Читать книгу In all den Jahren - Barbara Leciejewski - Страница 6

Оглавление

1991

Das Namensschild an Finns Briefkasten und an seiner Klingel war ausgewechselt worden. Jetzt stand da nicht mehr Finn McGregor, sondern S. Schulze.

S. Schulze war eine Frau in den sogenannten besten Jahren, also Anfang vierzig, schätzte ich. Sie trug Kostüme, schlampige Hochsteckfrisuren und meistens eine schmale, schwarze Aktentasche, die sie als Businessfrau auswies. Wenn sie grüßte, lächelte sie breit und süßlich, doch sie war immer in Eile, so dass man nie ins Gespräch kam. Nicht dass ich das gewollt hätte. Ich versuchte, sie mir manchmal in Finns Wohnung vorzustellen, doch das verlangte zu viel Fantasie. Was hatte sie mit der Staffelei und dem Zeichentisch gemacht? Was mit dem schönen Holztisch? Schlief sie tatsächlich in seinem Bett? Und kümmerte sie sich auch um die Pflanzen?

Ich war froh, dass ich Alfred gerettet hatte. Alfred, den Farn. Er war mir mittlerweile so ans Herz gewachsen und ich redete so viel mit ihm, dass ich fand, er sollte einen Namen haben. Schließlich konnte ich morgens ja schlecht sagen: Guten Morgen, Farn!

Noch glücklicher war ich über Die Verliebten an meiner Wand über dem Sofa, das ja auch gleichzeitig mein Bett war. Es war das Erste, was ich am Morgen sah, wenn ich wach wurde, und das Letzte, wenn ich schlafen ging.

Viel mehr hatte sich allerdings nicht geändert. Ich dümpelte vor mich hin, machte viel belanglosen Synchron, der mich gerade so ernährte, nahm an Castings teil, ohne ernsthaft zu erwarten, genommen zu werden, und spielte ab und zu Kleinstrollen in Fernsehproduktionen, gerne Leichen.

Eines Tages Anfang Februar erhielt ich einen vielversprechenden Anruf. Es war nicht Hollywood, aber es war ein neues Privattheater in München, das sich ‚Die Theaterwerkstatt’ nannte. Die Dame am anderen Ende der Leitung erklärte mir, man habe von mir gehört und würde mich gern zu einem Vorsprechen einladen. Es ging dabei um die Hauptrolle in der Eröffnungsinszenierung: Hamlet.

„Die Ophelia?“, schrie ich.

„Nein, den Hamlet“, sagte die Dame sachlich.

„Bitte?“

Näheres würde mir der Regisseur dann mitteilen. „Werden Sie kommen?“

Allein aus Neugierde wollte ich mir das nicht entgehen lassen. Ich machte also einen Termin mit ihr aus und begab mich gleich am nächsten Tag in den Norden Münchens nach Freimann, wo die neue Bühne ihre Räumlichkeiten hatte.

Freimann. Also gut. Warum nicht auch einmal an der Peripherie spielen? Es musste nicht immer Schwabing, Haidhausen oder die Innenstadt sein. Warum nicht ein kulturell unterrepräsentierter Stadtteil? Immerhin war die Studentenstadt in der Nähe, die würden das Angebot schon nutzen.

Das Theater befand sich in einer Art … Schuppen. Ein großer Schuppen zwar, der wahrscheinlich einmal eine Werkstatt gewesen war – womit mir auch die Wahl des Namens klar wurde –, aber trotzdem eben ein Schuppen, wenig größer als Finns Atelier. Finns ehemaliges Atelier.

Immerhin hatte jemand den Holzboden blitzblank gekehrt, das war schon mal etwas. Ein paar Leute standen am anderen Ende des Raums. Eine dünne Frau in Schwarz kam schlendernd auf mich zu.

„Hallo!“, sagte sie leicht näselnd und hielt mir eine schmale Hand hin. „Du musst Elsa sein, richtig?“ Klar, man duzte sich.

„Ja“, sagte ich und nahm ihre Hand, eine Fischhand, das hatte ich schon vorher geahnt. Labbrig und kühl lag sie in meiner, ohne auch nur ansatzweise den leichten Druck zu erwidern, der normalerweise beim Händeschütteln dazugehörte. Eklig.

„Ich bin Ramona, ich mach hier Dramaturgie und bin die Assistentin der Theaterleitung.“

Sie redete, als würden wir uns gerade in den Münchner Kammerspielen befinden und nicht in einem Schuppen.

„Komm mit.“ Sie machte eine Kopfbewegung zu der Gruppe und schwebte voraus.

Ein kleiner, zauseliger Typ mit ungewaschenen Haaren und einem geklebten Brillengestell kam uns ein paar Schritte entgegen. Er behielt die Hände in den Taschen seiner versifften Cordhose, worüber ich erleichtert war.

„Das ist Markus Hansemann, unser Regisseur und Theaterleiter. Elsa Frank“, stellte Ramona uns vor, begleitet von eleganten Bewegungen ihrer Fischhände.

„Du hast schon gehört, was wir vorhaben?“, sagte der Regisseur ohne Begrüßung, aber mit der metallischen, tragenden Stimme eines echten Schauspielers.

„Ähm, nicht wirklich“, sagte ich.

Daraufhin breitete er seine künstlerische Vision vor mir aus, als hätte er nur darauf gewartet. Gestenreich und in vielen blumigen Worten erklärte er mir seine Interpretation des Hamlet, betonte die, wie er sagte, dialektische Herangehensweise seiner Inszenierung und die transzendentale Pigmentierung, die ihm besonders wichtig erschien.

„Transzendental im Sinne Kants natürlich“, betonte er.

„Natürlich“, sagte ich ernst. Ganz gleich in welchem Sinne, ich wusste nicht, was das heißen sollte: transzendentale Pigmentierung.

Die anderen standen ein paar Meter von uns entfernt und hörten dem Meister bewundernd zu.

„Und ich soll also den Hamlet spielen?“, vergewisserte ich mich noch einmal.

„Alle Männerrollen werden mit Frauen besetzt und die Frauenrollen mit Männern, das ist ein wesentliches Element der Dialektik, wie ich sie einführe.“

Wie bitte? Hatte er schon einmal etwas vom dialektischen Theater bei Brecht gehört? Hatte er es verstanden? Und was wollte Hansemann da noch einführen?

„Also gut“, sagte ich und überging den Punkt einfach. „Ich habe den Hamlet natürlich nicht drauf, aber …“

„Das macht gar nichts, denn wir werden den Text ablesen“, unterbrach mich Hansemann.

„Oh! Gut!“, sagte ich und zog meine Reclam-Ausgabe hervor.

„Die kannst du stecken lassen. Ich habe die letzten beiden Jahre damit verbracht, den ganzen Text neu zu übersetzen“, sagte Hansemann sofort. Die Assistentin reichte ihm wie auf Kommando einen DinA4-Ordner, den er, ohne sie anzusehen, an mich weitergab.

Hamlet. Nach William Shakespeare in einer Übersetzung von Markus Hansemann stand da. Nach? Nach William Shakespeare? Zudem kam mir der Ordner ziemlich dünn vor. Ich schlug die erste Seite auf und überflog sie rasch.

Ich hatte, um meine Hamlet-Kenntnisse ein wenig aufzufrischen, das ganze Stück in der Nacht zuvor quergelesen, deshalb fiel mir sofort auf, dass sowohl die ganze erste Szene als auch der Anfang der zweiten Szene fehlte und ich war mir ziemlich sicher, dass auch der Dialog im Original etwas ausführlicher war, neue Übersetzung hin oder her. Meine gerunzelte Stirn bemerkend, meinte Hansemann: „Ich habe den Text etwas gekürzt. In der Kürze liegt die Würze.“ Er lachte und entblößte dabei zwei dunkelgelbe Zahnreihen.

„Soll ich jetzt vorsprechen?“, fragte ich, nicht sicher, ob ich das überhaupt noch wollte. „Soll ich vielleicht den berühmten Sein-oder-Nicht-sein-Monolog sprechen?“

„Der ist auch gestrichen“, sagte Hansemann und als ich die Augen aufriss, meinte er nur: „Also ich bitte dich, der ist doch so was von abgedroschen.“

„Der Markus ist einfach genial“, flüsterte eine Frau mit ausladenden Hüften, die ich mir im Geiste schon als Polonius vorstellte, einem neben ihr stehenden Kollegen zu. „Der scheut sich nicht, die alten Hüte auszuräumen.“

Der geniale Markus tat so, als hörte er die Bemerkung seiner Bewunderin nicht, doch der angesprochene junge Mann – sicher Ophelia – nickte zustimmend und ehrfürchtig.

Plötzlich ging mir der Gaul durch. Ich hatte einen Ensembletag, der zwar ätzend war, ja, aber immerhin gutes Geld bedeutete, für diese Nasen sausen lassen. Für diesen aufgepumpten, ungewaschenen, überheblichen Zausel, der meinte, er könnte das Theater neu erfinden, und vorhatte, Shakespeare dabei zu vergewaltigen. Für diese Möchtegerns und Pseudo-Künstler, die sich nur in einer verlassenen Werkstatt trauten, ihr Unvermögen und ihren Wahnsinn zur Schau zu stellen. Ich kam mir vor wie in einem Masturbationsklub.

Ich knallte dem genialen Markus Hansemann den Ordner vor die Brust und sagte: „Lass uns doch bitte noch über die Gage reden, Markus, okay? Du weißt ja – um es mit Lessing zu sagen –: ‚Die Kunst geht nach Brot’. Oder ist das auch ein alter Hut?“

Markus Hansemann war verblüfft. Im Hintergrund brütete Empörung.

„Also, es ist dir doch klar, dass das hier noch ein sehr junges Theater ist, und bis wir uns etabliert haben …“, setzte er an.

„Es ist mir klar, dass das hier ein Schuppen ist und dass ich hier meine Zeit verschwende“, blaffte ich ihn an. „Ich werde für das, was ich tue, bezahlt. Ich habe mein Handwerk gelernt und ich möchte mich bei William Shakespeare, falls er irgendwo da oben zuhört und inzwischen Deutsch spricht, dafür entschuldigen, dass ich mir diese gequirlte Scheiße so lange angehört habe.“

Damit drehte ich mich auf dem Absatz um und stürmte davon. Hinter mir hörte ich ein halblautes, zaghaftes „Miststück!“ von Polonius.

Jetzt tat sie mir leid. Alle taten mir leid. Doch ich ging weiter, ohne zu reagieren, und ließ meinen schlimmsten Albtraum hinter mir. Da drinnen waren lauter Leute, die es nicht einmal in ein richtiges Hinterhoftheater schaffen würden, nicht einmal in den Sprecherraum eines Synchronstudios bei einem Ensembletag, nicht einmal in den Einspieler von Aktenzeichen XY. Warum hatte ich nicht einfach gehen können, ohne sie zu beschimpfen? Einfach nur: „Tut mir leid, das ist, glaub’ ich, nichts für mich.“ Einfach nur lügen.

Ich lief die Straße hinunter, ohne darüber nachzudenken, wo ich war oder wo ich hin wollte. Es drohte, wieder einer dieser miesen Tage zu werden, an denen ich mich selber nicht ertragen konnte. Miststück!

Ich erreichte die Leinthalerstraße und beschloss, durch den Englischen Garten zu gehen. Ich hatte keine Lust, mich in die U-Bahn zu setzen. Außerdem war es ein ungewöhnlich warmer und sonniger Tag, ich hatte nichts anderes mehr vor, keiner wartete auf mich, also war es egal. Vielleicht würde ich mir den ganzen Ärger ja einfach ablaufen.

Als ich beim Aumeister, dem gemütlichen Biergarten im Norden des Englischen Gartens, ankam, staunte ich nicht schlecht. Da waren tatsächlich einige Tische aufgebaut und Leute in warmen Jacken saßen in der Sonne und tranken Bier. Es sah so einladend aus, dass ich mich am liebsten auch hingesetzt hätte. Aber ich setzte mich nie alleine in eine Kneipe, auch nicht in einen Biergarten. Ich wollte gerade weitergehen, da hörte ich, wie jemand meinen Namen rief.

„Elsa?“

Ich blieb stehen und schaute mich um. Da stand ein junger Mann auf und winkte ein wenig unsicher. Groß, blond, wellige Haare, weder außergewöhnlich attraktiv noch außergewöhnlich unattraktiv. Ein mittelmäßig attraktiver Mann, der mir zuwinkte und meinen Namen kannte. In meinem Gehirn arbeitete es. Woher kannte ich den? Vom Synchron? Von früher? Von Aktenzeichen? Meine Verwirrung stand mir mit Sicherheit ins Gesicht geschrieben, denn der Typ lächelte und kam auf mich zu.

„Ich dachte mir schon, dass ich keinen bleibenden Eindruck hinterlassen habe“, sagte er halb ernst, halb scherzend. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Typ aus der Bar, mit dem ich geflirtet und Telefonnummern getauscht hatte. Vor Weihnachten. Wie hieß er noch gleich? Jürgen!

„Jürgen!“, sagte ich. „Doch natürlich. Ich war nur einen Moment durcheinander.“

Ich gab ihm die Hand.

„Wie geht es dir?“, fragte ich.

„Jetzt gerade ganz gut“, sagte er, „aber normalerweise stecke ich mitten im Lernen für meine Prüfung im März.“

Ich versuchte, mich zu erinnern, welche Prüfung er meinen könnte. Er studierte irgendetwas, aber ich wusste natürlich nicht mehr was. Er grinste und sagte: „Jura. Erstes juristisches Staatsexamen. Zwei Drittel fallen durch.“

„Oh, ja“, sagte ich, „klar, das weiß ich doch noch.“

Er sah mich zweifelnd an.

„Nein, ehrlich gesagt, weiß ich es nicht mehr.“ Wir lachten beide. Ich erinnerte mich jetzt, dass seine nette Art mich schon in der Bar angesprochen hatte.

„Ich hab zwischendurch mal angerufen. Kurz nach Weihnachten, aber da warst du wohl nicht zu Hause“, sagte er.

Nein, dachte ich, da war ich nicht zu Hause, da bin ich vor Finn geflüchtet.

„Später hat mich dann der Mut verlassen, ehrlich gesagt“, sagte er mit einem sympathischen Anflug von Verlegenheit, an dem nichts gespielt war.

„Aber ich bin doch nicht so furchterregend, oder?“, fragte ich lachend.

„Nein“, erwiderte er, „aber ich bin normalerweise niemand, der Leute in Bars aufreißt. Also war das ziemlich ungewohnt für mich, so spontan, Nummern zu tauschen, und alles.“

Jürgen war eindeutig sympathisch.

„Also, wenn du Lust hast, könnten wir ja mal was trinken gehen“, sagte ich.

Sein Gesicht leuchtete geradezu auf.

„Ja, natürlich. Gern. Ähm … hast du morgen Abend Zeit?“

Ich ging im Kopf meinen überschaubaren Terminkalender durch.

„Ja, morgen hab ich Zeit“, sagte ich.

„Hast du einen Vorschlag?“, fragte er.

„Bei mir um die Ecke sind ziemlich viele Kneipen. Vielleicht das Café Butter?“

„Wo ist das denn?“, fragte er.

„In der Buttermelcherstraße natürlich. Originell, was?“

„Okay, dann im Butter“, stimmte er freudig zu.

Wir verabredeten uns für sieben Uhr. Als ich mich von Jürgen verabschiedete und durch den Englischen Garten spazierte, war das Fiasko mit der Theaterwerkstatt bereits völlig vergessen.

Am nächsten Tag war ich pünktlich um fünf nach sieben im Butter. Jürgen war schon da. So gehörte sich das. Den ersten Pluspunkt hatte er sich damit schon mal erworben.

Ich war lange nicht mehr in dieser Kneipe gewesen. Mit meiner besten Freundin Johanna, die nach wie vor in Australien weilte, war ich früher manchmal hierhergekommen, aber es schien sich seitdem einiges geändert zu haben. Die Tische waren irgendwie anders verteilt, die Musik, die im Hintergrund lief, war merkwürdig und die Bedienung war eine mürrische, gelb-blond gefärbte Tussi, die Kaugummi kaute und uns nicht ansah, als sie die Bestellung aufnahm. Ich nahm einen Salat, Jürgen eine Käseplatte und wir beide jeweils ein Weißbier. Es war, wie ich erwartet hatte: Der Käse war trocken und geschmacksneutral, es gab zu wenig Brot und der Salat suchte das Dressing vergebens.

Ich machte die Blondine darauf aufmerksam. Die sagte kein Wort und kam ein paar Minuten später mit einem kleinen Kännchen mit Dressing zurück, das sie stumm und wiederum, ohne mich eines Blickes zu würdigen, auf den Tisch stellte.

Na gut, man konnte nicht alles haben. Zumindest das Weißbier war kühl und schmeckte. Jürgen und ich unterhielten uns glänzend. Er hatte Ringe unter den Augen und sagte, dass er praktisch Tag und Nacht lernte, denn er wollte unbedingt zu jenem Drittel gehören, das die schwierige Juraprüfung schaffte, vor allem weil er, wie er meinte, ohnehin schon so spät dran war.

„Erst bin ich beim Abi durchgefallen, dann musste ich Zivildienst machen und bis ich dann richtig mit dem Studium anfangen konnte, war ich schon fast vierundzwanzig“, erzählte er. „Ich kann nicht noch mehr Zeit verschwenden.“

„Und Jura macht dir Spaß?“, fragte ich.

„Ich wollte schon immer Richter werden“, sagte er. „Wenn mich als Kind jemand gefragt hat, was ich werden will, hab ich nie Feuerwehrmann oder Astronaut gesagt oder Müllkutscher, das war auch sehr beliebt, sondern immer Richter. Keine Ahnung warum.“

„Das ist doch toll“, fand ich. „Es ist toll, wenn man genau weiß, was man will.“

„Ist das bei dir nicht so?“, fragte er. „Du bist doch Schauspielerin. Das muss man doch auch wollen müssen, oder?“

„Ja, klar“, sagte ich, obwohl ich genau wusste, dass es mit meiner Entschlossenheit und meinem Willen nicht wirklich weit her war.

Jürgen erzählte viel über sich und ich hörte gerne zu, aber ich hatte meinerseits nicht das Bedürfnis, ähnlich viel von mir zu erzählen. Er fragte nach meiner Arbeit beim Synchron und schien ehrlich interessiert zu sein, aber ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er nicht wirklich viel mit dieser Welt anfangen konnte. Er redete über meinen Beruf wie über ein interessantes Hobby. Er selbst beschäftigte sich mit den wesentlichen Dingen im Leben, mit Umweltschutz und den Folgen der deutschen Einheit, mit den Entwicklungen in der Sowjetunion und mit dem Golfkrieg. Davon hatte ich keine Ahnung. Ich sah mir die Nachrichten an und war informiert, aber ich war in meinem ganzen Leben noch nie auf einer Demonstration gewesen, und ich musste zugeben, dass ich kein Vorbild beim Mülltrennen war. Ich war einer jener unpolitischen Menschen, die so mitliefen und sich wenig Gedanken machten oder zumindest nicht auf die Idee kamen, sich zu beteiligen. Ich ging wählen, immerhin. Ich schämte mich ein wenig und versuchte, es vor Jürgen zu verbergen. Er sollte mich nicht für ein Dummchen halten, denn das war ich schließlich nicht.

Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass ich mir darüber Sorgen machen musste, dass Jürgen mich irgendwie falsch einschätzte oder ein schlechtes Bild von mir hatte. Wir lachten viel und es gab keinen einzigen Moment, in dem uns der Gesprächsstoff ausging. Wir tranken jeder noch ein weiteres Weißbier und später brachte er mich bis vor die Haustür.

„Das war ein sehr netter Abend“, sagte ich. Er nickte und ich hatte das Gefühl, dass er sich gerade fragte, ob der Abend schon vorbei war.

„Ruf mich an, wenn du mal wieder eine Auszeit vom Lernen brauchst“, sagte ich und meine Körpersprache gab ihm die Antwort auf seine unausgesprochene Frage.

„Mach ich bestimmt“, sagte er. „Spätestens, wenn die Prüfung vorbei ist.“

„Toi, toi, toi!“, sagte ich, hob die Hand zum Gruß und wandte mich zur Tür.

„Tschau!“, sagte er.

„Tschau!“, sagte ich und ging hinein.

Im Treppenhaus blieb ich eine Weile stehen. Ich dachte an den Abend der Vernissage, als ich mich von Finn verabschiedet hatte. Wie anders war das gewesen. Wie anders hatte ich mich da gefühlt. Viel unsicherer, viel befangener, aber auch viel verbundener. Dieses merkwürdige und gleichzeitig vertraute Gefühl, das mir Finn gegeben hatte und das ich niemals einordnen konnte, gab Jürgen mir in keiner Weise. Aber war das schlecht? Jürgen mochte mich, das war klar, und hätte ich ihn noch eingeladen, war es ebenso klar, wo es geendet hätte. Mit Finn dagegen wäre ich niemals im Bett gelandet, wir hätten einfach nur geredet, unwichtiges Zeug, wichtiges Zeug, Blödsinn, hätten uns übers Saxophon spielen unterhalten und darüber, wie er David kennengelernt hatte. Wir hätten Zeit gehabt für diese lange Geschichte. Und wenn ich heute mit Finn zusammen ausgegangen wäre, hätte ich ihm mit Sicherheit von der Theaterwerkstatt und dem Zausel mit seinen Ideen erzählt, von der Polonius-Darstellerin, die mich Miststück genannt hatte, und von dem gestrichenen Sein-oder-Nicht-Sein-Monolog. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie Finn sich darüber kaputtgelacht hätte.

Aber Finn war in New York und sprach das nicht Bände darüber, wie nah wir uns wirklich waren?

Was auch immer ich empfand, das waren die Fakten: Jürgen war hier und Finn nicht, und daran würde sich nichts ändern.

Mitte März rief Jürgen an, um sich erneut mit mir zu verabreden. Er hatte sich schon öfter zwischendurch gemeldet, doch er hatte nie Zeit für ein Treffen gefunden. Jetzt waren die Prüfungen vorbei und das wollte er feiern.

Wir trafen uns in einem Lokal in Schwabing. Zur Begrüßung umarmte er mich und lud mich zum Essen ein. Auch diesmal wurde es ein netter Abend, auch wenn wieder hauptsächlich er es war, der erzählte. Von den vergangenen Prüfungen, von den Kommilitonen, die einem Nervenzusammenbruch nah waren und von einer, die tatsächlich einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, von den mündlichen Prüfungen, die im Juli anstanden, und seiner Hoffnung, dass er dann im Herbst beim Amtsgericht seine Referendarstelle antreten und endlich aus der engen WG in der Studentenstadt ausziehen konnte.

„Ich drück dir ganz fest die Daumen“, sagte ich.

„Danke“, sagte er, nahm meine Hand und sah mir tief in die Augen.

Natürlich konnte ich die Hand nicht einfach so zurückziehen, obwohl ich ihm das falsche Signal gab, wenn ich es nicht tat. Der Ober war meine Rettung, als er das Essen brachte. Ich fühlte mich zunehmend unwohl, weil ich nun wusste, was Jürgen von mir wollte und gleichzeitig erkannte, dass es ganz und gar nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.

Er schien nichts von meinem Unbehagen zu spüren. Nach dem Essen bestellten wir noch einen Kaffee, danach ließ er sich die Rechnung geben und schlug vor, noch einen kleinen Spaziergang die Leopoldstraße hinunter zu machen. Ich steckte die Hände vorsorglich in die Taschen meiner Jacke. Die Luft war klar und kalt und der Himmel sah aus wie ein schwarzes Zelt, geschmückt mit winzigen Lichtern. Das Siegestor lag glänzend vor uns, umringt vom Verkehr der Abendschwärmer in ihren schicken Autos. Viele schwarze BMWs, dachte ich und ertappte mich dabei, dass ich Jürgens Monologen gar nicht mehr folgte. Ich beeilte mich, mit einer Kopfbewegung in seine Richtung zu reagieren und so zu tun, als wäre ich ganz Ohr.

Er lächelte mich an, ich lächelte zurück. Natürlich, denn das war höflich, oder nicht? Er nahm es jedoch als Einladung, den Arm um meine Schulter zu legen.

„Du siehst aus, als wär dir kalt“, erklärte er und rieb ein wenig meinen Oberarm.

„Eigentlich nicht“, sagte ich ehrlicherweise.

„Soll ich meinen Arm wieder wegnehmen?“, fragte er. Man hörte deutlich, dass er ein ‚Nein’ erwartete.

Ich hasste solche Situationen. Ich wollte mich weder zu etwas zwingen lassen noch wollte ich jemanden verletzen.

Ich machte eine undefinierbare Grimasse und sagte etwas, das klang wie „Ngh“.

Der Arm blieb, wo er war.

So schritten wir die Ludwigstraße in all ihrer Pracht hinunter. Ja, schreiten trifft das, was wir taten, ziemlich gut, denn ich versuchte, mich nicht an ihn zu lehnen und meine Hüfte möglichst nicht seine berühren zu lassen, was ein Kunststück ist, wenn der Oberkörper sozusagen von einem Fremd-Arm eingekesselt ist. Es war alles sehr unbequem.

Als wir endlich den Odeonsplatz erreichten, nutzte ich die Gelegenheit auszubüchsen.

„So, dann werde ich mir mal die nächste U-Bahn schnappen“, sagte ich und drehte mich dabei geschickt aus seinem Arm heraus.

„Schade“, sagte er.

„Ich muss morgen früh raus“, erklärte ich.

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte er direkt. „Morgen Abend?“

Ach du liebe Güte, dachte ich, der hatte es wirklich eilig. Ich hatte keine Lust, mir die ganzen nächsten Tage über Ausreden einfallen zu lassen.

„Morgen hab ich leider schon was vor“, hörte ich mich sagen.

Ein einfaches ‚Nein’ hätte es auch getan. Genau wie zuvor: Nein, ich möchte eigentlich nicht, dass du deinen Arm um meine Schulter legst. Und alles wäre klar gewesen. Ich musste das noch üben.

„Was hast du denn vor?“, fragte er doch tatsächlich. Hallo?! Ging ihn das etwas an?

„Ich ruf dich an, okay?“, sagte ich, ohne zu antworten. Älteste Strategie von allen: Fragen, die man nicht beantworten will, überhört man einfach.

„Okay“, sagte er und schien es zu kapieren.

„Also dann“, sagte ich und bevor er irgendetwas tun konnte, was ich nicht wollte, beugte ich mich vor und luftküsste ihn auf beide Wangen. Diese unverbindliche, pseudoherzliche Schicki-Micki-Begrüßungsart, die ich eigentlich verabscheute, war manchmal gar nicht so schlecht.

„Bis dann!“

Ich sah mich noch einmal zu ihm um, winkte und glitt dann auf der Rolltreppe nach unten. Vor lauter Verwirrung hatte er Gottseidank vergessen, dass er ja auch die U-Bahn nehmen musste, nur in die Gegenrichtung.

Ich meldete mich ein paar Tage lang nicht. Er hinterließ zwei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und ich sorgte dafür, dass ich erst zurückrief, als ich glaubhaft versichern konnte, dass ich für ein Treffen momentan leider keine Zeit hatte. Ich hatte viel beim Synchron zu tun – lauter Kleinkram –, ich wollte Edda besuchen und zu allem Überfluss kam demnächst endlich meine Freundin Johanna aus Australien zurück. Da war kein Platz für Jürgen. Er bedauerte es sehr, aber schließlich musste er auch schon wieder für die mündliche Prüfung lernen. Und so verlief diese Geschichte langsam im Sande. Ich fand es eigentlich schade, denn Jürgen war nett, ich verstand mich gut mit ihm, aber mit seinem Tempo konnte ich nicht mithalten und fühlte mich regelrecht davon abgestoßen. Außerdem wollten wir ganz offensichtlich ohnehin nicht dasselbe.

Also war ich wieder allein.

Das heißt, fast allein, denn Johanna würde bald wieder da sein oder vielmehr Jo, was viel besser zu ihr passte, denn man hatte bei ihr immer das Gefühl, sie könnte jederzeit einen Colt ziehen oder die Peitsche schwingen oder jemanden verprügeln. Jo war der impulsivste Mensch, den ich kannte, und wenn ihr etwas nicht passte, dann sagte sie es laut und deutlich. Im Gegensatz zu mir, konnte sie sehr gut „Nein“ sagen. Sie wirkte oft unfreundlich und barsch, aber man konnte mit ihr jede Menge Spaß haben und es war einfach ansteckend, wenn sie laut lachend den Kopf in den Nacken warf und dabei wild mit den Händen ruderte. Es war ihr völlig gleichgültig, was andere von ihr dachten, sie tat, was sie wollte und wann sie es wollte. Australien hatte auch dazugehört. Sie wollte eigentlich nur den Urlaub dort verbringen, doch dann kam eine Karte, auf der sie verkündete, dass sie erst einmal dort bleiben würde. Sie machte sich keine Gedanken darüber, wie sie über die Runden kam, sie fand immer irgendwelche Jobs, die Kenntnisse dreier abgebrochener Studiengänge (BWL, Soziologie und Psychologie) und zweier halb abgeschlossener Ausbildungen (Hotelfach und Schreiner) halfen ihr dabei. Jo war einzigartig und oft war man geneigt zu sagen: Gottseidank.

Jetzt kam sie also zurück. Ich erwartete, dass sie mich darum bitten würde, vorübergehend bei mir wohnen zu dürfen, doch sie schrieb, dass sie bereits eine Wohnung hätte. Ich war überrascht und fragte mich, wie sie das von Australien aus gemanagt hatte, aber ich war auch froh, dass ich auf diese Weise einer Überdosis Jo entging.

Eines Tages Ende April stand sie dann einfach vor meiner Tür. Zur Begrüßung umarmte sie mich stürmisch. Dann stellte sie sich vor mich hin, drehte sich und zeigte dabei ihre teuren Klamotten. Ein Markenteil über dem anderen.

„Tja, Australien hat sich gelohnt, wie man sieht“, lachte sie und schüttelte ihre wilde, dunkle Mähne, um die ich sie schon immer beneidet hatte.

„Los, mach dich schick!“, befahl sie und schob mich ins Bad. „Ich lad dich ein und erzähl dir dann alles.“

Ich war einigermaßen befremdet. Und enttäuscht. Ich wollte sie vom Flughafen abholen. Und war das Allererste, worüber man nach über einem Jahr reden musste, wirklich, welche tollen Kleider man sich leisten konnte? Was war das für ein Auftritt gewesen?

Und zu mir hatte sie gar nichts gesagt. Na ja, was sollte sie auch sagen? Ich trug immer noch die gleichen Levis wie im letzten Jahr und dass meine Haare jetzt schulterlang waren und es mir ganz gut stand, war auch kein großes Thema.

War ich empfindlich? Ich beschloss, mich zusammenzureißen. Immerhin war Jo, meine beste Freundin, wieder da, und ich hatte endlich wieder jemanden, dem ich alles, was mir so unter den Nägeln brannte, mitteilen konnte. Jemanden, der einfach zur Stelle war, wenn man ihn brauchte.

Dachte ich.

Schon drei Stunden später war ich ernüchtert. Und das, obwohl ich diverse von Jo spendierte Cocktails bei Schumann’s zu mir genommen hatte. Jawohl, Schumann’s, die berühmte Bar, der ultimative Nobelschuppen, darunter machte sie es nicht.

Sie erzählte ohne Punkt und Komma von ihrem Leben in Australien und von Marc, den sie dort unten kennengelernt hatte. Ein Unternehmer und Selfmade-Millionär, aber wirklich nicht spießig, wie sie mir versicherte. Er finanzierte ihr den Aufenthalt in München und natürlich würde sie schon bald wieder nach Australien zurückkehren. Oder vielleicht würde Marc auch für einige Zeit nach München kommen. Er hatte ja seine Leute, die sich um sein Unternehmen kümmerten. Was für ein Unternehmen das war, wusste sie nicht so genau, irgendwas mit Geldgeschäften, so lange hatte sie nun auch nicht BWL studiert. Hahahahaha.

Ich begann mich zu fragen, wo meine Freundin war. Jemand hatte sie gekidnappt und eine überdrehte Doppelgängerin zurückgeschickt. Eine schicke, die Mähne zurückwerfende, Kellnern zuzwinkernde Doppelgängerin.

Natürlich stellte sie auch ein paar Fragen: Wie es so lief mit der Schauspielerei. Oh, und übrigens, apropos Schauspieler, ich würde es ja nicht glauben, wen sie in Sydney getroffen habe: Mel Gibson. Ja, wirklich. Marc sei ja so ein guter Bekannter von Mel und er sei ja so was von witzig, also Mel. Ich fragte mich, wann die verdammten Cocktails endlich ihre Wirkung zeigten. Es war nicht auszuhalten.

Jo, die unglaubliche, laute, schrille, unangepasste, unabhängige, lustige Jo war verschwunden. Ich hasste Australien. Ich hasste Mel Gibson. Ich hasste Schumann’s. Ich hasste Finn.

Ich bedankte mich bei Jo für die Drinks und nahm meine Handtasche.

„ Ich muss gehen. Wir sehen uns, okay?“, sagte ich. Zum ersten Mal an diesem Abend sah ich in ihrer verwirrt gekräuselten Stirn die alte Jo, die Jo, die gleich sagen würde: ‚Hey, was soll denn das? Kannst du mir mal sagen, was los ist?’. Doch dann siegte die Doppelgängerin und die sagte gar nichts, sondern umarmte mich nur und lächelte ihr neues Doppelgängerinnen-Lächeln.

Ich ging zu Fuß nach Hause, lief durch die Stadt und versuchte durchzuatmen. Gab es irgendetwas in diesem Jahr, das nicht zum Kotzen war?

Am nächsten Tag besuchte ich Edda. Ich rief vorher kurz an und sie sagte, ich könne gerne vorbeikommen. Wir tranken Tee und sie erzählte wieder ihre Geschichten. Dann sah sie mich an und sagte: „Es gibt immer Zeiten, in denen man unglücklich ist und denkt, das geht nie vorbei. Aber dann ist es das doch irgendwann.“ Sie lächelte, dann überlegte sie kurz und sagte: „Oder vielleicht gewöhnt man sich einfach nur daran.“ Sie lachte und drückte mir die Hand. „Der Sommer kommt, Elsa“, rief sie. „Der Sommer!“

Der Sommer kam und ging. Jo war wieder in Australien bei ihrem Millionär. Jürgen hatte seine Prüfungen hinter sich, doch wir hatten keinen Kontakt mehr. S. Schulze lebte weiter in Finns Wohnung wie ein Fremdkörper und war weiterhin immer in Eile.

Ich führte viele tiefgründige Gespräche mit Alfred. Er war ein guter Zuhörer.

Eines Tages, als ich wieder einmal zu einem meiner kurzen, unbefriedigenden Synchrontermine, mit denen ich mich über Wasser hielt, ins Studio durfte, erlebte ich eine Überraschung. Im Nachbarstudio wurde gerade ein weiterer kommender Blockbuster aufgenommen, der dritte Teil einer bekannten Actionkomödie, der bereits sehnsüchtig von den Fans erwartet wurde und alle Rekorde an den Kinokassen sprengen würde. Hochkarätig besetzt natürlich, was die Schauspieler anging, und demnach auch, was deren Synchronsprecher betraf. Als ich an der Glastür zum Nachbarstudio vorbeiging und kurz einen neugierigen Blick hindurch warf, begegneten meine Augen denen von David. David Aigner, den ich seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Er sprang sofort auf, schoss durch die Tür und umarmte mich so stürmisch, dass ich fast keine Luft bekam.

„Elsa!“, rief er und drückte mir einen dicken Schmatz auf die Wange. „Wo hast du dich denn die ganze Zeit versteckt?“

„David, du bist eingerufen“, sagte eine Frau und streckte den Kopf durch die Tür.

„Die werden ja wohl mal eine Minute warten können, was?“, entgegnete er unwirsch.

„Bist du noch länger hier?“, fragte er mich. „Lass uns doch nachher in die Kantine gehen, ja?“

„Okay“, sagte ich.

„Wer früher fertig ist, wartet auf den anderen, okay?“

„Okay“, sagte ich wieder. Er gab mir noch einen Kuss, strahlte mich an und ging ins Studio, nachdem er durch die Sprechanlage noch einmal sehr dringlich dazu aufgefordert worden war.

Ich war natürlich zuerst fertig. Zwanzig Takes in zwei Stunden. Sechzig DM Komm-Gage, der Take a sechs DM. Mühsam ernährte sich das Eichhörnchen. Vielleicht sollte ich mir auch einen Millionär suchen.

Ich ging ins Studio nebenan und wartete auf der Couch im Sprecherzimmer. Durch die Anlage in der Regie konnte ich hören, was im Studio gesprochen wurde. David hatte wahrhaftig eine grandiose Stimme. Und er war ein ebenso grandioser Schauspieler, da saß jede Nuance. Mit ihm zusammen im Studio waren noch eine Frau, die ich sofort als Anna Fuchs erkannte – ebenfalls eine Ikone als Sprecherin – und ein Mann mit einer höheren Stimme.

Es war ein solcher Genuss zuzuhören. Da waren wirkliche Künstler am Werk. Man musste nicht erst das Bild sehen, um der Handlung folgen zu können. Die drei kreierten ihren eigenen akustischen Film und das allein war so spannend, dass man keine Bilder dazu brauchte. Würde ich jemals dahin kommen? Würde ich jemals so gut sein?

Schließlich sagte der Regisseur: „Danke alle zusammen. Das war’s für heute.“

Die Tür zum Studio ging auf und als Erste kam Anna Fuchs heraus, die mir einen kurzen, taxierenden Blick zuwarf. Sie kannte mich nicht. Wie auch? Ihr folgten David und ein kleiner, älterer Mann, die herumalberten.

„Oh, Elsa!“, sagte David sofort, als er mich sah. Dann stellte er mich als vielversprechendste junge Kollegin seit langem vor und erwähnte dabei unseren gemeinsamen Film.

„Und nein, Anna, nicht was du denkst“, sagte er. „Ganz und gar nicht.“ Anna Fuchs lachte und gab mir freundlich die Hand. Sie hatte mich offensichtlich zuerst für eine von Davids temporären Gespielinnen gehalten. Auch der ältere Schauspieler, Norbert Gernbacher, war sehr freundlich, gesellte sich in der Kantine noch zu uns und bestand darauf, uns einzuladen. David und ich tranken Wein, er selbst ein Weißbier. Sie erzählten von dem neuen Film und lachten sich dabei kaputt. Sie hatten ganz offensichtlich viel Spaß bei den Aufnahmen. Ich war ein wenig neidisch.

„Ich freu mich schon auf nächsten Monat“, sagte Norbert aufgeregt wie ein kleiner Junge.

David wiegte bedenklich den Kopf hin und her, aber Norbert sagte: „Was denn? Das wird groß. Und wenn nicht, werden wir zumindest eine gute Zeit haben, was?“ Er hob sein Glas und prostete David zu.

„Hoffentlich“, sagte David.

„Übrigens“, er zeigte mit dem Daumen auf mich, „hier sitzt unsere Briggs.“

Norbert riss verblüfft die Augen auf, dann lachte er schallend und prostete mir ebenfalls zu.

„Auf Briggs, die alle Ganoven zum Teufel jagt“, rief er laut. „Auf Elsa!“

Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wovon die beiden redeten.

„Ich weiß natürlich nicht, ob sie Lust dazu hat“, sagte David.

„Wozu denn?“, fragte ich. Norbert feixte.

„Ich fange nächsten Monat mit einer neuen Serie an“, erklärte David. „Meine erste Regiearbeit. Mir geht der Arsch auf Grundeis. Ziemlich große Sache. In den USA ist die Serie der Hit und läuft dort schon in der dritten Staffel. Wenn alles gut geht …“ Er holte tief Luft und sah mich bedeutungsschwer an.

„Und was soll ich …?“, fragte ich verständnislos.

„Die Serie heißt: Ein Fall für Briggs“, sagte David und hob die Augenbrauen. „Wenn du Lust und Zeit hast, bist du Briggs.“

„Ich bin Briggs?“, fragte ich und kapierte nicht einmal ansatzweise, was das bedeutete.

„Wir hatten verschiedene Probesprechen, aber bislang war keine Kandidatin ideal. Ich muss übrigens unbedingt daran denken, der Aufnahmeleiterin den Kopf abzureißen, weil du dabei niemals aufgetaucht bist. Aber gut, ich hätte auch selber daran denken können. Als ich dich heute gesehen hab, wusste ich auf einmal, wer unsere Briggs sein würde. Du bist perfekt. Du hast das richtige Alter, deine Stimme wird passen wie die Faust aufs Auge und du wirst es großartig machen.“

„Die Hauptfigur?“, fragte ich.

„Die Hauptfigur!“, sagte David. „Ich mach Regie und übernehme den Polizisten, der immer ein wenig mit Briggs konkurriert, aber eigentlich in sie verknallt ist. Briggs ist übrigens Privatdetektivin. Norbert hier spielt ihren Mentor, den sie immer zu Rate zieht. Ist eine echt coole Serie. Spannend, witzig, … romantisch manchmal.“

„Die Hauptfigur?“, hauchte ich noch einmal.

„Hey Elsa!“ Er rüttelte mich ein wenig an der Schulter und bei dieser Berührung brach ich in Tränen aus. Es kam einfach so über mich, ohne dass ich es hätte verhindern können. David zog mich an sich, legte seine Arme um mich und hielt mich fest. Ich machte die ganze Vorderseite seines Hemds nass. Norbert ging an die Bar und holte für uns alle neue Getränke.

„Oh, Gott“, sagte ich, als ich anfing, mich wieder in den Griff zu kriegen, „es tut mir leid. Ich bin eigentlich gar nicht so hysterisch.“

„Gute Schauspieler sind alle ein bisschen hysterisch“, sagte Norbert. „Was meinst du, wie viele Nervenzusammenbrüche in dieser Kantine schon stattgefunden haben? Erinnerst du dich an Elfriede Gasskühl?“, fragte er David. Der nickte heftig.

„Das war ein Auftritt, sag ich dir. Inklusive Gläserwerfen.“

„Oder Hans-Horst Elversleben“, warf David ein. „Kannst du dich an den erinnern? Als er seine Schreiattacke bekam und Martin Schnell fast eine gelangt hätte.“

Während ich mich beruhigte, kamen sie abwechselnd mit weiteren Geschichten daher. David behielt mich dabei im Arm und das tat mir gut.

„Geht’s wieder?“, fragte er schließlich. Ich nickte und nahm einen großen Schluck aus meinem neuen Glas.

„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist“, sagte ich. „Es ist nur alles in diesem Jahr so beschissen gelaufen und ich dachte schon, das ändert sich nie.“

„Na ja, ich kann dir nicht versprechen, dass jetzt alles ganz toll wird. Vielleicht bin ich als Regisseur ja die absolute Niete, aber zumindest wirst du ab nächstem Monat ziemlich viel Kohle machen.“

„Das klingt gut“, sagte ich und lachte.

„Und wir drei werden einen Heidenspaß haben“, fügte Norbert hinzu. „Garantiert.“

So war es. Der trübe November wurde der beste Monat im ganzen Jahr. David entpuppte sich als genialer Regisseur, was sonst, und Norbert, mein Mentor in der Serie, wurde auch in Wirklichkeit zu einem Mentor. Was er mir beibrachte, hatte mir noch niemand beigebracht, es war, als würde ich noch einmal Schauspielunterricht nehmen, nur diesmal intensiver und ganz auf mich zugeschnitten.

„Du solltest dein Talent nicht beim Synchron verschwenden“, sagte er eines Tages. „Du bist viel zu gut. Dein Gesicht braucht eine Kamera und dein Körper eine Bühne.“

„Eine Bühne?“, fragte ich lachend, denn ich erinnerte mich an die Theaterwerkstatt.

„Ja, Elsa“, sagte Norbert ernst und prophetisch. „Eine große Bühne.“

In all den Jahren

Подняться наверх