Читать книгу In all den Jahren - Barbara Leciejewski - Страница 7

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1992

„Frau Frank, bitte!“, sagte die freundliche, dunkelhaarige Sekretärin am Empfang und zeigte mit der Hand zu der blauen Tür, neben der ich saß.

Blaue Tür, roter Sessel, grüner Läufer, gelber Schreibtisch – man konnte nicht behaupten, dass das Vorzimmer der renommierten Theateragentur Kleinholz und Buchner farblos war.

Ich stand mit zitternden Knien auf, klopfte an die Tür und lauschte auf eine Antwort. Da ich nichts hörte, sah ich die Sekretärin fragend an.

„Sie können ruhig hineingehen“, munterte sie mich lächelnd auf.

Ich öffnete die Tür und war erstaunt, dass gleich dahinter eine zweite war. Eine Doppeltür, damit auch ja kein Laut nach außen drang.

Ich öffnete auch diese Tür und stand in einem hellen, vorwiegend beigen Raum, was nach dem Farbschock aus dem Vorzimmer ein wenig verblüffend war.

Ein Mann saß lässig auf einem Schreibtisch, ein zweiter korrekt und geschäftsmäßig dahinter.

„Grüß Gott“, sagte ich und hörte selbst, wie schüchtern das klang. Ich hatte eigentlich vorgehabt, selbstbewusst und offen aufzutreten, das hatte wohl noch nicht so ganz geklappt.

„Hallo“, sagte der Mann auf dem Schreibtisch mit einem Lächeln. Er kam auf mich zu und gab mir die Hand. Der Mann hinter dem Schreibtisch blieb, wo er war, doch zumindest stand er auf und streckte die Hand aus, sodass ich hinlaufen musste, um sie zu schütteln.

„Sie sind also Elsa Frank, die uns so sehr ans Herz gelegt wurde“, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. „Ich bin Andreas Kleinholz“, stellte er sich dann vor.

„Andreas Buchner“, sagte der andere, der etwas lockerer war, und bot mir mit einer Geste einen Platz an.

„Zwei Andreasse“, rutschte es mir heraus. Oh, Gott, Elsa! Sofort wurde ich rot ob der Peinlichkeit dieser überflüssigen Bemerkung.

„Ja“, sagte Buchner. „Wir wollten uns zuerst auch Andreas und Andreas nennen, aber dann dachten wir, das andere klänge seriöser.“ Er lächelte entwaffnend.

„Stimmt“, bestätigte ich kleinlaut.

„Also“, kam Kleinholz zum Punkt. „Sie wurden uns von Herrn Gernbacher wärmstens empfohlen. Sie haben eine Schauspielausbildung?“

„Ja“, ich kramte meine Mappe hervor und reichte sie ihm. „In Stuttgart an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst.“

Er warf einen kurzen Blick auf mein Diplom.

„Bühnenreifeprüfung“, sagte er und sah mich an. „Sind Sie bühnenreif?“

Ich war ein wenig überrumpelt von der Frage, immerhin hatte er den Beweis dafür vor sich liegen.

„Ich denke schon“, sagte ich verunsichert.

„Sie haben nicht viel Erfahrung“, stellte Kleinholz fest. „Wenige Engagements an kleinen Privattheatern, ein paar kleine Mini-Rollen im Fernsehen, Synchron , das ist nicht viel“, resümierte er knallhart.

„Nein, das ist nicht viel“, gab ich zu und weil ich sowieso schon alle Felle davon schwimmen sah, fügte ich hinzu: „Und das soll sich jetzt ändern, deswegen bin ich ja hier.“

Buchner lachte.

„1:0 für Frau Frank“, sagte er.

Kleinholz verzog keine Miene. Ich auch nicht.

Nach einem kurzen, stummen Kampf der Blicke schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte: „Also gut, dann legen Sie mal los. Was haben Sie uns denn mitgebracht?“

Hamlet“, sagte ich, ohne nachzudenken.

„Bitte?“, Kleinholz runzelte die Stirn.

„Ich bin letztes Jahr einem“, ich verzog unwillkürlich das Gesicht, als ob ich plötzlich unter Schmerzen litt, „einem Regisseur“, ich riss mich wieder zusammen, „begegnet, der Hamlet inszenieren wollte und beabsichtigte, alle Männerrollen mit Frauen und alle Frauenrollen mit Männern zu besetzen. Der große Monolog sollte ganz wegfallen. Zu abgedroschen, meinte er.“ Ich machte eine kleine Pause, doch keiner der beiden fiel mir ins Wort. „Seitdem hab ich den Monolog studiert. Nur den Monolog, nicht die ganze Rolle. Also, das ist der Hintergrund. Wenn Sie den Monolog hören wollen, kein Problem, aber ich hab natürlich auch Maria Stuart, Julia, Gretchen, Rosalinde aus Wie es euch gefällt …“

„Ja, Rosalinde, bitte“, sagte Kleinholz. „Welche Stelle?“

„Welche Sie wollen, ich hab die ganze Rosalinde drauf.“

„Im Ernst?“

„Ich lerne schnell und es bleibt lange in meinem Gedächtnis.“

„Okay, irgendwas“, sagte Kleinholz, während Buchner sich wieder auf der Schreibtischkante niederließ.

Ich wählte Rosalindes Rede an Phoebe und verwandelte mich in die als Mann verkleidete Frau, die sich, noch während sie dem Mädchen kräftig ins Gewissen redet, weil es rüde einen verliebten Schäfer abgewiesen hat, damit konfrontiert sieht, dass sie selbst plötzlich zum Objekt der Begierde Phoebes wird.

Es war eine komische Szene und ich benutzte die beiden Herren als Anspielpartner, wobei ich Buchner die Rolle Phoebes zudachte und Kleinholz, die des in Phoebe verliebten Schäfers.

„Oh, blöder Schäfer, warum folgt Ihr ihr?“, kostete ich weidlich aus und erntete prompt das Gelächter Buchners.

Am Ende klatschte Buchner in die Hände, doch ich hatte bereits mitbekommen, dass es Kleinholz war, den ich rumkriegen musste, und der saß da und verzog keine Miene.

„Ich möchte den Hamlet hören“, sagte er plötzlich.

Meinen Hamlet. Meinen Monolog.

Ich setzte mich hin und konzentrierte mich auf die größte Frage des Menschen: Sein oder nicht sein.

Ich vergaß die beiden, den beigen Raum, den Schreibtisch, alles und ich wurde so sehr eins mit dem Text, dass er aus mir herauskam, als wäre er erst in mir entstanden, in diesem Moment und als mein ureigener Konflikt. Ich endete mit „Still!“, dann hob ich den Kopf und sah Kleinholz ins Gesicht.

Was ich sah, war blanke Fassungslosigkeit. Er griff zum Telefonhörer, wählte eine Nummer und sagte: „Hallo, Georg, Andreas Kleinholz am Apparat. Ich schicke euch die Tage jemanden und wenn ihr klug seid, besetzt ihr sie.“ Er sagte noch ein paarmal „Ja, … ja, … ja …“ Dann legte er auf, tauschte mit Buchner einen Blick und sagte zu mir: „In Augsburg suchen sie eine Shen Te, weiß der Geier, warum die selber keine haben, aber sie haben nun mal keine. Ist nicht viel Zeit zum Textlernen, Anfang März geht’s los. Vorsprechen ist Formsache. Wenn ich sage, die ist gut, die passt, dann wird das auch was.“

Ich war sprachlos. Kleinholz stand auf.

„Haben Sie die nächsten Tage Zeit?“

Ich nickte, natürlich würde ich Zeit haben, außer es wäre gerade Weltuntergang.

„Ich mache den Termin in Augsburg aus und dann fahren wir da zusammen hin. Ich will sichergehen, dass die keinen Scheiß bauen.“ Er reichte mir die Hand. „Ich rufe Sie an.“

Ich legte wie betäubt meine Hand in seine, sagte, es sei okay und bis dann, und verließ das Zimmer. In der Farborgie außen kam ich wieder zu mir. Ich hatte mich in meinem Schockzustand nicht einmal von Buchner verabschiedet. Ich musste sofort Norbert anrufen. Ich sollte mir vielleicht so ein Handy leisten. Ich würde … auf der Bühne in Augsburg … Shen Te. Mir wurde schwindlig. Ich musste mich damit beruhigen, dass ich die Rolle ja noch gar nicht hatte. Ich konnte es immer noch vermasseln. Wahrscheinlich sogar. Typisch ich eben. Nein. Nicht typisch ich. Ich war gut gewesen. Ich war so gut gewesen. Und in Augsburg würde ich wieder gut sein. Ich würde sie alle umhauen.

‚Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss,

es muss ein guter da sein, muss, muss, muss.‘

Was soll ich sagen? Ich bekam die Rolle. Zum Vorsprechen hatte ich den Schlussmonolog vorbereitet und vorsichtshalber noch zwei weitere Stellen, eine, in der ich Shen Te spielte, und eine nach ihrer Verwandlung in Shui Ta. Dann stand ich allein auf der großen Bühne und wartete. Drei Männer steckten im Zuschauerraum die Köpfe zusammen, schließlich erhob sich einer und sagte: „Die Proben beginnen am 2. März. Wenn Sie mit nach oben kommen, können wir gleich den Vertrag machen.“

Kleinholz begleitete mich und drei Stunden später saß ich mit meinen beiden Agenten in ihrem beigen Büro und stieß auf mein Engagement an. Weitere zwei Stunden später tat ich das gleiche in der Kantine des Studios mit Norbert und David, die ich von meinem neuen Handy aus sofort angerufen hatte.

Die Zeit bis März wurde ganz schön hart für mich, denn ich hatte nicht nur jede Menge Text zu lernen, sondern musste auch noch die restlichen Aufnahmen der ersten Staffel als Briggs hinter mich bringen. Die Aufnahmen für die zweite Staffel waren erst für Mai geplant, sodass es perfekt zu meinen Theaterterminen passte, denn Premiere würde am 26. April sein.

Ich konnte mich an keine Zeit in meinem Berufsleben erinnern, in der ich ein komplettes halbes Jahr schon vorausgeplant hatte. Bisher hatte ich immer von Tag zu Tag gelebt, allenfalls von Woche zu Woche. Auch finanziell ging es mir nicht gerade schlecht. Mein Kühlschrank war bemerkenswert viel bunter bestückt als sonst. Und in meinem Kleiderschrank hing so manches Teil, das ich vorher im Schaufenster gelassen hätte. Zudem gönnte ich mir eine Lederjacke, die ich mir schon immer gewünscht hatte, und einen Friseurbesuch, der in einem erstaunlich pfiffigen Schnitt resultierte. Und in jeder freien Minute lernte ich Text.

An meinem Geburtstag, am 14. Februar, war ich im Studio. Ich hatte keinem Menschen gesagt, dass ich Geburtstag hatte, es war mir nicht so wichtig, sogar meine eigenen Eltern vergaßen gelegentlich zu gratulieren und mein Bruder schickte immer nur eine verrückte Karte. Ich würde mit Alfred, meinem treuen Freund, ein wenig feiern. Zu diesem Anlass hatte ich sogar mit meiner eisernen Regel gebrochen, Alkohol niemals alleine zu trinken, und mir eine Flasche Champagner besorgt. Immerhin wurde man nur einmal 29, im nächsten Jahr würde das Getränk viel bitterer schmecken.

Als wir im Studio fertig waren, lud mich David noch auf einen Sprung in die Kantine ein. Ich sagte zuerst, ich müsse noch lernen, aber er legte mir den Arm um die Schulter und sagte: „Nur ein halbes Stündchen, ist doch Freitag und morgen hast du alle Zeit der Welt.“

Ich ging also mit. Als wir in die Kantine kamen, gingen mir die Augen über: Da standen alle. Alle Beteiligten der Produktion inklusive Aufnahmeleiterin, Cutterin und Tonmeister, alle Sprecher und dazu eine riesige Geburtstagstorte und alle sangen laut: Happy Birthday. Unnötig zu sagen, dass mir sofort wieder die Tränen in die Augen traten. Ich hatte nicht das Geringste geahnt und ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie es herausgefunden hatten. Ich war so gerührt. Norbert kam auf mich zu und umarmte mich herzlich und David lachte schallend über die gelungene Überraschung. Später verriet mir Norbert, dass Buchner ihm den Tipp gegeben hatte, schließlich hatte er als mein Agent auch meine Daten.

„Na, die sind ja vertrauenswürdig“, rief ich in gespielter Empörung. Aus der halben Stunde wurden mehrere, sodass ich erst weit nach Mitternacht zu Hause war.

„Hallo Alfred“, sagte ich mit schwerer Zunge. „Wir trinken den Schampus ein andermal, okay?“ Dann fiel ich müde und glücklich ins Bett.

Das Theater hatte mir ein Zimmer in einer kleinen Pension reserviert, damit ich nicht täglich hin- und herfahren musste, was ich vor allem Alfred zuliebe trotzdem häufig tat.

Die Proben liefen großartig. Ich kam hervorragend mit allen Kollegen aus und auch der Regisseur war sehr angenehm und Gottseidank nicht annähernd so verrückt wie Markus Hansemann. Mein einziges Problem war das Singen. Es war zwar nicht nötig, dass man die Songs wie ein professioneller Sänger darbot, aber ich hatte den Anspruch, den Zuschauern zumindest keine Ohrenschmerzen zu bereiten. Ich bekam Extraproben für die Lieder und tat mich dabei mit Thomas Leithammer, dem Darsteller des Wang, zusammen. Gemeinsam übten wir und hörten uns gegenseitig zu. Beide waren wir nicht übermäßig begabt als Sänger, aber wir waren gute Schauspieler und gaben uns gegenseitig Tipps, wie wir unser mangelndes Gesangstalent kompensieren konnten. Ich spürte, wie ich täglich besser wurde. Es war das Befriedigendste, was ich je getan hatte.

Anfang April begann ich zum ersten Mal, an die Premiere zu denken. Von da an erlitt ich immer wieder mal Anfälle von plötzlichem Herzflattern. Oder wurde von einem unangenehmen Magenkribbeln geplagt. Immer wenn ich daran dachte. Von mir aus hätte man die Aufführung ja einfach ausfallen lassen können, doch ich behielt diesen Vorschlag tunlichst für mich.

Eines Tages, als ich von einer Samstagsprobe nach München zurückkam, stand ein kleiner Umzugswagen vor unserem Eingang. Zwei Männer packten, von S. Schulze dirigiert, Kisten hinein. Zog sie aus?

„Hallo, Frau Schulze“, sagte ich und beachtete diesmal ihre hektische Betriebsamkeit nicht. „Ziehen Sie um?“

„Tja“, sagte sie schnippisch. „Wenn der Vermieter Eigenbedarf anmeldet, kann man nichts machen.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und weg war sie. Ich folgte ihr ins Haus. Oben angekommen warf ich einen Blick durch die offene Tür der Nachbarwohnung. Da waren doch auch noch Finns Sachen drin. Was passierte denn mit denen, wenn der Eigentümer da einziehen wollte? Es gab mir einen Stich ins Herz. Jetzt würde also endgültig alles anders werden. Natürlich war Finn selbst schon längst nicht mehr da, aber zumindest seine Zeichensachen, sein Klavier, sein Holztisch, sein Bett, seine Bilder. Das würde jetzt alles auch verschwinden. Und dann war nichts mehr von ihm da.

Ich ging in meine eigene Wohnung und suchte Trost bei Alfred.

Merkwürdigerweise vertrieb dieses Ereignis mein Lampenfieber vor der Premiere. Ich konzentrierte mich noch mehr auf die Proben. Wäre Alfred nicht gewesen, ich wäre am liebsten vorerst gar nicht mehr nach München zurückgekehrt.

Die Premiere war an einem Sonntag und am Samstag davor war Generalprobe. Ich beschloss zumindest an diesem Wochenende, von Freitag bis Sonntag, in Augsburg zu bleiben. Ich hatte David gebeten, sich um Alfred zu kümmern und ihm nicht nur Wasser zu geben, sondern auch mit ihm zu reden. Als Dank dafür schenkte ich ihm und Norbert Premierenkarten, die Karten, die ich eigentlich für meine Eltern reserviert hatte, aber die konnten nicht kommen. Was für eine Überraschung!

Die beiden Andreasse dagegen wollten sich meine Premiere natürlich nicht entgehen lassen.

Die Generalprobe lief wie eine Generalprobe laufen sollte: schlecht. Nun ja, vielleicht lief es noch etwas schlechter als erwünscht. Es gab fast keinen, der nicht irgendwann einen gewaltigen Texthänger gehabt hätte. Ein Umbau klappte nicht, obwohl das Bühnenbild nun wirklich nicht allzu aufwendig war. Es herrschte überall große und leider auch spürbare Nervosität.

Mein Schlussmonolog klang wie heiße Luft, denn ich sah nur trübe Gesichter im Zuschauerraum, das gequälte unseres Regisseurs, Pavel Rainhard, das betretene seiner Assistentin und das zweifelnde des Intendanten. Verhaltener Applaus weniger Hände schickte uns in die Garderobe. Es war ernüchternd.

Pavel rief uns im Theaterfoyer zu einer letzten Kritik zusammen.

Wir warteten darauf, dass er uns zur Schnecke machen würde. Doch es kam anders.

„Wir müssen nicht darüber reden, was heute alles schiefgelaufen ist“, sagte er, „das wisst ihr selber. Aber ich möchte euch etwas erzählen, das ich erlebt habe, vor …“, er rechnete nach, „vor acht Jahren. Es war in Berlin in der Theatermanufaktur am Halleschen Ufer. Man gab Die Rundköpfe und die Spitzköpfe von Brecht. Eine großartige Aufführung. Fantastische Schauspieler, eine witzige Inszenierung und ein ganz einfaches Bühnenbild. Mit anderen Worten, fast wie bei uns.“

Er lächelte uns an und fuhr dann fort:

„In einer Szene mussten die Schauspieler einen Wagen über die Bühne ziehen. Ein einfacher Holzleiterwagen. Plötzlich brach die Achse, der Wagen ließ sich nicht mehr bewegen. Und was taten die Schauspieler? Sie bauten es ein. Ich weiß bis heute nicht, ob der Wagen tatsächlich kaputtging oder ob es eine Sollbruchstelle gab und das Ganze ein reiner Verfremdungseffekt war. Aber egal, was es war, es war der beste Moment des Abends. Ihr spielt Brecht und was immer passiert, ändert nichts am Stück oder an eurem Spiel. Nehmt, was ihr kriegen könnt, um die Zuschauer zu begeistern, sogar das, was schiefläuft. Genießt den Tag morgen. Ihr seid großartig.“

Mein Lampenfieber kehrte zurück, obwohl Pavel nichts hätte sagen können, das mich mehr motiviert und gleichzeitig beruhigt hätte. Aber Lampenfieber hatte nichts damit zu tun, ob man eigentlich beruhigt und vorbereitet war, ob man wusste, dass man gut war, ob man sich darauf freute, spielen zu dürfen. Es hatte mit gar nichts zu tun. Es war einfach da. Wie eine Krankheit, wie ein Pickel. Ich hatte keinen Hunger und gemeinsam mit Thomas, der ebenfalls wie ein Gespenst herumlief, zwang ich mich am Nachmittag, zumindest ein belegtes Brot in der Kantine zu essen. Danach ging ich noch kurz ins Hotel, versuchte das Kribbeln zu vertreiben, hatte das Gefühl, der Text wäre komplett weg, duschte, zog mich an, packte meine Premierenfeierklamotten ein, wünschte mir, ich sei tot oder nie geboren oder hätte etwas Vernünftiges gelernt, und begab mich zum Theater. So musste sich Marie Antoinette gefühlt haben, als man sie zur Guillotine führte.

Als ich aus dem Fenster meiner Garderobe schaute, sah ich all die vielen Leute in feinen Kleidern, die sich ganz entspannt auf die Aufführung freuten. Wie ich sie beneidete!

Es gab nicht viel für die Maskenbildnerin zu tun, nur meine Augen wurden so geschminkt, dass sie riesengroß wirkten, und auch die Garderobiere war praktisch arbeitslos, denn in die Latzhose, die ich trug, konnte ich problemlos selbst hineinschlüpfen. Um mich in Shui Ta zu verwandeln, brauchte ich nur ein Jackett, eine Brille und einen Hut dazu. All das war neben der Bühne platziert.

Als ich mich im Spiegel betrachtete, fing mein Herz stärker an zu klopfen als je zuvor.

Ich ging hinter die Bühne, wo ich Pavel und die anderen Darsteller traf. Wir bildeten einen großen Kreis, fassten uns alle an den Händen und konzentrierten uns ein paar Sekunden lang stumm. Dann sagte Pavel: „Und jetzt:“ Und wir alle sagten es: „Toi, toi, toi!“ Die magischen Worte. Ich fühlte ihre Kraft und nahm sie in mich auf. Jetzt war ich bereit.

Das Publikum war auf seinen Plätzen, das Licht im Saal ging aus und die Bühne wurde nur spärlich beleuchtet. Thomas betrat die Szene.

„Ich bin Wasserverkäufer hier in der Hauptstadt von Sezuan.“

Es hatte begonnen.

Die Götter kamen hinzu und suchten Unterschlupf und schließlich sagte Thomas als Wang die Worte, die mein Herz für einen kurzen Moment zum Aussetzen brachten: „Jetzt bleibt nur noch die Prostituierte Shen Te, die kann nicht nein sagen.“

Er rief „Shen Te!“ und Shen Te betrat zum ersten Mal die Bühne.

Nicht ich, sondern sie. Elsa war vergessen. Ich war Shen Te und dann war ich irgendwann Shui Ta, ich wollte ein guter Mensch sein und konnte es nicht. Ich war zerrissen in zwei Gestalten und keine davon trug den Namen Elsa. Und dann und wann war ich, wie der Dichter es verlangte, die Schauspielerin, die an der Natur ihres Spiels keinen Zweifel ließ. Wenn ich auf offener Bühne mein Haar zusammenband und mir den Hut aufsetzte. Wenn ich zwischendurch mit dem Publikum kokettierte und nach den Liedern auf Beifall wartete und mich verbeugte. Und natürlich am Schluss. Noch während ich meinen Monolog sprach, ging im Saal das Licht langsam an, wurde das Bühnenbild abgebaut und kamen die anderen Schauspieler, als würden sie zum Publikum gehören, und hörten mir zu.

Und trotzdem konnte ich die Spannung im Saal spüren, die ich allein mit meinen Worten hielt und die sich, als ich schließlich endete, in tosendem Applaus entlud.

Ich blieb stehen und die anderen gesellten sich in einer Reihe zu mir. Wir verbeugten uns wieder und wieder. Dann ging der Vorhang zu und der Einzelapplaus folgte, wobei ich als Letzte durch den Vorhang trat. Als ich das tat, glaubte ich, die Wand aus Beifall und Bravos würde mich umhauen. Ich vergaß für einen Moment, dass ich mich verbeugen sollte, und verwandelte mich in die unsichere Elsa zurück, die nicht fassen konnte, dass all das nur ihr galt. Das Publikum war so begeistert, dass es gar nicht gehen wollte und wir uns immer wieder verbeugen mussten, und jedes Mal, wenn ich vortrat, erhöhte sich der Geräuschpegel noch um ein Vielfaches.

Diesen Augenblick hätte ich für immer festhalten wollen und wäre dafür jeden Teufelspakt eingegangen.

Schließlich war es doch zu Ende. Der letzte Vorhang fiel. Auf dem Weg zur Garderobe warteten die ersten Gratulanten. Pavel umarmte mich und war fast zu Tränen gerührt. Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte er sich vorstellen können, dass es so gut wird, sagte er. Gut ja, aber so gut, so unglaublich, wahnsinnig gut. Auch die anderen Schauspieler gratulierten mir und versicherten mir immer wieder, wie großartig ich war. Als ich dann allein in meiner Garderobe stand, dachte ich, jetzt würde ich gleich aufwachen und zu Hause in meinem Couchbett liegen. Es war alles viel zu unwirklich und es konnte doch niemals mir passieren: mir, Elsa Frank, unscheinbares, unsicheres, verklemmtes Hascherl. Ich blickte in den Spiegel und sah eine hübsche Frau mit großen, glänzenden Augen und geröteten Wangen. Nichts an ihr sah aus wie ein Hascherl. Die neue Elsa Frank, dachte ich, die eigentliche Elsa Frank, der funkelnde Kern unter der farblosen Schale.

Die Tür ging auf und knallte gegen meinen Rücken.

„Oh, Tschuldigung, Elsa“, sagte die Garderobiere Martina und huschte mit ein paar Kostümen an mir vorbei. „Ziehst du dich rasch um? Ich muss das dann alles wegräumen. Und du willst doch auch zur Premierenfeier.“

„Ja, klar“, sagte ich und verwandelte mich zurück vom gefeierten Star der Vorstellung in ein kleines, gehorsames Mäuschen. Soviel zu der neuen Elsa.

Ich machte mich rasch frisch, legte ein wenig neues Makeup auf, kämmte meine Haare und zog das enge, schwarze Kleid an, das ich mir für diesen Anlass geleistet hatte. Zum Schluss zwängte ich meine Füße in die neuen High-Heels und überlegte sofort, wie lange ich sie wohl ertragen konnte. Meine restlichen Sachen packte ich in die große Tasche, die ich mitgebracht hatte, und bat Martina, sie beim Pförtner für mich zu hinterlegen.

Dann schnappte ich mir meine Handtasche und begab mich ins Foyer, wo die Feier stattfand. Als ich durch die Tür trat und man mich bemerkte, hob sofort wieder Applaus an und weil ich nicht mehr auf der Bühne stand und in meinen privaten Sachen war, machte mich diese Aufmerksamkeit von allen Seiten höchst verlegen, auch wenn ich natürlich unglaublich stolz war. Doch es half nichts. Überall streckten sich mir Hände entgegen. Plötzlich schlangen sich ein paar Arme um mich und ich fand mich an der Brust von Andreas Kleinholz wieder, den ich noch nie zuvor so enthusiastisch gesehen hatte. Auch Buchner nahm mich in den Arm, doch ich hielt Ausschau nach meinen Leuten, nach David und Norbert. Ganz hinten an einem Ecktisch entdeckte ich sie. Sie strahlten und klatschten wie alle anderen. Ich wollte gerade auf sie zu stürmen, als ich direkt neben ihnen noch jemanden sah, der mir applaudierte, ein breites Grinsen im Gesicht. Jetzt, dachte ich, verlier ich den Verstand, jetzt hab ich schon Halluzinationen. Doch die Halluzination kam geradewegs auf mich zu. Und zwei Sekunden später lagen Finn und ich uns in den Armen.

Es blieb zunächst keine Zeit, irgendwelche Fragen zu stellen, denn ständig war ich von Leuten umlagert, die mir gratulieren, mit mir über die Vorstellung reden oder mir einfach nur sagen wollten, dass ich die beste Shen Te war, die sie je gesehen hatten. Ich ging bei solchen Aussagen vorsichtshalber davon aus, dass diese Leute zumindest noch eine andere Shen Te kannten. Dann hielt der Intendant eine Rede. Es war keine dieser schwülstigen, nie enden wollenden, langweiligen Lobhudeleien, sondern eine äußerst amüsante Einlage, die zwar durchaus jede Menge Lob enthielt – sowohl für den Regisseur, als auch für das komplette Ensemble –, doch er verpackte es in witzige, kleine Pakete, auf jeden einzelnen der Erwähnten passgenau zugeschnürt. Es gab jedes Mal einen Lacher. Ich kam als Letzte an die Reihe und war nervös und gespannt, was er zu sagen hatte.

„Und jetzt, verehrte Gäste – es tut mir leid, aber jetzt muss ich ernst werden, denn ich stehe in Ehrfurcht vor so viel Talent, wie es in Elsa Frank schlummert. Mit unserer Shen Te haben wir einen Rohdiamanten in unser Haus bekommen, von dem ich inständig hoffe, dass es nie jemand wagen wird, ihn zu schleifen und ihm seine natürliche Schönheit und Strahlkraft zu nehmen. Ich kann an dieser Stelle, verzeihen Sie mir bitte diese Einfallslosigkeit, nichts anderes tun, als mich von ganzem Herzen dafür zu bedanken, dass Frau Frank uns mit diesem Talent und mit diesem Abend beschenkt hat.“

Wenn David nicht zufällig gerade wie ein Fels in der Brandung neben mir gestanden und den Arm um mich gelegt hätte, ich wäre wahrscheinlich umgekippt. Mit brennenden Wangen nahm ich erneut den Applaus entgegen, doch ich wollte mich lieber verkriechen. Dass ich das alles erleben durfte, konnte ich immer noch nicht fassen. Wie war das möglich? Ich war doch … nichts eigentlich. Jedenfalls sicher nichts Besonderes. Es fühlte sich so seltsam an, so als wäre gar nicht ich gemeint, als wäre alles eine große Verwechslung. Der Intendant war fertig mit seiner Rede und forderte alle dazu auf, den gelungenen Abend noch ausgiebig zu feiern. Ich setzte mich zu Finn, David und Norbert an den kleinen Ecktisch und hoffte darauf, ein wenig zur Ruhe zu kommen, als zwei Mädchen, Teenager, vielleicht vierzehn oder fünfzehn, zögernd mit einem Programm auf mich zukamen und schüchtern fragten, ob sie ein Autogramm haben könnten. Dabei hielten sie mir das Heft und einen Stift entgegen.

Ich starrte sie ein paar Sekunden lang an. Ein Autogramm? Ich? Weil ich mich nicht regte, nahm Finn das Programm entgegen und fragte die beiden Mädchen nach ihren Namen.

„Lisa“, sagte die eine und „Simone“, die andere.

„Also, Lisa und Simone“, sagte Finn, „ihr beiden bekommt jetzt etwas ganz Besonderes. Hebt es gut auf, denn irgendwann wird es sehr wertvoll sein und dann könnt ihr es teuer verkaufen.“

Dann drückte er mir den Stift in die Hand, schlug die erste Seite des Programmheftes auf, wo genügend Platz zum Schreiben war, und sagte: „Das allererste Autogramm von Elsa Frank.“

Die beiden Mädchen quietschten unterdrückt vor Aufregung, ich kam wieder zu mir und musste lachen. Ich schrieb: Für Lisa und Simone in Erinnerung an Elsa Frank. Klein und in Klammern dahinter: Hiermit erkläre ich, dass dies mein erstes offizielles Autogramm ist.

Ich gab den beiden das Heft und den Stift zurück. Sie bedankten sich und quietschten noch mehr. Es war herrlich.

Ein Kellner kam mit einem Tablett vorbei, auf dem Sektgläser standen, und David reichte jedem von uns eins.

„Auf unsere Elsa, Brecht hätte sie geliebt“, sagte er bombastisch und wir ließen die Gläser klingen. Ich platzte fast vor Neugierde und konnte es nicht erwarten, Finn endlich danach zu fragen, wie er hier so plötzlich hatte auftauchen können, doch ich hatte keine Chance. Als Nächstes wurden wir von den beiden Andreassen belagert, die wilde Pläne machten, wo ich künftig unterzubringen sei. Ein festes Engagement? Nur an einem großen Haus, besser Stückverträge an guten Häusern, vielleicht ein Tourneetheater, aber ein gutes. Mir brummte der Schädel und ich wollte eigentlich gar nichts davon hören. Nicht jetzt, nicht an diesem Abend.

Zum Glück verabschiedeten sich die beiden bald. Nach ihnen kam Pavel an unseren Tisch, redete über die Aufführung und fragte ganz nebenbei, ob ich Lust hätte, demnächst wieder etwas mit ihm zu machen. Er hätte da was im Auge, noch nicht ganz spruchreif, aber wir würden in Kontakt bleiben. Er würde sich melden.

„Klar“, sagte ich, „jederzeit.“ Ich war völlig erschöpft.

Ich kippte meinen Sekt hinunter und bekam sofort von irgendwem ein neues Glas vorgesetzt. Am liebsten hätte ich mich in eine Ecke gelegt und geschlafen.

Plötzlich stand Norbert auf und sagte: „Lasst uns hier verschwinden. Das wird jetzt alles ein bisschen viel.“ Er zog mich auf die Füße und ich folgte ihm willenlos, David und Finn hinterher. Nachdem wir beim Pförtner meine Sachen abgeholt hatten, gingen wir zu Davids neuem Kombi, der in einer Seitenstraße nahe dem Theater stand.

Ich wurde nach hinten verfrachtet, Norbert setzte sich neben mich, während Finn auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

Noch bevor ich meine drängenden Fragen stellen konnte, war ich eingeschlafen.

Ich wachte erst auf, als David vor unserem Haus den Motor abstellte.

„Da sind wir“, sagte er und drehte sich zu mir um. „Na, ausgeschlafen?“

„Sind wir zu Hause?“, fragte ich und sah mich dabei um.

„Wo denn sonst? Wir wollen doch in Ruhe noch ein bisschen feiern, oder?“

„Aber meine Wohnung ist nicht aufgeräumt“, protestierte ich.

„Deswegen gehen wir ja auch in meine“, sagte Finn und stieg aus.

„Du hast keine Wohnung mehr“, rief ich ihm aus dem Wagen hinterher. Norbert holte meine Sachen aus dem Kofferraum, während David mir die Tür aufhielt.

„S. Schulze ist ausgezogen, weil der Vermieter Eigenbedarf angemeldet hat“, erklärte ich.

„Stimmt“, sagte Finn.

„Na also, dann weißt du es ja“, sagte ich begriffsstutzig. „Wo wohnst du denn jetzt?“

„Elsa“, sagte David und zog mich zum Eingang. „Jetzt lass uns erst einmal hineingehen.“

Finn ging vor, Norbert kam mit meiner großen Tasche hinterher und David führte mich langsam die Treppe nach oben. Finn schloss seine Wohnung auf und machte eine einladende Geste. Als ich es immer noch nicht verstand, zeigte er auf das Schild an der Tür: McGregor.

„Ich bin der Vermieter und weil ich jetzt wieder in München bin, habe ich Eigenbedarf angemeldet.“

David schob mich hinein.

„Ich hoffe, du hast ein adäquates Getränk zu Hause“, sagte er zu Finn. „Und damit meine ich nicht Bier.“

„Ich hab noch eine Flasche Champagner drüben“, sagte ich, als ich meine Sprache wiedergefunden hatte.

„Dann hätten wir damit schon drei“, sagte Finn.

„Das sollte fürs Erste genügen“, meinte Norbert und machte es sich im Ohrensessel gemütlich.

Nachdem wir alle mit Gläsern versorgt waren und angestoßen hatten – auf mich natürlich –, wurde ich endlich meine Fragen an Finn los.

Was war mit New York? Wieso war er wieder in München und wie lange blieb er? Warum hatte er nicht Bescheid gesagt?

Erst als ich diese Frage gestellt hatte, wurde mir klar, dass sie irgendwie seltsam klang, denn so enge Freunde waren wir ja nun auch nicht gewesen. Gar keine richtigen Freunde eigentlich, nur Nachbarn. Außer, dass es sich immer so angefühlt hatte, als wären wir Freunde. Außerdem hatte ich seine Pflanzen gegossen und er hatte mir dafür den Kopf beim Kotzen gehalten, das verband natürlich.

Finn jedoch fand die Fragen nicht ungewöhnlich. Er hatte niemandem Bescheid gesagt, außer natürlich seiner Mutter und seinem Bruder, der das mit seiner Wohnung geregelt hatte. Zwei Tage vorher, also am Freitag, war er eingetroffen, hatte als Erstes an meiner Tür geklingelt, doch ich war ja nicht da gewesen. Dafür hatte er am Samstag David getroffen, der sich um meinen Alfred gekümmert und ihm bei dieser Gelegenheit erzählt hatte, was mir am nächsten Tag bevorstand.

„Ist doch klar, dass ich mir das ansehen wollte“, meinte Finn. „David hat dann noch eine zusätzliche Karte organisiert. Wir saßen übrigens in der ersten Reihe.“

Fast hätte ich mich an meinem Champagner verschluckt. Nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn ich die drei, vor allem Finn, zufällig gesehen hätte.

„Ja“, fügte David hinzu, „ich glaube, einmal hab ich sogar etwas Spucke von dir abbekommen.“

„Ihr Idioten!“, rief ich, als die drei lauthals lachten.

„Ich spucke nicht“, protestierte ich. Es entstand eine aberwitzige Debatte darüber, ob ich spuckte, wer von den anderen Schauspielern spuckte und dass Norbert grundsätzlich das Sprecherpult so einnässte, dass neben der Cutterin ein Handtuch bereit lag. Wir grölten vor Lachen.

Ich konnte mich irren, aber zwischendurch meinte ich, Frau Obermoser mit dem Besenstiel gegen die Decke poltern zu hören.

Als zwei Flaschen Champagner geleert waren, rief David für sich und Norbert ein Taxi.

„Gute Nacht, mein Schatz“, sagte David zu mir und gab mir einen Kuss auf den Mund. „Du bist eine Granate.“

Norbert nahm mich in den Arm, wie es mein Vater hätte tun sollen, wenn er da gewesen wäre. Er drückte mich an sich und flüsterte mir ins Ohr: „Ich bin so stolz auf dich. So, so stolz.“ Dann gab er mir einen Kuss auf die Wange und ging mit David die Treppe hinunter.

Finn und ich standen im Treppenhaus und sahen ihnen nach.

„Hast du nicht etwas von einer Flasche Champagner in deinem Kühlschrank gesagt?“, fragte Finn, bevor wir wieder an den Punkt kamen, an dem wir nicht wussten, wie es weitergehen sollte.

Da war es wieder, dieses breite Grinsen mit geschlossenem Mund, das ich so vermisst hatte. Ich grinste zurück, nickte und holte die Flasche aus dem Kühlschrank.

„Eigentlich wollte ich die mit Alfred trinken“, sagte ich, als ich mich zu ihm setzte und er einschenkte.

„Ist das dein Freund?“, fragte er direkt, aber ohne jeden Unterton in der Stimme.

„Alfred ist dein Farn“, sagte ich. „Ich hab ihn Alfred genannt, weil … einfach so halt. Ich unterhalte mich mit ihm und ohne Namen kann ich ihn ja nicht ansprechen.“

„Ach so“, sagte Finn. Er fläzte sich aufs Sofa und ich kuschelte mich mit angezogenen Knien in den riesigen Ohrensessel, in den ich zweimal reingepasst hätte.

„Außerdem, was wäre das für ein Freund, der sich heute Abend nicht hätte blicken lassen?“, gab ich zu bedenken.

„Stimmt“, pflichtete er mir bei. „Also, kein Freund?“

„Wieso willst du das wissen?“, fragte ich.

„Einfach so, weil ich was über dich erfahren will“, sagte er schlicht.

„Also gut“, sagte ich. „Nein. Ich habe keinen Freund. Es gab durchaus Interesse, aber der Interessent war mir etwas zu …“ Wie sollte man das ausdrücken?

„Zu?“

„Zu … interessiert.“

„Aha“, sagte er nur und bevor er weiterbohren konnte, fragte ich: „Und du? Freundin? In New York?“

Er nippte an seinem Glas und sagte: „Ja.“

Ich war baff. „Tatsächlich?“

Er sah mich an. „Wieso nicht?“

„Ja, klar, wieso nicht“, bestätigte ich rasch. „Und jetzt?“, hakte ich nach.

„Ich bin hier und sie ist dort“, sagte er.

„Es ist aus, oder was?“, fragte ich.

„Ja. Ich wollte wieder zurück“, sagte er.

„Sie hätte mitkommen können, oder?“, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf.

„Ich passe nicht in ihre Welt und sie nicht in meine.“

Er setzte sich auf und wurde nachdenklich.

„Ich hab nicht nach New York gepasst, weißt du? Es ist toll und alles, aber es ist nicht meine Welt. Das hier ist meine Welt.“

Ich verstand ihn. Es hatte keine Sekunde gegeben, in der ich ihn mir in dieser Riesenstadt hatte vorstellen können.

„Und jetzt?“, fragte ich. „Hast du ein gebrochenes Herz?“

Er lachte und meinte: Nein, jetzt sei es wieder heil. Dann lehnte er sich wieder zurück und legte bequem die Beine hoch.

Wir tranken schweigend unseren Champagner, doch es war nicht einen Moment lang unangenehm. Ich dachte an unsere erste gemeinsame Autofahrt und wie peinlich ich damals seine mangelnde Kommunikationsbereitschaft empfunden hatte. Ich musste lachen. Er fragte worüber und ich sagte es ihm. Er lachte auch und meinte, dass ihm so etwas nichts ausmachte und dass ihm fast nie irgendetwas peinlich sei.

„Das kann ich allerdings bestätigen“, sagte ich in Anspielung auf unsere erste Begegnung. Er schmunzelte.

Dann wollte er wissen, wie ich an die Rolle in Augsburg gekommen war. Ich erzählte davon, wie Norbert mich unermüdlich motiviert und mir schließlich ein Vorsprechen bei Kleinholz und Buchner besorgt hatte. Dabei erwähnte ich auch, wie es dazu gekommen war, dass ich den Hamlet-Monolog lernte.

„Markus Hansemann“, sagte ich mit vor Sarkasmus triefender Stimme, „den Namen wirst du dir merken müssen.“ Anschließend machte ich eine angewiderte Grimasse und schüttelte vehement den Kopf, um meiner wahren Meinung deutlich Ausdruck zu verleihen.

„Wer weiß?“, orakelte Finn. „Es gibt doch überall Leute, die mit ihrer Schrägheit und mit heißer Luft Karriere machen.“

„Ja, das stimmt“, gab ich zu, „aber die meisten von diesen Leuten haben zumindest gewaschene Haare und saubere Klamotten.“

Er hob sein Glas. „Auf Wasser und Seife!“, toastete er.

„Auf Wasser und Seife“, echote ich.

Es war mittlerweile fast drei Uhr Nachts und ich war kein bisschen müde. Finn schenkte unsere Gläser nach und erzählte von seiner Arbeit in New York. Von der SVA, der School of Visual Arts, und von dem Angebot, das er zwei Monate zuvor von Disney erhalten hatte, gerade, als er sich entschlossen hatte, zurückzugehen. Er hatte eine Riesenkarriere sausen lassen. Als ich ihn fragte, ob er das nicht bereute, schüttelte er den Kopf. Geld, Prestige, das bedeutete ihm nichts. Finn war mit ganzem Herzen Künstler. Er fand seine Befriedigung in ganz anderen Dingen.

„Als ich damals in deinem Gesicht gesehen habe, welchen Eindruck die Zeichnung von den Verliebten am Meer auf dich gemacht hat, als ich gesehen hab, dass dir schier die Worte gefehlt haben, da hab ich diese Befriedigung empfunden. Wenn ich einen einzelnen Menschen so berühren kann, dann ist das viel mehr als alles, was man mir dafür geben könnte.“

„Du hast das gemerkt?“, fragte ich gerührt.

„Natürlich“, sagte er.

Unsere Blicke trafen sich für Sekunden, verbanden sich und ließen sich wieder los.

„Und außerdem“, sagte er dann betont nüchtern und räkelte sich auf dem Sofa, „ich verdiene auch ohne Disney genug Kohle, ich kann mir diese coole Haltung leisten.“

„Ja, du bist ja sogar Wohnungsbesitzer“, sagte ich.

„Hausbesitzer, um genau zu sein“, ergänzte er.

„Wie bitte?“, rief ich aus. „Dir gehört das ganze Haus? Ich zahle meine Miete an dich?“

„An meinen Bruder und mich, genau genommen“, sagte er. „Wir haben das Haus von unserem Großvater geerbt.“

„Das ist ja …“ Ich wusste nicht, was es war. Doch dann stellte ich noch etwas fest: „Dann ist ja Frau Obermoser auch deine Mieterin. Eure Mieterin vielmehr.“

„Jaa“, grinste Finn. „Aber das weiß sie gar nicht.“

„Wieso weiß sie das nicht?“

„Du hast es doch auch nicht gewusst“, entgegnete er. „Aber lies mal deinen Mietvertrag, da steht klar und deutlich McGregor.“

„Das mach ich morgen“, sagte ich. „Woher kommt eigentlich der Name, das wollte ich dich schon immer fragen.“

„Mein Vater war Schotte. Ich bin in Schottland geboren, aber er ist gestorben, als ich ein Jahr alt war. Da ist meine Mutter mit ihren beiden Kindern wieder nach München gezogen. War einfacher für sie.“

„Ist dein Bruder viel älter?“

„Sechs Jahre. Und er ist viel vernünftiger als ich, kennt sich mit Geld und Darlehen aus und solchen Sachen. Ich glaub, er weiß sogar, wie die Börse funktioniert. Aber laut meiner Mutter sind wir wirklich Geschwister.“

„Wie heißt er?“

„Kevin. Heutzutage fällt der Name gar nicht mehr auf.“

„Kevin – Allein zu Haus?“, fragte ich amüsiert.

„Nein. Kevin hat Frau und Kind, wie sich das gehört.“

„Gehört sich das so?“, fragte ich.

„Für manche Menschen schon, für manche ist es einfach nur schön“, sagte er. „Muss aber nicht sein.“

„Nein, muss es nicht“, bestätigte ich.

„Und was ist mit deiner Familie?“, fragte Finn.

„Was soll mit meiner Familie sein?“, fragte ich ein wenig unwillig zurück.

„Sind die alle schon tot, leben sie auf einem anderen Planeten oder warum war heute keiner in Augsburg bei deiner Premiere.“

Ich schnaubte.

„Also? Tot anscheinend nicht, oder?“

„Ganz und gar nicht. Meine Eltern sind sehr lebendig. Lebenshungrig geradezu, da wird kein Fest ausgelassen. Außer Feste, die die Tochter betreffen. Oder den Sohn. Der ist genauso ins eigene Leben entlassen worden wie ich, nur dass er eine eigene Familie hat. Mit wechselnder Besetzung allerdings. Er war schon dreimal verheiratet und hat, wenn ich richtig gezählt hab, insgesamt vier Kinder. Mit der letzten Frau ist er noch zusammen. Glaub ich jedenfalls. Wir sind alle sehr eng, weißt du.“ Ich verdrehte die Augen.

„Mein Bruder ist übrigens auch sechs Jahre älter als ich. Ihm hab ich auch den Namen zu verdanken, weil er gerade eingeschult worden war und die Hauptpersonen in der Lesefibel waren seine Helden.“

„Hans, Heiner und Elsa?“ Finn schlug sich mit der flachen Hand an den Kopf. „Oh, mein Gott.“ Er lachte schallend.

„Nicht dass Elsa kein schöner Name ist, aber …“

„Aber es sollte bessere Gründe geben, sich für den Namen seines Neugeborenen zu entscheiden, richtig.“

„Elsa ist ein schöner Name“, betonte er.

„Es geht. Altbacken eben“, meinte ich.

„Jetzt kannst du ihn nicht mehr ändern, sonst ist dein erstes Autogramm nichts mehr wert“, erinnerte er mich.

Ich musste lächeln, als ich an die beiden aufgeregten Mädchen dachte.

„Ich kann’s noch immer nicht glauben, dass mir das alles passiert“, sagte ich. Ich leerte mein Glas und wir teilten uns den Rest der Flasche.

Ich stand auf und ging nach draußen auf die Dachterrasse. Es war atemberaubend. Man sah über die Dächer der Münchner Altstadt und, darüber wachend und hell erleuchtet, den Alten Peter und die Türme der Frauenkirche. Finn gesellte sich zu mir.

„Ich stand auf dem Empire State Building und hab diese Aussicht vermisst, weißt du?“, sagte er. Ich nickte.

Er sah mich an.

„Spielst du noch Saxophon?“, fragte ich.

„Klar!“, sagte er.

„Spielst du nochmal The Rose? Für mich?“

„Jetzt?“

„Du bist der Hausbesitzer und bevor jemand die Polizei verständigen kann, ist das Lied schon zu Ende.“

Er grinste breit, ging hinein und holte sein Saxophon.

Und dann spielte er über den Dächern von München The Rose – nur für mich.

An diesem Abend begann alles. Einfach alles. Mein neues Leben. Und vor allem die Freundschaft zwischen Finn und mir, obwohl der Grundstein dazu schon zwei Jahre zuvor gelegt worden war und es uns vorkam, als wären wir schon damals eng verbunden gewesen, auch wenn wir uns nur selten begegnet waren.

Es hatte im Übrigen tatsächlich jemand die Polizei verständigt, was vielleicht zu erwarten gewesen war, wenn man um drei Uhr morgens mitten in der Stadt im Freien auf einem Saxophon spielte, auch wenn man so gut spielte wie Finn.

Als sie eintraf, verschwand ich rasch in meiner eigenen Wohnung und hörte hinter dem Spion amüsiert, wie Finn von den beiden Polizisten eine Belehrung erhielt und Besserung gelobte.

Von diesem Tag an verbrachten wir fast jede freie Minute zusammen. Nicht dass wir viele freie Minuten gehabt hätten. Ich musste natürlich häufig nach Augsburg, hatte auch wieder jede Menge Studiotermine und Finn arbeitete sowieso ununterbrochen, wie ich feststellte. Aber wenn wir Zeit hatten, frühstückten wir zusammen, sahen uns am Abend gemeinsam Filme an oder gingen spazieren. Oder wir hingen einfach auf seiner Dachterrasse herum, redeten Blödsinn und lachten uns dabei tot. Jeder hatte den Wohnungsschlüssel des Anderen, geklingelt wurde eigentlich nur zur Ankündigung und diente vor allem Finn als Zeichen dafür, dass er sich schleunigst etwas anziehen sollte, falls er beim Malen gerade wieder einmal nackt war. Ihm wäre es ja egal gewesen, ob ich ihn so sah, aber mir nicht, auch wenn ich bereits alles wusste, was es da zu wissen gab.

Wir waren gern zusammen, hatten Spaß miteinander, konnten über alles reden, uns alles anvertrauen und wir verstanden uns auch ohne Worte.

Mehr war nicht zwischen uns.

Finn machte niemals irgendwelche Annäherungsversuche, niemals waren seine freundschaftlichen Berührungen missverständlich, niemals nutzte er die Situation aus, wenn wir, dicht nebeneinander auf das Sofa gekuschelt, einen spannenden Film ansahen und ich mein Gesicht in seiner Schulter verbarg, und ich genoss, dass es so war. Ich dachte nicht über meine Gefühle für Finn nach oder darüber, ob ich mehr gewollt hätte, denn ich hatte nie eine bessere Zeit gehabt und nie einen besseren Freund. Das wollte ich behalten. So sollte es bleiben.

Nur David machte manchmal Anspielungen und konnte scheinbar gar nicht glauben, dass wir nichts miteinander hatten, aber das war eben David.

In all den Jahren

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