Читать книгу Agatha Christie - Ingo Rose, Barbara Sichtermann - Страница 6
Prolog
ОглавлениеIm Dezember des Jahres 1926 kannte die englische Boulevardpresse nur ein Thema: Die verschwundene Lady. Eine 36-jährige Dame ist von ihrem Haus in Sunningdale, südwestlich von London, mit dem Auto aufgebrochen und nicht zurückgekehrt. Die Familie gibt eine Vermisstenanzeige auf, die Polizei startet eine Suchaktion – vergebens. Man findet den Morris in einem Waldstück bei Guildford am Rande eines Steinbruchs, im Wagen eine Tasche und einen Ausweis, aber keine Spur der Fahrerin, nirgends. Die Zeitungen veröffentlichen Fotos, die Daily News setzt gar eine Belohnung für zielführende Hinweise aus, ohne Erfolg. Auch die Initiative der Evening News, die zu einer »großen Sonntagsjagd« bläst und die Anwohner nahe Guildford auffordert, Bluthunde mitzubringen, führt zu nichts. Die Lady blieb verschwunden. Elf Tage lang. Sie hieß Agatha Christie.
Liebhaber der Kriminalliteratur kannten ihren Namen, denn im selben Jahr war ein neues Buch von ihr erschienen, das Aufsehen erregt hatte, weil es eine ganz und gar ungewöhnliche Lösung bereithielt: The Murder of Roger Ackroyd – deutsch: Alibi. Und so war es nicht verwunderlich, dass sich ganz England für den Fall interessierte. Was war da los? Wo konnte Mrs Christie sich verborgen halten? Lebte sie noch? Wurde sie womöglich umgebracht? Wer hat sie zuletzt gesehen? Ein ganz eigener Agatha-Christie-Krimi schien sich da in der Wirklichkeit abzuspielen – mit der Autorin als Opfer.
Die Polizei verhörte die Familie. Es stellte sich heraus, dass der Ehemann Archie Christie vorwiegend in seinem Golfclub wohnte und nur selten heimkam. Eifrig mühte sich der smarte junge Banker, die Presse von Nachforschungen bei sich zu Hause abzuhalten, schon um seiner siebenjährigen Tochter Rosalind willen, die völlig durcheinander war und derzeit von der Sekretärin betreut wurde. Er gab ein paar gewundene Erklärungen ab, so etwa, dass sich seine Frau guter Gesundheit erfreue und er sich ihr Verschwinden nicht erklären könne. Aber in der Nachbarschaft wurde getuschelt. Man hatte davon gehört, dass eine andere Frau im Leben des Mr Christie aufgetaucht sei, seine Golfpartnerin, die sehr schön sein solle. Könnte am Ende der Ehemann schuldhaft verstrickt sein, etwa seine Gattin in den Selbstmord getrieben haben? Die Zeitungsleser stürzten sich allmorgendlich auf die Lektüre in der Hoffnung, Archie Christie sei des Mordes an seiner Frau überführt.
Was sich im Einzelnen ereignete, wird sich niemals klären lassen. Denn die Verschwundene ist die Einzige, die alles weiß. Sie ist zwar wieder aufgetaucht, hat aber ihr Lebtag über jene elf Tage geschwiegen. In ihrer Autobiografie vermerkt sie knapp: Wenn man den Blick zurückwendet auf die lange Reise, die unser Leben ist, hat man das Recht, die Erinnerungen, die einem zuwider sind, zu ignorieren. Oder ist das feige? Sie hat also gezweifelt, ob es richtig sei, nichts über jene elf Tage preiszugeben, hat sich aber dafür entschieden, das Stillschweigen zu bewahren. Es ist indes gar nicht schwer, sich auszumalen, was in ihr vorgegangen ist, wenn man weiß, in welcher Lebenskrise sie sich im Jahre 1926 befand. Die Einzelheiten sind nicht wichtig. Was wir mit Gewissheit sagen können, ist, dass die Schriftstellerin einen Schock erlitten und tatsächlich den Wunsch gehabt hatte, von der Erdoberfläche zu verschwinden.
Einige Monate zuvor hatte Agathas Ehemann ihr mitgeteilt, dass er sich scheiden lassen wolle, weil er eine andere zu heiraten beabsichtige, eine junge Dame mit Namen Nancy Neele. Die gehörte zum Freundeskreis der Christies, Agatha kannte und mochte das Mädchen. Sie verstand auch, dass Archie sich verliebt hatte – aber seine Ehe deshalb aufzugeben, dass er dazu imstande sei, das erschien ihr undenkbar, abscheulich, gottlos. Sie konnte es nicht fassen und war nicht bereit, es hinzunehmen. Sie liebte ihren Mann, mit dem sie seit zwölf Jahren verheiratet war, aus tiefstem Herzen und sah ihre und der Tochter Zukunft durch eine Scheidung zerstört. Deshalb verweigerte sie die Auflösung ihrer Ehe, flüchtete sich in die Hoffnung, dass Archie es sich überlegen und zu ihr zurückkehren möge und war sich doch im Klaren, dass das nie passieren würde. Sie kannte ihren Mann und wusste, wie er aussah, wenn er fest entschlossen war. Sie hatte ihn verloren. Aber sie konnte und wollte das nicht wahrhaben. In dieser Situation tiefsten Kummers, flackernder Hoffnung und unerträglicher Herzenspein wünschte sie sich nichts so sehr, wie einfach weg zu sein. Nein, einfach würde es nicht sein, das wusste sie, aber sie wollte es versuchen. Und setzte sich ins Auto und fuhr los.
›Ich möchte, dass er mich suchen geht‹, so hat sie wohl zu sich gesprochen, ›und wenn er mich findet, wird er wissen, dass es ein Fehler war, mich aufzugeben. Er wird um mich fürchten, wird glauben, dass ich mich umgebracht habe und nur zu erleichtert sein, wenn er mich wieder in die Arme schließen kann. Mit der Erleichterung wird die Liebe in sein Herz zurückkehren und alles wird gut. Damit es so komme, muss ich ihm einen Hinweis liefern, den er sofort versteht. Aber ich muss einen Umweg wählen, ich kann es ihm nicht zu leicht machen. Wenn er mich zu schnell aufspürt, wird es womöglich nichts nützen. Die Angst um mich muss erst wachsen. Also werde ich einen Brief an seinen Bruder schicken, in dem ich mitteile, ich sei mit den Nerven am Ende und benötigte eine Auszeit. Und in dem ich die Gegend erwähne, in die ich mich zurückziehen werde. Campbell Christie wird seinen Bruder Archie umgehend informieren, man wird ein wenig herumsuchen und mich schließlich im schönsten und größten Resort in Harrogate auffinden. Ich habe ein Recht darauf, zu entfliehen. Er hat die Pflicht, mich zurückzuholen – in sein Herz.‹
Mit diesem vagen Plan im Kopf hat sich Agatha Christie an jenem 3. Dezember in ihren kleinen Wagen gesetzt und ist erst einmal zu jener Ortschaft gefahren, wo, wie sie wusste, Archie das Wochenende mit Freunden verbrachte – zu denen auch seine junge Golfpartnerin zählte. Sie fuhr auf das Haus zu, sah das Licht darin, fuhr weiter und in den Wald, hielt an, stieg aus und ließ den Wagen einen Hügel abwärts auf einen Steinbruch zurollen, bis er in einem Busch zum Stillstand kam. Sie kämpfte sich aus dem Wald heraus, erreichte die Landstraße und marschierte bis Chilworth, wo sie am Bahnhof auf den Zug nach London wartete. An der Station Waterloo warf sie den Brief an ihren Schwager Campbell ein. Danach setzte sie sich in aller Seelenruhe in den Zug und fuhr nordwärts in den Kurort Harrogate. Dort besorgte sie sich ein paar neue Kleider und mietete sich im Hydropathic Hotel ein unter dem Namen Mrs Teresa Neele aus Kapstadt.
Sie war vor sich selbst geflüchtet. Mrs Christie wollte sie für den Moment nicht mehr sein. Stattdessen hatte sie sich den Nachnamen ihrer Rivalin übergestreift – eine Tarnung und zugleich ein Appell: Archie, ich bin hier, und ich bin die Frau, die du liebst. Das Hotelpersonal war höflich, das Zimmermädchen freundlich, im Salon wurde des Abends soupiert und Karten gespielt, ein kleines Orchester machte Musik, und die Gäste tanzten. Die attraktive Mrs Neele wurde eingeladen, mitzutun, und sie zierte sich nicht, sondern sang sogar auf der Bühne. Derweil las sie in der Zeitung von der verschwundenen Agatha Christie und wunderte sich. Das hatte sie nicht vorausgesehen: dass man landesweit nach ihr suchen und die Presse den Fall derart aufbauschen würde. Der arme Archie! Er hasste alle Arten von Publicity und hatte wohl jetzt eine schwere Zeit. Warum auch erschien er nicht endlich in der Tür des Hydropathic Hotel?
Es war nicht so gekommen, wie Agatha es sich ausgemalt hatte. Schwager Campbell hatte den Brief achselzuckend weggeworfen und nicht mit Archie telefoniert. Ihre Familie stand schreckliche Ängste aus, denn sie wussten ja alle, dass die Trennung bevorstand, und so fürchtete man, dass die verzweifelte Agatha den Freitod gewählt habe. Auch der Polizeikommissar rechnete nicht damit, Agatha lebend aufzufinden – wobei er sich insgeheim darauf freute, den arroganten Ehemann wegen Mordverdachts zu verhaften. Aber die große Publizität, die das Verschwinden der beliebten Schriftstellerin inzwischen erlangt hatte, sorgte dafür, dass immer mehr Engländer ihr Bild vor Augen hatten. Das Zimmermädchen schöpfte Verdacht und besprach sich mit der Rezeptionistin. Die wiederum vertraute sich dem Orchester an. Zwei Musiker waren es schließlich, die die Polizei verständigten. Der Kommissar rief Archie an, und der fuhr schnurstracks nach Harrogate. Am 13. Dezember stand er Agatha in der Lounge gegenüber. Er hatte sie gefunden. Aber hatte er zu ihr gefunden? Wie in Trance gab sie ihm ihre Hand. Und er bestätigte gegenüber der Polizei und der Presse: Ja, sie ist es, meine Frau. Um die Fotografen und Journalisten abzuschütteln, verließen die zwei das Hotel durch den Hintereingang und fuhren, um ihre Spur zu verwischen, erstmal nach Abney Hall nahe Manchester, wo Madge Watts lebte, Agathas Schwester.
Die Öffentlichkeit war empört. Was hatte man nicht alles in die Wege geleitet, um die Vermisste zu finden, und jetzt stellte sich heraus, dass sie eine Art Spiel gespielt und alle, ihren Mann, die Ermittler, die Medien, an der Nase herumgeführt hatte. Die Zeitungsschreiber beschimpften sie und unterstellten ihr, sie habe durch ihr Untertauchen bloß auf sich und ihre Bücher aufmerksam machen wollen, das Ganze sei ein PR-Gag gewesen. Ihr Mann gab eine offizielle Erklärung ab: Seine Frau habe kurzzeitig ihr Gedächtnis verloren und könne für ihr Tun nicht verantwortlich gemacht werden. Und Agatha selbst? Sie wusste nun, dass ihr Ehemann nicht zu ihr zurückkommen würde und willigte in die Scheidung ein. Sie vergaß nie die Schmerzen, die sie um Archies willen erleiden musste und erkannte an, dass sie, wenn sie auch ihr Gedächtnis nicht verloren, so doch sich in zwei Personen aufgespalten hatte: in Agatha Christie, die nicht mehr auf der Welt sein wollte und in Teresa Neele, die auf den Mann wartete, der sie liebte. Sie erkannte, dass die Menschen in sich widersprüchlich und nach außen hin mehrdeutig sind. Sie hatte ein neues Thema gefunden, das sie in ihren Büchern variieren wollte und das genauso bedeutsam für den Verlauf der Handlungen in ihren Krimis sein würde wie die Aufrechterhaltung der Spannung: Die menschliche Natur.