oberland. In der Obhut eines Bergführers stürmen sie sogleich das Balmhorn, den höchsten Gipfel der Region. Das Abenteuer schildert Gertrud ihrem Onkel in Brasilien auf sechs Briefseiten:
«Ich will Dir also mal verzapfen*, was so 2 unternehmungslustige Nichten eines Amerikaonkels alles selbständig zustande bringen. Hör & staune. (…) Um 2h morgens war Tagwache, 1/4 3h starteten wir für das Balmhorn, 3711 m mit Verlaub der höchste Kandersteger Berg! Nach sechs Stunden waren wir auf dem Gipfel, ruhten auf den Lorbeeren & tranken Tee & schauten uns die Welt mal wieder von dieser Höhe an.»
Vom Hotel Schwarenbach aus führt der Aufstieg zuerst der Bergflanke entlang, bis nach ausgiebigem Fussmarsch der Gletscher erreicht ist, dann geht es weiter über blankes Eis und zuoberst durch Firn. Die Anstrengung hält die Briefschreiberin nicht für erwähnenswert. Beim Abstieg ist sie vermutlich am Rand ihrer Kräfte, und sie kommt mit dem Schrecken davon, was sie ironisch bagatellisiert: «Nach 1h mittags trafen wir schon wieder im Schwarenbach ein, nachdem ich auf dem Rückweg zur Abwechslung mein rechtes Bein 2mal in eine Gletscherspalte gesteckt hatte. Beide waren aber nur schmal, so dass alles reibungslos abgelaufen ist.» Am späten Nachmittag schultern die beiden Schwestern bereits wieder ihre Rucksäcke, weil es auf dem Gemmipass zum Wallis hinüber bessere Unterkunft gibt. Tags darauf gönnen sie sich Ruhe, das heißt, sie steigen steil hinunter nach Leukerbad. In der Jugendherberge treffen sie auf zwei Burschen, der eine ist ein Handelsschüler, den Gertrud flüchtig kennt. Onkel Paul lässt sie wissen:
«Wir kochten uns zusammen ein fabelhaftes Nachtessen: 1 Pack Hörnli mit Tomaten, 1 Büchse Apfelmus, Waadtländerbratwürste & zwei Suppenschüsseln Tee. Bis der Frass bereit war, jagten wir den Herbergsleiter einige Male in Angst & Schrecken, weil wir nicht gut mit einem Holzherd kutschieren können & so die ganze Bude in einen undurchsichtigen Qualm setzten. Es geriet alles wunderbar & fand reissenden Absatz. – Um nicht einem langweiligen Aufwasch in der Küche anheimzufallen, packten wir das ganze Geschirr in einen Zuber & pilgerten zu einer heissen Leukerbadquelle, wo wir zusehen konnten, wie alles von selbst abgespült wurde.»
* Verzeichnis der Dialektwörter und fremdsprachigen Ausdrücke Seite 308
Am nächsten Morgen gibt es kein Verweilen, die Schwestern haben das Eggishorn im Kopf, wandern ins Tal hinunter nach Leuk und nehmen den Zug nach Brig. In den folgenden beiden Tagen wandern sie über die Belalp, Riederalp, Bettmeralp und hinauf auf das Eggishorn und hinunter nach Fiesch, auf dem Rücken trägt jede «15 Kg ohne Proviant», für solche, die keine «Talschlangen» sein wollen, eine Ehrensache – «Beth & ich wurden angestaunt wegen unseren Leistungen & unserm Schritt! & unserer Energie & Selbständigkeit, & der Tatsache, dass wir in unserem Alter zu zweit eine solche Tour machen konnten!» Unterwegs wird das Essen auf dem Spirituskocher selbst zubereitet, doch die Kost aus der eigenen Feldküche ist bald eintönig und das Erwachsensein etwas unbequem, sodass Gertrud und Elisabeth, trotz des Genusses allgemeiner Bewunderung, gerne in Berthas Nest zurückschlüpfen: «Allerdings haben wir jetzt für längere Zeit unseren Bedarf an Maggisuppen etc. gedeckt & füttern uns bei Muttern wieder voll.»
Ähnlich wie mit dem Eispickel verhält es sich mit den vier Schweizer Franken. Auch sie bedeuten eine Absage an den Lebensweg der Mutter und demonstrieren den Anspruch auf einen Platz in der Öffentlichkeit. Deutschland und Österreich führten das Frauenstimmrecht nach dem Ersten Weltkrieg ein, ebenso Großbritannien, Irland, Schweden, Dänemark und die Niederlande. Noch früher konnten bereits die Finninnen und Norwegerinnen abstimmen. Am Mädchengymnasium ist die politische Gleichberechtigung kein Thema, das Gertrud Klasse beschäftigt hätte, jedenfalls erinnern sich ehemalige Schulkolleginnen nicht daran. In den Jahren der Wirtschaftskrise und des aufkommenden Faschismus ist das Frauenstimmrecht für eine Gymnasiastin nicht das Gebiet, auf dem sich Lorbeeren holen ließen. Zu viel Widerstand von allen Seiten. Selbst ein Studium und der Wunsch nach späterer Berufstätigkeit haben bereits einen rebellischen Anstrich. Katholisch-Konservative führen Brandreden gegen den Zerfall der Familie und machen die Ansprüche der Suffragetten dafür verantwortlich. Bürgerliche hetzen vereint mit der faschistischen Nationalen Front gegen verheiratete Frauen in qualifizierten Berufen, solche Arbeitnehmerinnen seien schamlose Doppelverdienerinnen, die man durch arbeitslose Familienväter ersetzen müsse. Kaum eine junge Frau meldet sich bei den hundertdreißig, zumeist älteren Zürcher Stimmrechtlerinnen. Die Präsidentin blickt bereits zuversichtlich vorwärts, wenn im Vereinsjahr nicht mehr Todesfälle zu verzeichnen sind, als es Neueintritte gab. Aber auch unter den Kämpferinnen, so ihre Klage, mache sich «Müdigkeit und Verdrossenheit» bemerkbar: «Man beginnt auch bei uns, den Argumenten der Gegner Gehör zu schenken und die, ach so oft gehörte, aber im Grunde billige Phrase – in solch schweren Krisenzeiten hätten die Frauen statt einseitig ihre feministische Liebe zu verfolgen aufs Wohl des Ganzen bedacht zu sein – gedankenlos nachzusprechen.»2
Gertrud Heinzelmann protestierte zum ersten Mal, als sie noch in Wallisellen zur Schule ging, ein Backfisch im Faltenrock und mit langen Zöpfen. Frech marschierte sie an der Spitze der 1.-Mai-Kundgebung durch das Dorf, eine hoch aufgeschossene Gestalt, trotz jugendlich schlechter Körperhaltung überragte sie viele Erwachsene, und von weitem leuchteten ihre roten Haare, die sie vom Vater geerbt hatte. Wallisellens Bürgertum schauderte, die wohlhabende Kaufmannstochter unter den Sozialisten. Beim Vorbeimarsch wurde sie scharf zur Rede gestellt, ob sie mit den Roten nun gemeinsame Sache mache. Sie habe, sagt Gertrud Heinzelmann, geantwortet: «Ich bin hier die Frauenstimmrechtssektion.» Mit ihrem Beitritt zum Stimmrechtsverein erhält ihr Aufbegehren einen öffentlich anerkannten Ort, spielt sich fortan im Rahmen von Sitzung und Beschlussfassung ab und kann nicht mehr länger als jugendliche Flause abgetan werden.
Gertrud Heinzelmann um 1934.
Für ihre religiöse Veranlagung weiß die Gymnasiastin keinen Ort. Durch Wallisellen zieht sich ein unsichtbarer Graben zwischen der überwiegenden protestantischen Mehrheit und den Katholiken. Erstere schauen abschätzig auf die «Katholen» hinunter, die als ungelernte Arbeitskräfte in den Fabriken oder im Haushalt beschäftigt sind, im Dorf keine eigene Kirche haben und den Priester mit der Nachbargemeinde teilen müssen. Hin und wieder besucht Gertrud Heinzelmann die Sprechstunden des zuständigen Geistlichen und will Erklärungen, weshalb sie nicht ministrieren darf, weshalb eine Frau nicht wie ein Mann predigen, die Beichte abnehmen und das Abendmahl austeilen dürfe. Die Besuche führen zu heftigen Debatten, die der Geistliche mit dem Hinweis beendet, dass sie alles nachlesen könne bei Augustinus oder Thomas von Aquin, und mit einem theologischen Band aus der priesterlichen Bibliothek wird sie nach Hause geschickt. Was sie bekümmert, wofür der Priester kein Einsehen hat und was auch die Familie bei ihrem «Betblätz» nicht versteht, drückt sie in Gedichten aus. In ihrem Dachzimmer schreibt sie am 3. November 1933:
Die Himmlischen sehen,
sie fühlen, sie hören.
Der tiefe Abgrund meiner Seele
ist ihnen nah,
ist ihnen Licht.
Wem soll ich es klagen
das grosse Leid?
Den tiefen Schmerz?
Wem soll ich ihn klagen?
Überreif drückt mich das Leben,
mein Leben zu geben
euch Göttern des Lichts!
Ihr Götter brechet
die schwere reifende Frucht!
Sie sucht eine Aufgabe, eine religiöse Bestimmung, doch wer die Götter sind, die sie anruft, ist für sie nicht eindeutig. In ihrem Bücherschrank steht dickleibig die «Lehre des Buddha», damals vielleicht sogar ihr wichtigstes Buch. Sie entdeckte es auf ihrem Schulweg durch die Zürcher Altstadt in der Kirchgasse, wo die Antiquariate und Buchhandlungen bei gutem Wetter ihre Sonderangebote vor den Schaufenstern stapeln. Der violette Einband ist ihr sofort aufgefallen, aber es vergehen Tage, bis sie zugreift. Vom Inhalt kommt sie nicht mehr los. Die Schilderung des achtfachen Pfades, die Abbildungen von bärtigen, asketischen Mönchen beim Meditieren hinterlassen einen tiefen Eindruck, und sie nimmt sich vor, später in buddhistischen Ländern zu leben. Das Buch eröffnet ihr eine exotische Welt jenseits katholischer Zwänge, ist Zuflucht und Lebenshilfe. Nach den Zeichnungen von Yogastellungen beginnt sie zu meditieren und entdeckt, dass es Einkehr und spirituelle Versenkung außerhalb der katholischen Kirche gibt und dass es keinen Priester braucht, der zwischen Erde und Himmel vermittelt. Durch Yoga hat ihre religiöse Veranlagung zum ersten Mal einen Ausdruck gefunden. Als Siebzigjährige schreibt Gertrud Heinzelmann:
«Die Rückwendung der Reflexion auf das eigene Bewusstsein war schon in früher Kindheit ein spontanes, unauslöschliches Erlebnis gewesen. Nun fand ich einen Grossen, der es unternommen hatte, diesen Weg nach innen konsequent und folgerichtig bis zum Samadhi zu gehen. Die yogistischen Übungen, die ich nach den Beschreibungen betrieb, empfand ich als unerhört stärkend. Sie bauten mein Selbstbewusstsein auf und verliehen mir ein Selbstwertgefühl, das die vom Pfarrer verabreichte kirchliche Literatur nie zu vermitteln vermochte.»3
Möglicherweise wissen die Eltern über die Meditationsübungen ihres «Betblätzes» Bescheid, denkbar ist aber auch, dass Gertrud Heinzelmann ihre Erfahrung für sich behält, um dem familiären Unverständnis zu entgehen. Gegenüber ihrem Onkel, dem sie viel anvertraut, erwähnt sie nichts. Über sich sagt sie als alte Frau: «Ich habe einen religiösen Stich bekommen, den ich von einem anderen Ort als der Familie habe. Es ist eine Begabung für mich.»
Am Gymnasium sitzt Gertrud Heinzelmann in der hintersten Bankreihe. Regungslos wie eine Pflanze sei sie auf ihrem Stuhl gesessen und wegen ihrer Intelligenz und ihrem phänomenalen Gedächtnis aufgefallen, sagen ehemalige Mitschülerinnen. Belastbar sei sie gewesen. Die Städterinnen finden ihre langen Zöpfe gar ländlich, und Gertrud Heinzelmann lässt sich, nachdem der mütterliche Widerstand endlich gebrochen ist, in den oberen Klassen die Haare modisch kurz schneiden. In den letzten Wochen vor dem Abitur geht die Französischlehrerin den Bankreihen entlang mit der Frage, was jede Schülerin studieren werde. Pharmazie, Medizin, am liebsten Veterinärmedizin, ein Sprachstudium und anderes erhält sie zur Antwort, dazwischen auch verlegenes Zögern. Zu hinterst im Klassenzimmer gibt es keine Stockungen, die Antworten kommen bestimmt, und als Gertrud Heinzelmann an der Reihe ist, sagt sie, was schon zwei vor ihr gesagt hatten: ein Studium der Rechtswissenschaften. Onkel Paul schreibt sie zuversichtlich:
«Die Aussichten sind zwar nirgends rosig & wenn man dem allgemeinen Klagegeheul zuhören wollte, könnte man den Eindruck bekommen, es sei das Gescheiteste, in eine Schachtel zu kriechen & und den Deckel zu schliessen. – Ich hoffe aber, dass wenn ich einmal fertig bin, ich doch eine Stelle bekommen kann, & ich denke gar nicht zuletzt an Dich, dass Du mit Deinen vielen Beziehungen mich irgendwo platzieren könntest.»4
Beinahe drei Jahrzehnte später wird Gertrud Heinzelmann mit dieser Hoffnung, als sie in der Schweiz für sich keine Zukunft mehr sieht, zu ihrem Onkel reisen. In Rio de Janeiro lernt sie Bertha Lutz kennen, die in Brasilien für das Frauenstimmrecht gekämpft hatte und Gleichberechtigung als ein weltumspannendes Ziel versteht, das sie mit Hilfe der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte verwirklichen will. Beflügelt von dieser Begegnung, misst Gertrud Heinzelmann die katholische Kirche mit dem Maßstab der Menschenrechte. Zum Zweiten Vatikanischen Konzil fordert sie 1962 die Zulassung der Frauen zu Priestertum und höheren Kirchenämtern. Sie prangert die Jahrhunderte alte kirchliche Frauenverachtung an und verlangt die Modernisierung des theologischen Frauenbildes. Ihre Forderungen brechen mit religiösen Traditionen und sind in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche ein Bildersturm. Sie stehen am Anfang der feministischen Theologie. In Europa, Amerika und Afrika gerät ihre Eingabe an das Vatikanische Konzil in die Schlagzeilen und Amerikas Katholiken greifen ihre Gedanken bald auf. In Rom wird, nach kurzem Aufschrecken und einer päpstlichen Gegendarstellung, geflissentlich geschwiegen. In der Schweiz ergeht es Gertrud Heinzelmann wie der jüngeren Gymnasiumskollegin Iris von Roten, die für ihr Emanzipationswerk «Frauen im Laufgitter» nichts als gehässige und ehrverletzende Kommentare erntete. Das einzige Land in Europa ohne Frauenstimmrecht reagiert auf seine Kirchenkitikerin mit der Wut der Durchschauten. Im selben Jahr, als Gertrud Heinzelmann katholische Priesterinnen verlangt und an die Einhaltung der Menschenrechte erinnert, betrachtet die Schweizer Regierung das fehlende Frauenstimmrecht nicht als Verstoss gegen die Menschenrechte.
Führungsbewusst stürmt Gertrud Heinzelmann vorwärts, risikobereit, streng mit sich und den anderen. Sie wird die erste Ombudsfrau der Schweiz und ragt als Frauenrechtlerin mit ihrem Scharfsinn und ihrem trocken Witz heraus. Unerschütterlich vertraut sie der Aufklärung und der menschlichen Vernunft und hofft gläubig auf ein Jenseits. Sie hätte gerne ein grundlegendes Buch zur Emanzipation verfasst, wie es in ihrer Generation die Französin Simone de Beauvoir und Iris von Roten veröffentlicht haben. Mehrmals beginnt sie ein Manuskript, gibt wieder auf und ordnet ihr Schreiben der praktischen Arbeit unter. Sie versteht sich nicht als Schriftstellerin, sondern als «Frau des Kampfes»5, die entschlossen mit juristischen Mitteln eingreift und in unzähligen Zeitungsartikeln die Missstände im «eidgenössischen Wartsaal»6 brandmarkt, in dem die Frauen «in schulmädchenhafter Bravheit» ihr Dasein als Unmündige fristen müssen. Die Schriftstellerin Laure Wyss beschreibt die Streitbare 1986 so:
«Sie hat seit jeher handfest und sprachlich träf gekämpft, diese Feministin Heinzelmann, eine der wenigen waschechten unseres Landes. Mit dem, was sie schrieb, konnten wir Frauen unmittelbar etwas anfangen. Die Männer übrigens auch, wenn sie es lasen, aber sie haben natürlich an der Entlarvung der für sie vorteilhaften Herrschaftsverhältnisse weniger Interesse als wir.»7
Bevor am Gymnasium die Abschlussprüfungen beginnen, lässt Gertrud Heinzelmann ihren Onkel in Brasilien wissen, er solle ihr die Daumen drücken – «wir denken auf d. 21. März flügge zu werden, & die ganze Bande freut sich entsetzlich auf die akademische Freiheit. »8 Sie besteht im Frühling 1934 das Abitur mit Leichtigkeit, und die Eltern schenken ihr den Eispickel und die vier Schweizer Franken. Uncle Frank, Mutters älterer Bruder, lädt die zukünftige Studentin in die Ferien nach London ein.
Der Onkel hatte bei seiner Ankunft in England das «z» in seinem Vornamen Franz durch ein «k» ersetzt und stieg in der «Reslaw Factory» zum Direktor auf. Die Londoner Fabrik wurde von einer Schweizer Hutgeflechtfirma aus Wohlen gegründet und stellt Hutstumpen und Geflecht aus Stroh her. Daraus werden für die Herren «Boater» genäht, wie der klassische Sommerhut auf Englisch heißt. In Wohlen, einem Flecken im aargauischen Freiamt, ist der «Boater» schlicht ein «Röhrlihut». Die Strohindustrie, wie das Dorf seinen Welthandel mit Hutgeflecht nennt, ließ nicht nur Franz auswandern, sondern sie trug auch Schuld daran, dass Bertha, geborene Zimmermann, und Hans Heinzelmann einst von der Arbeit aufsahen und schließlich gemeinsam die Zukunft planten.