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Maimonat 1860
ОглавлениеDie Abreise Wysslers verzögert sich um etliches. Zuerst sind dringende Schulden zu begleichen, sodass das von Schlatter vorgeschossene Geld bald nicht einmal mehr für den Umzug reicht. Jakob muss neues Geld auftreiben. Mehr als einmal kommt Notiz von Schlatter, es solle Bescheid gegeben werden, wann man übersiedle. Jakob antwortet nicht. Den ganzen Frühling über bangt er, ob der Umzug gelingt.
Als er gegen Ende Mai das Geld für die Reise beisammenhat, ist an eine Geiss nicht mehr zu denken. Es ist ein armseliges Zeug, was er auf dem Fuhrwerk zusammenzurrt, damit möchte keine Braut durchs Dorf fahren. Und trotzdem sieht Jakob nicht unzufrieden auf seine Ware, die doch immerhin ein Hausrat ist. Ein Tisch, das Bett, die Wäschetruhe, Körbe und Säcke ragen hoch über den Wagen hinaus. Verena und Jakob Wyssler und auch die zehnjährige Annelies laufen neben dem Fuhrwerk her. Die beiden Jüngsten sitzen hinten auf dem Karren und halten sich fest. Die Wege sind schlecht.
Es ist der 24. Mai, der Donnerstag vor Pfingsten. Sie übersiedeln viel später als erhofft.
Verena hat ihren Vetter Res zum letzten Mal gesehen, als sie ein Kind war, und sie hat ihn nicht gemocht. Dann aber ist Wyssler mit seinen Berichten gekommen, und er hat nur Gutes erzählt. Egal, was die Leute sagten, er könne nichts Ungerades finden am Schlatter. Ihr Mann ist ein Fantast und viel zu arglos, aber froh ist Verena doch, das elende Leben in Ursenbach hinter sich zu lassen. Sie freut sich auf eine eigene Stube und dass sie sogar einen Obergaden haben werden.
Inzwischen ist der Sommer im Anzug. Viel zu lange hat Schnee gelegen. Man begann, sich vor Überschwemmungen zu fürchten und auch, dass die Saat Schaden nehme. Jetzt aber steht alles prächtig, und die Bäume sind in voller Blüte. Das Maiwetter ist sonnig und warm.
Die Gegend um den Schafberg wirkt freundlich in der Frühlingssonne, wie die Verheissung von einem friedvollen Leben. Rund um die verstreut liegenden Höfe blühen unzählige Apfelbäume. Jakob sagt, sie werden fünf Obstbäume nutzen können und Pflanzland sowieso. Sogar die Jüngste, die immer wieder weint wegen des groben Gerüttels auf dem Wagen, spürt die Vorfreude, als das Fuhrwerk beim Altschloss die Höhe erreicht und in Richtung Schafberg wendet.
Nur eines bleibt, der Wyssler muss Arbeit finden, denkt Verena. Am Willen fehlt es ihm nicht, und auch als Schuster taugt er durchaus. Er ist nicht faul, nur verschafft sich Jakob keine Geltung. Ein anderer hätte längst etwas gefunden, auch wenn es viele sind, die Arbeit suchen. Es mangelt ihm an Entschlossenheit, und mehr als einer hat für erhaltenes Schuhwerk nie bezahlt. Aber wenn Verena sieht, wie gut der Jakob die Annelies mag, die doch nur seine Stieftochter ist, ist sie versöhnt. Es gibt nicht viele, die ein fremdes Kind bei sich behalten würden. Selbst wenn sie kaum über die Runden kommen und öfter hungrig bleiben, noch nie ist ihr Jakob damit gekommen, die Annelies zu verdingen.
Die letzten Meter müssen sie zu Fuss gehen. Der breite Weg endet vor einem abschüssigen Graben, den man auf einem schmalen Pfad durchquert. Direkt dahinter befindet sich das Haus. Die Tür ist zur Hälfte geöffnet, als sie sich über den Vorplatz nähern.
Schlatter Res erwartet sie in der Küche, stehend. Zögernd treten Wysslers ein. Schwer zu sagen, ob der säuerliche Geruch vom alten Mann oder von der Küche ausgeht. Es riecht nach abgestandener Fleischbeize und ranziger Milch. Die kleinen Kinder verstecken sich hinter Verenas Röcken, und Annelies bleibt in der Nähe der Tür. Verena hat kaum Erinnerungen, aber der Vetter ist alt geworden. Dabei ist er nur um wenige Jahre älter als sie selbst. Er mag auf die fünfzig zugehen, ist mager und bleich und scheint vor Erregung leise zu zittern. Dem finsteren Blick, mit dem er sie aus seinem aufgebracht und wirr wirkenden Gesicht anstarrt, kann sie nicht standhalten. Sie tritt zur Seite und ist froh, als Schlatter und ihr Mann die Küche verlassen, um nach den Pferden zu sehen und den Wagen abzuladen. Draussen herrscht Res ihren Mann an, der etwas Begütigendes erwidert. Nun ist sie froh um den nachgiebigen Charakter ihres Mannes, der sich lieber unterzieht, als Streit zu riskieren.
Verena sieht sich um. Es stinkt. Sie geht durch die Küche, an Schlatters Stubentür vorbei. Die Küche ist ekelhaft dreckig. Kessel und Pfannen, Herd, Tisch und Wände sind mit klebrigem Schmutz und Russ überzogen. In einer verbeulten Pfanne, halb voll mit Mus gefüllt, tummeln sich die Fliegen. Mit einer matten Armbewegung scheucht Verena sie fort. Fliegen hat es überall, aber jetzt im Mai schon so viele, der Herd ist übersät mit toten Insekten. Langsam betritt sie die Stube, wo Staub liegt. Wenigstens ist der Raum gross, etwas Sonne scheint herein und beleuchtet ein Quadrat auf dem Boden. Verena setzt sich auf den kalten Trittofen. Annelies kommt, die zwei kleinen Kinder vor sich hertreibend, herein.
«Sie haben vom Mus genommen», sagt Annelies.
Verena zuckt mit den Schultern. «Sieht man’s?»
Annelies schüttelt den Kopf. «Man muss die Küche putzen.»
Verena reagiert nicht, sondern schaut zu den beiden Kindern hinüber, die schüchtern bei der Tür stehen geblieben sind. Sie geht an den Kindern vorbei hinaus, um den Männern beim Abladen des Hausrats zu helfen. Je eher man den Kutscher entlässt, umso weniger muss man ihm geben. Annelies nimmt einen Reisbesen und macht sich daran, zuerst ihre neue Stube und dann die Küche zu fegen.
Danach lädt Schlatter die Neuangekommenen in seine Stube ein. Er wirkt besänftigt, auch wenn er sie nicht willkommen heisst, jedenfalls nicht mit Worten.
Befangen und steif sitzen Wysslers in seiner engen Stube um den Tisch. Das mittlere Kind drängt sich auf der Eckbank gegen die Mutter, und Annelies hält die Jüngste auf dem Schoss. Die Kleinen sind übermüdet von der langen Reise.
Bisher hat Schlatter nur mit Jakob gesprochen, ganz so, als ob die Frau und die Kinder nicht da wären oder als ob er mit deren Ankunft nicht gerechnet hätte. Verena ist deshalb überrascht, als Schlatter die erste Frage an das Mädchen, an die Annelies, richtet.
«Ihr werdet wohl im Gaden schlafen?», fragt Schlatter die Zehnjährige mit Blick auf das müde Kind auf deren Schoss. Annelies wagt nicht zu antworten, und auch die anderen Kinder sehen ihn nur lange und schüchtern an.
«Wir haben bloss ein Bett, das für die Stube. Der Schwager wird uns später eines überlassen, er will’s dann bringen», antwortet Wyssler für das Mädchen. Jakob weiss, dass im gemieteten Gaden ein Bett steht, das dem Schlatter gehört, wagt aber nicht, geradeheraus darum zu bitten.
«Es hat im Gaden ein Bett. Ihr könnt es brauchen, für diese Nacht», sagt Schlatter.
Annelies nickt, erhebt sich mit den beiden Kleinen und verschwindet, um die Kinder schlafen zu legen. Verena und Jakob sehen sich aus den Augenwinkeln an. So ist denn das gelöst, und Zudecken für die Kinder werden sich finden. Den ganzen Winter über mussten sie mit nur einem Bett ausgekommen. Es wird ihnen gut gehen hier.
Verena hätte einen Schluck Milch vertragen oder auch Schotte oder gar ein Glas Gebranntes, aber Res bietet ihnen nichts an. Stattdessen spricht er von ihren Effekten und dass er davon eine Liste erstellen wolle. Offenkundig haben die beiden Männer vorhin, als sie draussen beim Wagen waren, etwas besprochen wegen der Schulden, die sie beim Schlatter haben. Dann kommt Schlatter aufs Melken zu reden. Wyssler Verena soll das übernehmen, für zwei Mass Milch die Woche.
Verena nickt. Heute Abend schon will Res sie einweisen. Mehr wird nicht gesagt. Steif sitzen Wysslers am Tisch, und als das Schweigen fortdauert, erheben und bedanken sie sich und gehen hinüber in ihre eigene Stube.
So ist die erste Begegnung mit dem einsamen Sonderling recht günstig vonstattengegangen! Nur sei hier angemerkt, was namentlich auch Richter Ingold schon bald zu Ohren kam: Es führte der Schlatter Res wirklich eine höchst unreinliche und unordentliche Knabenwirtschaft! Dem Haushalt fehlte die Magd, die Wirtschaft lag im Argen. Zwar zahlte Res die Zinsen akkurat, indes liess er das Heim verkommen.
Kann man, die Frage sei gestattet, an einem solchen Orte beieinander friedvoll hausen ohne Zwist?
Es wird wenig gesagt, während Wyssler den Hausrat in ihre Wohnung trägt und Annelies und Verena die Küche putzen. Später hilft Verena Res im Stall und lässt sich erklären, wie sie fortan das Melken zu besorgen hat. Schlatter steht hinter ihr und beobachtet sie, während sie die Milch aus den Zitzen zieht und in den Kübel zwischen ihren Knien schäumen lässt.
Alles in allem, auch wenn der Schlatter nicht gerade freundlich war, so scheint er doch anständig, denkt Verena, als sie sich schliesslich abends in ihre neue Stube zurückzieht. Zu Annelies, die eifrig Wasser in die Küche geschleppt und geputzt hat, benahm er sich beinahe nett. Die Annelies hat ihre Scheu vor dem alten Mann am schnellsten verloren, die beiden scheinen sich gewogen. Nur als sie sich daranmachte, Holz in die Küche zu bringen, hat Schlatter sie unerwartet grob angeherrscht, er wolle das selber besorgen. Niemand hat begriffen warum, aber Annelies liess sich von seiner heftigen Art nicht beeindrucken.
Mit Erleichterung schlüpft Verena unter die Laken zu ihrem Mann, hungrig zwar, aber voller Zuversicht. Umso mehr, als sie seit ein paar Tagen weiss, dass sie in Hoffnung ist. Mit einundvierzig muss es das Letzte sein, der Wyssler soll sie fortan in Ruhe lassen. Gottlob kann sie dem Kind, das unterwegs ist, nun ein Heim bieten. Die Wiege wird in der Stube stehen, wo die Eltern schlafen. Die anderen Kinder können sich das Bett im Gaden teilen. Mit der Milch von Schlatters Kühen, der Ernte aus der Pflanzung und den vielen Äpfeln werden sie gut über die Runden kommen. Wyssler wird Arbeit finden, und was er dann noch verdient, kann man zur Seite legen für nötige Anschaffungen. Warme Decken für die Kinder, bevor der nächste Winter kommt, und bessere Kleider.
Der erste Morgen auf dem Schafberg beginnt bös. Schwaches Tageslicht dringt durch die Fenster in die Stube, es mag fünf Uhr in der Früh sein, als Verena erwacht. Schlatter geht in Holzböden in seiner Stube umher. Er murmelt leise vor sich hin. Manchmal wird er etwas lauter, und ab und zu klingt es nach Gesang. Noch ohne richtig wach zu sein, weiss Verena, dass es ein Fehler war, hierherzukommen. Alle haben sie vor Res gewarnt. Was für ein unheimlicher Mann, wenn er nur den Kindern nichts antut. Sie hat den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als es im Gaden über ihr rumpelt und die Jüngste durch das Bodenloch überm Ofen gestrauchelt kommt.
Das erst zweijährige Kind ist mit Hunger aufgewacht und will durch das Loch zu den Eltern in die Stube hinunterklettern. Dabei rutscht es aus, und Verena sieht zu, wie das Mädchen auf den Ofen fällt und von dort aus auf den Stubenboden. Augenblicklich ist sie auf den Beinen. Das Kind schreit, es blutet. Verena packt es und hastet in die Küche, das Kind am Arm wimmert, aber Verena findet sich in der finsteren Küche nicht zurecht. Alles, was sie angreift, fühlt sich klebrig an, vielleicht wegen des Bluts der Kleinen. Da öffnet sich Schlatters Tür. Er hat in seiner Stube Licht.
Sie legt das Kind auf Schlatters Ofenbank, während er ihr zündet. Die Kleine hat eine Platzwunde am Kopf, klammert sich an Verena und weint. Endlich kommt Jakob, er bringt Wasser und bettet das Kind auf seinen Schoss. Es ist Jakob, der das Kind beruhigen kann, während Verena die Wunde mit Wasser reinigt und schliesslich den Kopf mit einem Stück Tuch von Schlatter verbindet.
Jakob wiegt weiter beruhigend das Kind, während Verena sich erschöpft an Schlatters Tisch setzt. Die dumpfe Angst vor Res beim Aufwachen – jetzt war sie froh um ihn. So langsam kommt Verena zu sich. Was für ein schlechter Anfang auf dem Schafberg, dieser Sturz, wenn nur dem Kind nichts bleibt. Plötzlich bemerkt Verena die aufgeschlagene Bibel, die auf dem Tisch liegt, und sie begreift. Res hat gebetet. Sein Gemurmel vorhin, es waren Gebete. Der alte Mann hält morgens Andacht. Sie hat gemeint, er spreche mit sich selbst. Sich um den Herrgott zu kümmern, ist nichts Schlechtes. Man weiss, Res ist ein Stündeler. Die Stündeler mag niemand, schon gar nicht solche, die anderen Vorschriften machen. Aber ihr gilt es eigentlich dasselbe, ob einer nun in der Kirche betet oder zur Versammlung geht. Und ein bisschen mehr an den Herrgott zu denken, schadet nicht, auch ihr nicht und den Kindern.
Das Mädchen ist vom Weinen müde geworden. Unter nassen Wimpern hält es die Augen geschlossen und reibt das feuchte Näschen an Jakob, der es nun in ihre Stube zurückträgt. Res zieht sich indessen den Tschopen an und geht ins Tenn, Verena folgt ihm mit dem Melkkübel. Um den Stall zu öffnen, muss Res durch die Futterlöcher hindurch eine Latte lösen. Auf den Zehenspitzen seiner mageren Beine stehend, beugt er sich weit nach vorne, auf zitternden und verkrampften Gliedern. Verena fürchtet jeden Moment, dass er kopfüber in die Krippe fällt. Bei solchen Verrenkungen kann sie ihm nicht helfen, anfassen will sie ihn lieber nicht.
Res wartet einen knappen Schritt hinter Verena auf die Milch. Sie stemmt ihre Stirne gegen den warmen Kuhbauch und versucht, ihn zu vergessen, während sie ruhig den Milchstrahl abwechslungsweise von links und von rechts in den Kübel lenkt.
Res, überlegt sie, der etwas älter ist als sie, lernte den Hunger gewiss schon in der Wiege kennen. Im Jahre 1816, erzählt man sich doch, war die Not der Leute besonders schlimm. Die Ernten blieben gänzlich aus, die Menschen assen Gras statt Brot. Res’ Geiz wird dannzumal entstanden sein, wie auch sein sonderbares Wesen. Er wird für alle Zeiten den Hunger im Bauch behalten haben.
Auch später war Res ein ausgesprochen magerer Bub von ungesunder Farbe. Zudem bewegte sich der Vetter seltsam steif und war sehr langsam im Begreifen, erinnert sich Verena. Ob sein Gehör schon damals schlecht war? Die Natur habe Schwächen in ihm angelegt, darunter einen Groll auf alle und den Jähzorn, hiess es von Res. Jedenfalls war der alte Schlatter nicht glücklich über seinen Sohn. Dass Res die Schule ordentlich besuchte und lesen und schreiben lernte, verdankt er seiner Mutter.
Res wuchs gewiss freudlos und abgesondert auf. Dass er darüber etwas komisch wurde, verwundert nicht. Ob es wohl stimmt, dass er bisweilen anderen unzugängliche Dinge hört und sieht? Auch das sagte man von ihm.
Kaum ist Verena mit Melken fertig, wird ihr der Kessel von Res entrissen. Im Schopf verteilt er die Milch auf eine Bränte für die Käserei und einen grossen Krug.
Ein leeres Glas in der Hand kommt Jakob dazu und berichtet, die Kleine sei eingeschlafen. Während Schlatter Res noch mit Umschütten beschäftigt ist, taucht Jakob sein Glas in die Milch und trinkt es gierig leer. Auch Verena hat seit ihrer Ankunft nichts gegessen und würde es gerne ihrem Mann gleichtun. Als sie aber Schlatters Gesicht sieht, lässt sie es bleiben.
Hastig hievt sich dieser die Bränte auf den Rücken und verschwindet, in den Händen den Krug, an den Schultern die Bränte, im Keller. Die schwere Käsereimilch trägt Res somit die Treppe hinunter und wieder hoch. Verena und Jakob sehen sich an. Er will nichts bei ihnen stehen lassen ohne seine Aufsicht.
«Hast du den Verstand verloren? Dich einfach so zu bedienen?», fragt Verena Jakob, «du hättest fragen müssen. Es ist seine Milch.»
«Aber gemolken hast bereits zweimal du. Die Abrede ist, dass wir dafür Milch kriegen. Er kann ja das Glas abziehen von den zwei Mass Milch für uns.»
«Er wollte die Milch messen, bevor du nimmst. Noch draussen, halb im Stall, zugreifen. Das gehört sich nicht. Nicht vor ihm. Hättest warten können.»
«Du kannst dir ja vorstellen, dass ich Hunger habe.»
Verena nickt. Sie kehrt ins Haus zurück und ruft nach Annelies, die sich noch nicht aus der Stube gewagt hat. Das Mädchen soll Feuer machen. Später muss Jakob dürre Äste aus Schlatters Wald holen, damit sie eigenes Holz haben. Res wird wohl nichts dagegen haben, dass sie vorläufig die nötigen Scheiter von seiner Beige nimmt. Schliesslich kommt ihm die Glut im Ofen zugute, wenn er von der Käserei zurückkehrt und frühstücken will. Verena geht hinaus zum Brunnen, um den Melkkübel zu waschen.
Einige Tage später arbeitet Res auf der Bühne über dem Stall. Es muss hier Ordnung geschaffen werden, bevor das warme Wetter beginnt und es plötzlich losgeht mit Heuen. Res schiebt getrocknetes Gras vom vorigen Winter vor die Futterlöcher. Heu und Emd, beides ist noch vorhanden, dabei hat er sich bis vor Kurzem Sorgen gemacht, das Futter werde knapp.
Mit dem Vater hat er darüber früher manchen Wortwechsel gehabt. Der Vater gab den Tieren viel zu viel, mehr als sie fressen mochten. Beständig waren sie deshalb hintereinander her. Dabei weiss man nie, ob es auch im nächsten Sommer genug Heu einzufahren gibt. Manch einer war schon froh um altes Heu, auch wenn es nicht mehr duftet. Der Mensch soll mit Gottes Gaben sorgsam umgehen, das gilt doch auch fürs Gras.
Dem Wyssler hat er Futter versprochen für zwei Ziegen, nur wann die Geissen kommen, weiss man nicht. Sobald Res an das vorgeschossene Geld denkt, wird er wütend. Das Geld ist weg, und Geissen sind doch keine da. Die Wysslers haben es sich wohl gut gehen lassen mit seinem Geld. Brot, Fleisch, Kaffee, Res will sich nicht ausmalen, was sie damit angestellt haben. Wenigstens hat er nun von Wysslers Effekten eine Liste, auch wenn sie nur armseliges Zeug besitzen. Laut Akkord hat Wyssler seinen Hausrat für die Schulden als Garantie gegeben. Von was die Wysslers leben wollen? Solche Hungerleider im Haus zu haben gefällt Res nicht.
Wenn einer in Armut absackt wie der Wyssler, dann niemals ohne eigenes Verschulden. Wie eine Krankheit wuchert das Elend in solchen Familien und verdirbt die Menschen. Obschon der Wyssler vermutlich kein schlechter Mensch ist. Aber er lebt in grossem Elend, von dort ist es zum Diebstahl kein weiter Weg, auch nicht zur Trunksucht. Res denkt, dass die Frau dem Wyssler schadet. Zwar haben alle brav gearbeitet, seit sie auf dem Schafberg sind, auch die Frau. Aber Res spürt, Verena wird aufbegehren früher oder später, sie sieht nicht aus wie eine, die von sich aus gern entsagt. Zu gierig blickt sie nach seinem Anken, als ob sie ihn darum bitten wollte und es doch nicht wagt. Den kleinen Kindern hat sie den masslosen Blick bereits vererbt. Mit dem sehen sie ihn an, wenn er Milch trinkt.
Res muss husten. Das staubige Heu kratzt im Hals und brennt in den Augen. Seine eigenen Ersparnisse wird er in Zukunft gut bewachen müssen.
Auf dem Heuboden verteilt liegen noch einige Halme, die Res nun liegen lässt. Über die Leiter steigt er hinab ins Tenn.
Gewiss stand auch damals auf der Reite, dem Korngarbenboden überm Tenn, das Bodenloch gefährlich offen!
Der Krähenbühl, Knecht bei Haldimann, hat Richter Ingold zugetragen, was er vom Grunder Hans, Knecht in der Multenweid bei Salzmann, weiss, welchem es die Jungfrau Steiner berichtet hat: Der Schlatter halte das Reiteloch absichtlich offen, das sei den Schelmen so gebeizt. Als die Elisabeth Steiner nämlich einmal auf dem Schafberg auf die Bühne ging, habe Schlatter zu ihr bemerkt, sie solle sich in Acht nehmen, das Reiteloch sei offen. Sie habe damals im Sommer geholfen, die Hühner in den Stall zu jagen, und sei deswegen auf die Bühne gegangen. Der Schlatter besitze zehn à elf Hühner, erzählte Jungfrau Steiner, und glaube immer, wenn nur ein Huhn über die Bühne gehe, es seien Schelme oben: Denen zur Überraschung stehe das Reiteloch weit offen.
Am Pfingstabend sitzt Verena mit dem Rücken an die Holzwand gelehnt in der halbdunklen Küche. Von draussen hört sie Res’ Schritte, er nähert sich dem Haus. Res war wohl bei seinem Betkreis, er kommt in sonntäglicher Besinnlichkeit zurück, ganz versunken und nachdenklich schlüpft er in die Holzbodenfinken.
Res betritt die Küche und geht an Verena vorbei direkt in seine Kammer. Wenig später ist er zurück, doch scheint er Verena noch immer nicht bemerkt zu haben. In sich gekehrt, schlurft er ruhig zum Herd. Dort steht seit dem Morgen, seit Res das Haus überhastet verlassen hat, ein Topf mit gesottenem Anken. Es geschieht selten, dass Res etwas vergisst. Alles sperrt er sofort weg, in seinen Schaft, in den Speichergaden, in die Kammer, in den Keller.
Verena hat den Topf nicht angerührt. Niemand hat ihn angerührt. Verena auf ihrem Fensterplatz macht sich bemerkbar, sie will aufstehen.
«Masshalten wird vom Herrgott belohnt und nicht das Nehmen. Nehmen von dem, was einem nicht gehört», sagt Res laut vor sich hin. «Aber ihr habt heute wohl einen Festsonntag gehalten.»
Wortlos verlässt Verena die Küche, in der Kammer lehnt sie sich gegen den kalten Ofen. Keine Messerspitze Anken hat sie dem Topf entnommen. Inzwischen poltert Res draussen wie gewohnt herum. Aber dann zu den Stündelern rennen, deren Gebet ja gerade einmal für den Heimweg reicht und bis in die Kammer.
Verena Wyssler keucht den Hang hinauf. Annelies muss sich mässigen, um nicht davonzuziehen, ständig um Schritte voraus. Früher war die Mutter füllig und weich, in den Jahren, als Annelies noch auf ihren Schoss kroch. Stämmig ist die Mutter immer noch, aber seit dem letzten Winter ist sie mager geworden um ihre groben Knochen. Nun bleibt sie stehen, fächelt sich Luft in den Ausschnitt, räuspert von tief unten Schleim weg und sieht nochmals den Hang hoch.
Auch wenn ihr der Aufstieg beschwerlich fällt, die Mutter ist froh, das Haus zu verlassen.
Oben am Grat zeichnet sich die Silhouette eines Mannes ab, der sie beobachtet. Verena wendet sich wieder dem Berg zu und stapft los, Annelies folgt. Mutters Waden, die unter dem hochgeschürzten Rock hervorblitzen, sind drahtig und überzogen von einem Netz feiner roter Adern. Der Mann ist wohl einer von Salzmanns Knechten. Salzmann heisst der Bauer in der Multenweid, ein Nachbar.
Seit den heftigen Gewittern an Pfingsten ist es wieder kühl und nass geworden. Als sie auf dem Grat ankommen, grüssen sie den Mann.
«Das war ein steiler Hang», meint die Mutter und setzt sich, indem sie dem Fremden zulächelt, ins feuchte Gras. Aus den Augenwinkeln bemerkt Annelies, dass sie Anstalten macht, sich hinzulegen. Sie lässt es aber bleiben, sitzt nur nach hinten auf die Arme gelehnt schwer atmend da. Unbehaglich bleibt Annelies stehen. Schon, weil sie nicht, was die Mutter nicht zu stören scheint, den restlichen Weg mit einem feuchten Rock zurücklegen will.
Nach einer Weile sagt die Mutter, sie hätten unten bei Schlatter Quartier bezogen. Sie deutet in Richtung Haus, in dem sie jetzt wohnen. Der Mann nickt.
«Grunder Hans», sagt er schliesslich.
Als die Mutter wieder zu Atem gekommen ist, setzt sie sich gerade hin und blickt sich um. Plötzlich beginnt sie zu kichern, zuerst leise glucksend, dann immer offener, unbekümmert. Annelies kann nicht feststellen, worüber sie lacht. Der Mann bleibt gleichfalls ungerührt. Annelies schämt sich. In den Mundwinkeln der Mutter zeigen sich ihre Zähne, wie bei den Lefzen eines Hunds. Nun streicht sie sich den Rock glatt und schaut dem Knecht gerade ins Gesicht, der sofort wegsieht. So benimmt sich die Mutter, wenn sie sich beliebt machen will. Annelies stellt sich weiter abseits hin.
Auf der gegenüberliegenden Talseite zieht eine Kuhherde zur Tränke, einzelne Tiere bewegen sich gemächlich, andere schnell. Der Mann scheint die beiden Frauen vergessen zu haben, er blickt den Kühen nach.
Als das Gelächter geendet hat, beginnt die Mutter Fragen zu stellen. Sie will Auskunft über Felder und Tiere und wem diese gehören. Der Mann bleibt wortscheu, seine Antworten kommen zögerlich. Wenn sich die Mutter nur stillhalten würde, statt sich ungehörig anzubiedern bei fremden Leuten.
«Wo wollt ihr hin?», fragt Grunder schliesslich.
«Wir gehen um Saatkartoffeln, die Schwester in Röthenbach will uns geben, was sie noch hat.»
«Kartoffeln wollt ihr setzen?» Annelies weiss, was Grunder meint. Bald Brachmonat und die Erdäpfel noch nicht im Boden.
«Wir sind halt jetzt erst umgezogen», erklärt die Mutter.
Grunder sagt nichts, und eine Weile lang schweigen alle. Annelies hat sich sowieso kaum gerührt und nichts gesprochen. Sie betrachtet den Weg vor sich. Endlich verabschiedet sich der Knecht mit einem knappen Gruss.
Vielleicht ist es gar nicht Mutters Art. Vielleicht verstellen sich die anderen, wenn sie sich so bedächtig und gemessen geben. Vielleicht ist dieser Knecht ein bigotter Stündeler, so wie man es von Schlatter sagt. Sie selbst mag es eigentlich, wenn die Mutter lacht, ob es nun einen Grund gibt oder nicht. Aber viele Leute mögen es nicht, das war schon immer so. Und die Mutter hört nicht auf, wenn keiner einstimmt.
Der Knecht hat rechtschaffen gewirkt. Wie man sein sollte, denkt Annelies, wie man wohl sein sollte und wie die Mutter es nicht ist.
«Was denkst du, ist Salzmanns Knecht auch ein Stündeler?», fragt sie später die Mutter, als sie weitergehen. Verena bleibt stehen, überrascht zuerst und dann entrüstet. Nur weil einer nicht lärmt und angibt, weil einer ein ernsthafter Mensch ist, erwidert sie und weist die Tochter zurecht. Die Mutter redet sich richtiggehend ausser Atem, während sie alle Frommen und Pflichtgetreuen verteidigt und die Tochter ermahnt. Dass sie selbst den anderen manchmal als anstössig gilt, weil sie so unbekümmert und mit einem nassen Abdruck auf ihren Gesässbacken ausschreitet, merkt sie nicht.