Читать книгу Keinen Seufzer wert - Barbara Lutz - Страница 8
ОглавлениеDer Grunder wurde nach Langnau zitiert, zu berichten, was er weiss. Es befand sich dieser nämlich am fraglichen Abend, den 15. Hornung letzthin, auf dem Schafberg.
Er habe, sagte Grunder vor dem Richter, an jenem Abend weder den Schlatter noch den Wyssler angetroffen, sondern nur fremde Männer vorgefunden. Es sei zwischen halb à neun Uhr gewesen, dass er, auf dem Schafberg angekommen, daselbst zweimal bei der Haustür geklopft habe. Während er noch wartete, seien zwei ihm unbekannte Mannspersonen oberhalb der Bühnenbrücke hindurch gegen den Hausecken hinabgegangen. Wer diese Männer waren, wisse er nicht zu sagen. Aus Angst, es möge etwa etwas Unrichtiges vorgefallen sein, habe er sich sogleich entfernt.
Das ist, was der auf Citation erschienene Grunder Johann, des Johannes und der Elisabeth, geb. Salzmann, Sohn von Vechigen, Knecht bei Salzmann Peter in der Multenweid, geb. 1839, ledig, Soldat der 23. Füsilier-Companie des 30. Bataillon in Langnau, beim Richter auf geeignete Fragen deponiert hat.
Verena erkennt die Schwester von Weitem, sie winkt und juchzt ihr zu, während sie mit Annelies den Weg zum Haus hinuntersteigt. Die Schwester arbeitet mit ihren zwei Töchtern im Garten. Als sie Verenas Rufe hört, legt sie die Hacke hin und winkt zur Antwort mit den Armen.
Fast gleichzeitig treffen sie auf dem Vorplatz ein. Die Schwestern umarmen sich, Annelies begrüsst die Cousinen mit einem Handschlag. Die Besucherinnen werden hinters Haus gebeten zu einem Tisch auf der Laube. Verenas Schwester Magdalena holt aus dem Keller einen Krug mit kühler Schotte und füllt daraus zwei Gläser. Durstig greift Verena nach dem Getränk.
Die Frauen setzen sich hin, Verena lockert ihr Hemd und atmet seufzend aus. Der Weg hierher nach Mühleseilen, einem Weiler der Gemeinde Röthenbach, war weit.
«Jetzt wohnt ihr also beim Vetter im Schafberg, beim Resli?», fragt Magdalena und springt gleichzeitig erschrocken auf. Sie wird von einer Hornisse verfolgt, die sie fuchtelnd zu vertreiben versucht. Marianne, die ältere ihrer Töchter, zieht sich das Tuch vom Kopf und schlägt damit nach dem Insekt, bis es zu Boden fällt.
«Ihr wohnt nun also beim Res?», wiederholt Magdalena ihre Frage, als sie wieder sitzt. Sie will wissen, wie es dort aussieht und ob man sich mit Res vertragen kann. Verena beginnt zu berichten. Auf dem Weg, der am Haus entlangführt, treibt ein Nachbarsbub ein Schwein vorbei. Als die Mädchen es erblicken, können sie nicht an sich halten, und Marianne fällt der Tante ins Wort. Sie muss davon erzählen, dass das Schwein gestern um ein Haar geschlachtet worden wäre. Völlig reglos sei das Tier im Stall gelegen, man hat gedacht, es wäre tot. Als aber der Bauer mit einem grossen Messer kam, sprang die Sau auf und schleckte am Trog herum.
«Der Bendicht wird auf Stör sein?», erkundigt sich Verena, sobald das Gelächter verklungen ist, nach dem Mann ihrer Schwester.
Magdalena nickt und schenkt Schotte nach. Zu einer Antwort kommt auch sie nicht, weil ihre beiden Mädchen nun vorführen, wie das scheintote Schwein beim Anblick des Messers aufwacht. Ihre Darstellung ist so komisch, dass sich Annelies vor Lachen verschluckt und man ihr auf den Rücken klopfen muss.
Als schliesslich die wichtigsten Neuigkeiten ausgetauscht sind, verschwinden die beiden Frauen im Keller, um nach den Saatkartoffeln zu sehen. Annelies bleibt bei den Cousinen, die ihr, rittlings auf der Bank sitzend, ein Spiel mit Steinen zeigen. Die Marianne, die bald zwölf wird, ist eigentlich zu alt, um sich so breitbeinig zu zeigen, und Annelies muss daran denken, dass Marianne als Uneheliche zur Welt kam. Auch wenn ihre Mutter inzwischen den Aegerter Bendicht geheiratet hat, so ist sie doch eine vaterlose Waise. So hinsetzen sollte sie sich deshalb nicht.
Die Frauen kommen mit einem grossen Korb Kartoffeln aus dem Keller zurück und Annelies hilft der Mutter, sie auf die Hutten zu verteilen.
«Bis zu elf Franken kostet ein Sack nun in der Stadt», sagt Magdalena. Über das Bezahlen haben sie noch nicht gesprochen.
«Bei solchen Preisen vermag man keine Kartoffeln zu kaufen», meint Verena bloss.
Sie einigen sich auf acht Franken, die später zu bezahlen sind.
Auf dem Heimweg ist die Mutter aufgekratzt und gesprächig. Annelies würde sich gerne nach Mariannes Vater erkundigen. Die Mutter hat nie mit ihr darüber gesprochen, und auch jetzt wagt Annelies nicht zu fragen.
«Bei Aegerters reden alle gleichzeitig. Sie setzen sich nie wirklich hin, dauernd springt jemand auf», sagt Annelies stattdessen.
Die Mutter stimmt dem zu.
«So war es früher auch bei uns daheim.»
Manch einer im Dorf bemängelte diese Fröhlichkeit, wenngleich nur hinter vorgehaltener Hand. Verena hat die tadelnden Blicke nicht vergessen und wie ihr, beiläufig höchstens und mit einem kurzen Lachen, bedeutet wurde, das Vergnügen gelte etwas viel bei ihnen. Dabei hat sich der Pfarrer nie beklagt. Diesem war wichtiger, dass ihr Glaube in seinem Sinne blieb. Mit Stündelilaufen oder übertriebener Frömmigkeit jedenfalls gaben sie – die Hirschis, wie Verenas Leute hiessen – dem Pfarrer keinen Grund zu Sorge.
Man hatte einen kleinen Hof, der gottlob ihrer war und für den man nicht zu zinsen brauchte, erinnert sich Verena. Nur gaben die winzigen Äckerlein, die Geissen und das Garnspinnen zum Leben nicht genug. Der Vater ging deshalb mit Besen, sobald es Winter wurde.
Vom Vater wurde wüst geredet. Wenn er mit seinen Besen komme, schicke man besser die Männer an die Tür, um zu märten, nicht die Frauen. Die Sache abgehandelt, solle man vor dem Haus warten, bis er von Grund und Boden sei, es gebe redlichere Leute als den Hirschi. Deshalb galt auch sie, obschon sie tüchtig war und anzupacken wusste, von vornherein als liederlich. Die Nachbarinnen gaben es ihr zu verstehen, nur manche Männer waren etwas milder.
Viel besser erging es Verena später im Bädli Rohrimoos. Sie fand Anstellung dort und holte ihre Schwester Magdalena nach. Es war eine gute Zeit für zwei junge Mädchen, das Bettenmachen und Bödenschrubben in der sauberen Herberge gefiel ihnen besser als dreckige Kartoffeln auszugraben, wie sie es von zu Hause kannten. Und auch, dass man allseits beliebt war und gern gesehen. An jedem Abend gab es Spiele, oft auch Musik, der Wein floss nicht zu knapp dabei. Auch wenn Verena selbst bloss Dienstmagd war und da, um andere zu bedienen, wenn spät in der Nacht in der Gaststube gesungen wurde, gehörte sie dazu. Was dann zählte, war eine schöne Stimme und ein fröhliches Gesicht. Sie hatte beides, weiss Verena.
Bis heute meint sie oft, wenn sie recht lustig sei, so sei sie gern gesehen. Dabei hat sie doch längst gelernt, das zählt im Leben nicht. Mariannes Vater, ein reicher Bauernsohn aus Madiswil, liess Magdalena sitzen, so hübsch und lustig diese damals war. Als ihn die Lage zum Handeln zwang, schien ihm etwas Gerede besser als eine mittellose Braut.
Sie selber hat daraus gelernt, als sie die jüngere Schwester schwanger sah von einem, der sich nicht mehr zeigte. Verena nahm sich den Mann rechtzeitig. So schnell, dass sie vergass, ihn sich gut anzuschauen. Ihr erster Mann, Annelies’ Vater, war arm, dazu ein durstiger Geselle und wenig zuverlässig. Auch nach der Heirat hielt er es weiter lustig, nur fortan ohne sie. Weshalb die Leute nicht unrecht hatten, als sie sagten, sie habe über seinen frühen Tod nicht viel getrauert. Gottlob gleicht Annelies dem Vater nicht.
Es ist später Nachmittag, als die beiden Frauen aus Röthenbach zurückkehren, ihre Hutten gefüllt mit Kartoffeln. Als Verena hinter Annelies die Stube betritt, bemerkt sie, dass sich dort etwas verändert hat. Auch Annelies ist überrascht mitten im Raum stehen geblieben. Verena sieht ihre Tochter an.
«Dein Spinnrad und die Stabellen», sagt Annelies.
Verena nickt. Aber auch das Trögli, die beiden kleinen Truhen und das Schustertischlein, sogar die defekte Stubenuhr fehlen. Bis auf den Schaft, den Tisch und das tannene Bett ist der Raum leer.
«Er wird doch nicht – er wird doch nichts verkauft haben?»
Die beiden Frauen sehen sich ratlos an, beunruhigt.
«Soll ich den Vater suchen?», fragt Annelies. Verena nickt. Annelies hat die Stube noch nicht verlassen, als dieser auftaucht.
«Er hat es in Verwahrung genommen. Für das geborgte Geld.»
Jakob lehnt an der Ofenbank und sieht zu Boden.
«Was soll das heissen? Er? Der Schlatter? Wir brauchen die Sachen!»
«Alle unsere Effekten seien die fünfundvierzig Franken nicht wert, die wir ihm schulden, sagt er. Er wolle sie zur Sicherheit in Verwahrung nehmen. Sobald wir das Geld haben, können wir alles wieder auslösen, zum gleichen Preis. Er wird nichts weggeben oder verkaufen.»
«Und wie sollen wir ohne Hausrat leben? Wie willst du Schuhe machen ohne Werkzeug? Wo sind die Sachen?»
Wie soll ich schustern, wenn ich das Leder nicht vermag, denkt Jakob, da brauche ich auch kein Werkzeug. Er sieht einer verirrten Biene zu, die an der Fussbank entlangkrabbelt.
«Er hat die Dinge in seinen Speichergaden gestellt.»
Jakob blickt Verena zum ersten Mal an. Einen Moment lang schweigen beide. Jakob bückt sich und langt nach einem Schuh, um die Biene zu erschlagen.
«Du hast ihm aber nichts unterschrieben? Dass wir ihm die Dinge überlassen müssen?»
Jakob antwortet nicht. Schliesslich wissen beide, dass er nicht lesen und nicht schreiben kann.
«Schlatter sagt, wir können die Sachen benützen, wenn wir sie brauchen. So ist es abgemacht. Er will sie nur in Verwahrung haben. Er will sie bei sich halten, damit wir nichts davon verkaufen. Es ist, weil wir keine Geissen gebracht haben. Er hat mir das Geld doch für die Geissen gegeben.»
«Dann muss ich in Zukunft beim Schlatter um Erlaubnis bitten, wenn ich spinnen will?»
«So wird es nicht sein. Wir müssen mit ihm reden. Zuerst wollte er alles nehmen, sogar die Sachen in der Küche. Ich habe ihm erklärt, dass das nicht geht, nicht die Dinge, die du täglich brauchst. Die Wiege hat er uns auch dagelassen.»
«So. Reden müssen wir mit ihm.»
Verenas Fassungslosigkeit ist Wut gewichen, Wut auf den Schlatter und auf ihren Mann. Dass dieser sich aber auch niemals wehrt, dass er ein jedes Mal nachgibt. Bis wann will er es schaffen, dem Schlatter die fünfundvierzig Franken zurückzuzahlen? Er wird es nicht schaffen. Nicht jetzt. Nicht im Herbst. Nicht einmal bis zum Winter.
Ohne ihren Mann weiter zu beachten, verlässt Verena die Stube und geht auf die Suche nach Schlatter. Eine halbe Stunde später sind Spinnrad und Schusterwerkzeug wieder auf ihrem Platz. Obwohl sie eben gerade mit dem Schlatter richtig Streit gehabt hat, ist Verena zufrieden. Sie haben Schulden bei Schlatter und wohnen in seinem Haus, aber das ist kein Grund, klein beizugeben. Nicht bei einem, der beständig den Herrn in seiner Rede führt. Und schliesslich melkt sie ihm die Kühe.
Jakob sitzt derweil am Tisch und schabt mit dem Fingernagel Russ von der Lampe. Den Jakob wird sie in Zukunft immer wieder daran erinnern müssen, dass der Stuhl, auf dem er sitzt, nicht mehr ihm gehört. An solche Dinge denkt der nämlich lieber nicht.