Читать книгу Agatha Christie - Ingo Rose, Barbara Sichtermann - Страница 8
II Archie
ОглавлениеDas Fliegerkorps wurde zuerst eingezogen, Archie wartete auf seinen Marschbefehl. Der kam sehr bald: Seine Staffel musste von Southampton aus nach Frankreich starten, es ging los. Agatha und Archie trafen sich ein letztes Mal Anfang August in Salisbury, sie konnten einander nur wenig sagen und beließen es dabei, sich in den Armen zu halten und die Tränen zu verbergen. Es war eine Trennung, ohne dass die Trauung vorausgegangen war, ohne dass sie einander schon angehörten. ›Ich schaffe es einfach nicht zu heiraten, was ist bloß los mit mir?‹, dachte Agatha, ›dabei möchte ich nichts auf der Welt so gerne. Ich habe es mir immer wieder ausgemalt, stand auch schon kurz davor – mit Bolton, mit Reggie und jetzt mit Archie. Aber es wird nie wirklich was draus. Wie in einem Albtraum, wenn man laufen will und die Füße sind am Boden angewachsen. Bin ich etwa die ewige Braut – die nie Ehefrau wird? Werde ich in aller Zukunft eine alte Jungfer sein? Jetzt bin ich schon fast 24!‹ Agatha seufzte und schnupfte in ihr Taschentuch auf der Rückfahrt nach Torquay. Dort entschloss sie sich, etwas zu tun. Schon, um nicht immer an ihre Ehelosigkeit denken zu müssen und daran, ob Archie womöglich abgeschossen worden sei und sie ihn verloren habe. Sie meldete sich beim Freiwilligen Hilfskomitee und trat umgehend ihren Dienst als Schwesternhelferin im Lazarett an, das in der großen Town Hall untergebracht war.
Der Hafen in Torquay wurde häufig von Schiffen mit Verletzten angefahren, hier kam Agatha in Kontakt mit Kriegsopfern, und das brachte sie Archie näher. Sie war von Anbeginn einsatz- und lernbereit und ließ sich weder durch klaffende Wunden noch Schmerzensschreie der Patienten abschrecken. Die Arbeit war hart und belastend, die jungen weiblichen Freiwilligen wurden angeherrscht und rumgescheucht, aber Agatha klagte nicht, versagte nicht und stand jeden Morgen zu allem bereit auf der Matte. Sie wollte ihren Beitrag leisten in diesem Kriegsgeschehen. Sie wollte hinter Archie nicht zu weit zurückstehen. Die Oberschwester war klug genug, die Freiwilligen anzulernen. » Glauben Sie ja nicht«, musste Agatha sich anhören, »Sie könnten sich nützlich machen, indem Sie etwas tun, was Sie nicht gelernt haben. Sie könnten großen Schaden anrichten.« Agatha schrieb sich den Satz hinter die Ohren und übte sich ausdauernd im Verbände-Wechseln, Wunden-Reinigen und im Lagern und Transportieren der Versehrten. »Ich beschloss, auf jeden Fall durchzuhalten.« Bald war sie recht angesehen auf der Station. Sie überlegte sogar, ob sie nicht eine regelrechte Ausbildung zur Krankenschwester beginnen solle. Es war das erste Mal, dass sie eine richtige Arbeit hatte, sie bekam einen kleinen Lohn, und sie war stolz darauf. »Ich wäre eine gute Krankenschwester geworden«, sagt sie in ihren Memoiren. Wie auch später stets in ihrem Leben bewunderte sie Kompetenz, ganz gleichgültig in welchem Bereich, und wenn ihr die Möglichkeit gegeben wurde, etwas zu erlernen und richtig gut zu machen, griff sie zu. So auch jetzt im Lazarett. Am Abend schrieb sie Briefe an Archie und las die Briefe, die er schrieb. Clara und sie studierten täglich in der Zeitung die Liste der Verletzten und Gefallenen. So viele würden niemals wiederkommen, es waren Nachbarn und Bekannte darunter. Agatha betete für ihren Liebsten. Und Clara dachte an Monty, der in Afrika kämpfte.
Zu Weihnachten bekam Archie Urlaub. Die Verlobten trafen sich in Bristol, wo Peg Hemsley, Archies Mutter, mit ihrem zweiten Ehemann William lebte. Dort standen sie einander gegenüber, frierend, befangen, um Worte verlegen.
»Es war, als müssten wir wieder ganz von vorn anfangen«, so Agatha im Rückblick. »Der Unterschied zwischen uns beiden machte sich sofort bemerkbar. Seine betonte Lässigkeit, sein frivoles Gehabe störten mich. Ich wiederum war ernster und empfindsamer geworden und hatte die Unbeschwertheit meiner glücklichen Mädchenzeit weitgehend abgelegt. Es war, als bemühten wir uns vergeblich, einander näherzukommen, als entdeckten wir bestürzt, dass wir vergessen hatten, wie wir das anstellen sollten.«
»Ich bin befördert worden«, sagte Archie, »ich habe eine Belobigung für Tapferkeit erhalten.«
»Die hast du verdient.«
»Aber ich werde mit der Fliegerei Schluss machen müssen, ich halte den Luftdruck in der Höhe nicht aus. Irgendwas in meinen Nebenhöhlen ist geplatzt.«
»Ach ja? Wie schrecklich.«
»Ich werde zur Artillerie versetzt.«
Archies Mutter brachte Tee. Ihr Gatte scherzte mit dem Stiefsohn und klopfte ihm auf die Schulter. »Der Krieg wird am Boden entschieden, mein Junge, es ist gut, zur Artillerie zu gehen. Schießt ihn in den Grund, den Kaiser, gebt ihm Saures mit den Kanonen.« Archie lächelte gequält. Er hatte den Krieg erlebt, konnte aber nicht darüber sprechen und wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Agatha hatte um ihn gebangt und wünschte, sie könne ihrer Freude Ausdruck verleihen, dass er nun bei ihr war. Aber es war ihr nicht möglich. Sie hätte auch gern von ihrer Arbeit im Hospital erzählt, doch wenn sie dazu ansetzte, blieb ihr die Stimme weg. Alles was sie fühlte war: Er ist mir fremd, er ist mir entsetzlich fremd. Als Archie ihr dann sein Geschenk überreichte, brach sie in Tränen aus. Sie schrie ihn an: »Was soll das?« Es war kein Ring, kein Armband, kein seidenes Tuch – es war etwas Praktisches, ein Reisenecessaire. Dieser Verstoß gegen alle Regeln einer romantischen Courtoisie warf Agatha um. Sie forderte ihn auf, das Geschenk zum Lederwarenhändler zurückzubringen. Er knallte die Tür. Als er wiederkam, passte sie ihn in der Diele ab, gab ihm ihre Hände und flüsterte: »Es tut mir so leid. Lass uns nie mehr streiten. Lass uns wieder gut sein, für immer. Wie ist das: Kannst du nicht bald noch einmal Urlaub nehmen, damit wir heiraten können?«
Archie schüttelte den Kopf und redete mit gepresster Stimme auf sie ein: »Es geht nicht, das weißt du. Es wäre völlig falsch. Man darf es nicht übereilen. Du kriegst eine Kugel ab, es erwischt dich, und du lässt eine junge Witwe zurück, am Ende ist auch noch ein Kind unterwegs. Nein, das wäre egoistisch und falsch.«
Agatha stand wortlos da. Dann sprach sie, zitternd: »Ich sage dir jetzt mal, was hier passiert, Archie. Es ist das Luftfahrtministerium, dem wir unser Glück opfern, es ist deine Fliegerstaffel, es ist der Krieg. Ist es das wert? Sag mir ins Gesicht, dass du England und seinem Kriegsministerium enger verbunden bist als mir.«
Archie schwieg. Er sah bitter aus und plötzlich viel älter. Eine Weile ging er auf der Diele hin und her. Dann blieb er vor ihr stehen, packte sie bei den Ellenbogen und rief:
»Ja, du hast recht, Schluss mit dem Hin und Her. Kein Aufschub mehr, Agatha. Wir heiraten heute noch.«
»Bist du verrückt?«
»Ja. Wir heiraten sofort.«
»Aber es dauert Wochen, bis man eine Lizenz bekommt.«
»Im Krieg werden Ausnahmen gemacht. Ich weiß das ganz sicher. Ein Kamerad hat kürzlich –«, und da hatte er ihr schon den Mantel umgelegt und sie zur Tür geschoben. »Lass uns sofort alles in die Wege leiten. Morgen müssten wir es hinbekommen.«
»Aber morgen ist Heiliger Abend!«
»Ein guter Tag zum Heiraten!«
Und in der Tat, Archie kriegte es hin. Als Offizier erhielt er eine Sondergenehmigung, für acht Pfund ergatterte er eine Heiratslizenz, er und seine Verlobte mussten nur ihre Ausweise vorzeigen. Zur Trauung liefen sie in die Gemeindekirche des Bristoler Bezirks Clifton, William Hemsley begleitete sie als Trauzeuge, und unterwegs trafen sie – was für ein Zufall! – eine Freundin Agathas aus Torquay, die hier Verwandte besuchte. »Du musst mit mir kommen und unsere Trauzeugin sein«, rief Agatha und zog die Freundin am Ärmel mit sich fort. In der Kirche übte gerade ein junger Organist. Agathas Schwiegervater forderte ihn auf, den Hochzeitsmarsch zu intonieren, während Archie zum Hilfspfarrer in die Sakristei stürmte: »Kommen Sie schnell, Sie müssen uns trauen!« Da stand nun Agatha in einem schlichten Straßenkostüm mit ihrem Flieger vor dem Altar, ohne Hochzeitsgesellschaft, ohne Brautstrauß und ohne Ring, aber sie tat endlich das, was sie so lange schon hatte tun wollen: sie heiratete. »Als die Zeremonie begann«, so erinnerte sie sich später, »dachte ich einen traurigen Moment lang, dass wohl keine Braut jemals weniger Mühe auf ihr Aussehen verwendet hat. Kein Brautkleid, kein weißer Schleier, nicht einmal ein hübsches Kostüm.« Dafür ein hübscher Mann an ihrer Seite und die tiefe Befriedigung, nun Mrs Christie zu sein.
Clara, Madge und Archies Mutter – sie waren alle empört über diesen Coup und tief enttäuscht darüber, um ein großes Fest gebracht worden zu sein. Das junge Paar nahm das in Kauf. Der Krieg veränderte die Prioritäten, auch das zivile Leben verlief jetzt anders, man machte sich seine Regeln neu, und vieles, was früher unverzichtbar erschienen war wie etwa eine Hochzeit in Weiß, war jetzt nicht mehr wichtig. Archie buchte per Telefon im Grandhotel Majestic von Torquay ein Zimmer, die Brautleute fuhren hin und verbrachten ihre Hochzeitsnacht in Agathas Heimatstadt. Weihnachten feierten sie in Ashfield. Drei Tage später musste Archie zurück an die Front.
Agatha nahm ihren Dienst im Lazarett wieder auf. Es gab viele Gründe für sie, den Krieg zu verfluchen: er hatte ihr den Ehemann weggenommen, und er nötigte sie, ihre Tage mit Sterbenden zu verbringen, in einem Miasma aus Blut und Chloroform, er hielt sie fest in ihrem Elternhaus, aus dem sie sich nun gerade mutig wegbewegen wollte. Sosehr sie immer noch an Ashfield hing – den Anfang des Ehelebens hatte sie sich als Nestbau vorgestellt, als den Erwerb und die Einrichtung eines Hauses, darauf insbesondere hatte sie sich gefreut, und nun wurde nichts daraus. Stattdessen: Hilfsdienst, täglich, auch sonntags. Zu Hause: der blinden Großmutter vorlesen, mit dem Strickzeug im Wohnzimmer hocken, dem Stubenmädchen zur Hand gehen, Schränke aufräumen, im Garten mit anfassen. Zwischendurch stahl sie sich ins Schulzimmer, um ein bisschen zu schreiben. Für ihren ersten Roman hatte sie keinen Verlag gefunden. Aber jetzt wollte sie die Wette mit Madge gewinnen. Und sich und der Welt beweisen, dass sie einen Krimi schreiben konnte.
»Agatha, glaubst du nicht, dass unser trefflicher Sir Arthur Conan Doyle schon alles getan hat, was man in diesem Genre tun kann? Wie willst du Sherlock Holmes übertreffen?«, fragte Clara ihre Tochter beim Dinner.
»Ich muss ihn nicht übertreffen. Ich kann versuchen, es anders zu machen.«
»In welcher Hinsicht?«
»Ich möchte einen ganz anderen Detektiv-Typen erfinden. Keinen Spurenleser, sondern einen Charakterkundler. Er soll den Fall intuitiv lösen, aber ohne dass er die Fakten ignoriert. Er interpretiert sie bloß auf seine Art. Er soll sich einen Begriff vom gesamten menschlichen Szenario machen, in dem der Mord passiert – und dann seine Schlüsse ziehen. Für mich heißt das, ich muss immer die Perspektive des Täters im Auge behalten, solange er der Einzige ist, der die Wahrheit kennt. Entlang dieser Perspektive muss ich erzählen, aber ohne die Zusammenhänge zu klären. Am Anfang der Geschichte müssen sie verdeckt bleiben, ebenso wie das wahre Motiv.«
»Wie kann man das im Dunkeln lassen – es gibt ja gar nicht so viele Motive. Und die liegen doch meist offen zu Tage«, sagte Clara. »Lass uns überlegen – was sind das für Leidenschaften, die einen Menschen bewegen zu morden? Geldgier, Machtgier, Rache, Angst, Eifersucht …«
»Und ›verschmähter Liebe Pein‹, so heißt es im Hamlet. O Mama, ich möchte so gerne ein Stück für die Bühne schreiben.«
»Das Drama – die Königsdisziplin. Dachtest du an ein Kriminalstück? Passt das denn, eine Mörderjagd und die Bühne?«
»Unbedingt. Schließlich ist Hamlet auch ein Krimi. Der Prinz ist zugleich ein Detektiv, er sucht den Mörder seines Vaters.«
»Ich dachte immer, Hamlet sei ein Drama über Melancholie und Lebensüberdruss.«
»Mag sein, aber vor allem ist das Stück ein spannender Krimi.«
»Man weiß doch gleich, wer der Mörder war, denn Hamlet bekommt einen Tipp aus dem Jenseits. Der Geist seines Vaters erscheint ihm und klärt ihn auf.«
»Schon richtig, aber jetzt muss Hamlet in der wirklichen Welt den Beweis führen. Nicht so einfach. Zumal der Mörder sehr schnell merkt, dass er verdächtigt wird und sich einerseits vorsieht, andererseits dem Detektiv nach dem Leben trachtet.«
»Aber das Motiv ist doch klar: Claudius will an die Macht, er will den Thron.«
»Mehr noch: Er will Gertrud, er will die Frau seines Opfers, Hamlets Mutter.«
»Oho. Und die will auch ihn?«
»Das ist ein Kniff von Shakespeare. Er lässt es offen. Aber man kann das Stück so lesen, Mama, dass der Mord ein Komplott war.«
»Und Hamlet, der das alles durchschaut, verfällt in Melancholie …«
»Ja, weil er sieht, wie stark das Böse in der Welt ist. Man kann keinen Krimi schreiben, glaube ich, ohne darauf zu sprechen zu kommen, wie stark das Böse in der Welt ist.«
»Liebes, hast du je mit Mr Christie darüber gesprochen, dass du auch in Zukunft schreiben willst?«
Agatha legte das Messer auf den Teller. »Mutter«, sagte sie, »warum nennst du meinen Mann Mr Christie? Sag doch wenigstens Archibald.«
»Er ist mir immer noch ein bisschen unheimlich. Und jetzt diese übereilte Heirat …«
»Nach einer Verlobungszeit von achtzehn Monaten sprichst du von ›übereilt‹?«
»Du weißt genau, was ich meine. Der Krieg ist kein Grund, sich in eine Ehe zu stürzen, die man dann gar nicht leben kann. Ihr seid doch so oder so gezwungen zu warten, ob mit Trauschein oder ohne.«
»Warten, warten, warten. Mir ist es inzwischen zuwider. Was hieltest du davon, wenn ich mir Männerkleider anziehen würde, mich zur Truppe meldete und zu Archie nach Frankreich ginge?«
»Haha! Shakespeares Mädchen in Hosen sind ja immer zauberhaft, aber nicht im Krieg, darling. Ich fürchte, du musst dir eher öfter mal eine Schürze umbinden und in der Küche helfen. Jane hat gekündigt.«
»Nein!« Agatha warf die Gabel hin. Sie hatte von einem Moment auf den anderen keinen Appetit mehr. »Das kann sie nicht machen, nein, Mama.«
»Doch, sie kann. Ihr Bruder ist pflegebedürftig geworden und braucht sie. Sie wird zu ihm ziehen.«
Im Lazarett wurde eine neue Abteilung gegründet – eine Apotheke. Sie war im Stadtkrankenhaus untergebracht. Die Hilfsdienstleistenden konnten sich dort in einem Kursus zur Apothekenhelferin ausbilden lassen, richtig mit Abschlussprüfung. Agatha war sofort interessiert. Pharmazie hatte ihr immer schon gefallen, die geheimnisvolle Welt der Wässerchen, Essenzen, Pulver und Giftpflanzen – gern wollte sie mehr darüber wissen. Also wechselte sie in die neue Abteilung und belegte den Lehrgang. Sie tat das auch, weil sie wusste, dass Archie ihr Engagement auf der Lazarettstation scharf missbilligte. »Warum sollst du dich dort abmühen und so viel Schreckliches miterleben?«, fragte er sie. »Du kannst dich doch auf andere Art nützlich machen.« Das tat sie jetzt. Die Lehrerin »begann mit der Theorie«, erzählte Agatha später, »nicht mit der Praxis. Plötzlich mit Atomgewichten und Steinkohleteer-Derivaten konfrontiert zu sein, das konnte für mich nur in völliger Verwirrung enden. Aber schließlich fand ich mich doch zurecht und begriff die einfachen Fakten. Und nachdem uns bei einer Probe zum Nachweis geringer Arsen-Mengen unsere Kaffeemaschine explodiert war, machte ich recht gute Fortschritte.«
Agatha mit ihrem ersten Ehemann, Archibald Christie (1889–1962).
Die Gifte! Arsen, Zyankali, Curare – Agatha musste unbedingt wissen, wie sie wirkten, was sie im menschlichen Körper anrichteten und was für Spuren sie hinterließen. Sie plante einen Giftmord – auf dem Papier, in ihrem Krimi. Während sie Substanzen abwog und mischte, wanderten ihre Gedanken zu ihrem neuen Roman, und sie ersann einen Plot. Aber sie rief sich immer wieder zur Ordnung und zur Konzentration auf die Pharmazeutika. Der größte Teil ihrer Arbeit in der Lazarett-Apotheke galt zwar harmlosen Stoffen, die zu Medikamenten zusammengerührt wurden, aber auch hier kam es auf Genauigkeit an und somit auf größte Sorgfalt. »Als Amateure in der Spitalarbeit bereiteten wir alle Arzneien mit äußerster Präzision zu. Wenn der Arzt zwanzig Gran Wismutkarbonat für eine Dosis verschrieb, bekam der Patient genau zwanzig Gran. Das war richtig so, eben weil wir Amateure waren, aber ich kann mir gut vorstellen, dass ein Apotheker, der fünf Jahre studiert hat und einen akademischen Grad besitzt, sein Handwerk ebenso perfekt beherrscht wie eine Köchin das ihre. Mit großer Selbstverständlichkeit mischt er die Ingredienzen, ohne alles abzumessen oder zu wiegen. Er weiß es einfach. Bei Giften und gefährlichen Drogen ist er natürlich sehr genau, aber harmloses Zeug kommt in ungefähren Mengen dazu. Ähnlich geht es auch bei Färbemitteln oder Würzessenzen zu. Er macht es Pi mal Daumen.« Agatha führte ein Notizbuch, in dem sie die besonderen Eigenschaften verschiedener Substanzen aufschrieb, ihre Gerüche, Konsistenzen und Reaktionen an der Luft und im Wasser. ›Wer weiß, wann ich je wieder so tief in diese mysteriöse Welt hineingucken kann‹, sagte sie sich. Antimon, Belladonna, Digitalis, Morphium, Strychnin – so hießen die Überschriften in ihrem Büchlein. Als die Prüfung vor der Apotheker-Gilde anberaumt wurde, war Agatha ziemlich nervös. Sie hatte mehr Gewicht auf ihre Privatstudien gelegt und den Lehrplan nicht so ernst genommen. Aber sie bestand trotzdem – allerdings knapp. Bald darauf meldete sie sich bei der Handelsschule für einen Kursus in Stenografie und Maschineschreiben an. Die Kurzschrift lag ihr gar nicht, aber beim Maschineschreiben kam sie gut voran.
Wenn Archie einen seiner kurzen Urlaube erhielt, traf sich das Paar mal in London, mal in einem kleinen verschwiegenen Ort, bezog ein Hotel und feierte die zweite, die dritte und die vierte Hochzeitsnacht. Sie hatten so wenig Zeit füreinander gehabt, und es sah nicht so aus, als ob sich das bald ändern würde – der Krieg zog sich hin, er schien keineswegs jener begrenzte Waffengang zu sein, als den ihn die britische Presse und das Kriegsministerium eingeschätzt hatten. Archie war zum Bataillonskommandanten befördert und erneut wegen besonderer Tapferkeit ausgezeichnet worden. Agatha gegenüber spielte er die die Gefahr und den Schrecken herunter – das machten alle so, insbesondere die Offiziere, es galt als unschicklich, mit Müttern und Ehefrauen Klartext zu reden und so ihre Ängste zu steigern. Aber es nützte natürlich nichts. Die Frauen wussten genau, was im Feld geschah, Agatha sogar sehr genau, denn sie hatte an den Betten der Verwundeten gesessen und ihre Geschichten gehört.
»Weißt du, was ich gern täte?«, fragte sie Archie im Garten eines kleinen Hotels in New Forest, »ich würde mir gern Männerkleider anziehen, eine Einberufung fälschen und in den Krieg ziehen, zufällig genau in deinen Truppenteil.«
Archie küsste ihre Wange. »Sei froh, dass du das nicht musst«, sagte er. Und dann klagte er doch ein wenig – darüber, dass er nicht mehr fliegen konnte. Es hatte ihm so viel bedeutet. Er vermisste die Wolken. »Du musst mich entschädigen. Du und dein goldenes Haar.«
»Warum treffen wir uns nicht nächstes Mal in Ashfield?«, fragte Agatha. »Ich möchte mit dir auf der Terrasse sitzen. Und wir könnten den Pier entlangwandern …«
»Lass uns lieber nach Bristol gehen«, antwortete Archie, »ich scheue Ashfield wegen deiner Mutter. Ich habe das Gefühl, dass sie mich ablehnt.«
»Das tut sie ganz und gar nicht. Im Gegenteil, du gefällst ihr. Aber du hast eben diesen einen großen Nachteil: du nimmst mich ihr weg. Das ist es, womit sie nur schwer fertigwird.«
»So ein Unsinn. Du wirst 26. Alle Mütter müssen ihre Töchter gehen lassen. Das ist der Lauf der Welt.«
»Mit Clara hat es eben eine besondere Bewandtnis.«
»Was für eine Bewandtnis?«
»Sie kann Trennungen nicht vertragen. Und ich bin die Letzte, die sie noch hat. Verstehst du?«
»Nein, verstehe ich nicht.«
»Wirst du aber, wenn du weißt, wie meine Mutter aufgewachsen ist. Sie hat ihren Vater verloren, da war sie neun Jahre alt. Sie hatte noch drei Brüder. Ihre arme Mutter Mary Ann, meine Omi, stand nun allein in der Welt, sie bekam nur eine winzige Pension. Da hat Claras Tante Margaret, Omis Schwester, der Witwe ein Angebot gemacht. Margaret war jung verheiratet und gut gestellt, und sie sagte zu ihrer Schwester Mary Ann: Gib uns eins deiner Kinder ab, wir ziehen es für dich auf, dann ist deine Bürde ein bisschen weniger schwer. Und Omi gab Tochter Clara zu ihrer Schwester. Meine Mutter musste also ihre Familie verlassen und zur Tante ziehen, die außerordentlich lieb zu ihr war, aber es war eben nicht die Mutter. Es war eine neue Familie, in die sie sich erst einleben musste. Und das ist nicht gut gelungen. Verstehst du jetzt?«
»Huh«, machte Archie, »die Ärmste ist also weggegeben worden?«
»So ist es. Sie hatte furchtbares Heimweh, das nicht vergehen wollte. Bis heute fühlt sie sich von Trennungsängsten verfolgt. Ehrlicherweise muss man aber zugeben, dass der Wechsel für Clara auch was Gutes hatte. Sie lernte dort ihren Cousin Frederick kennen. Der war nicht ihr richtiger Cousin, keine Blutsverwandtschaft, er war der Sohn aus erster Ehe von Tante Margarets Ehemann, einem Amerikaner, der Miller hieß. Ihr Cousin Frederick Miller gehörte also mit zur Familie, er war neun Jahre älter als meine Mutter. Er hat sie, als sie Kinder waren, immerzu geneckt und geärgert und geknufft, und als Clara erwachsen war, ging das so weiter, nur mit anderem Unterton. Und stell dir vor: Irgendwann machte er ihr den Antrag. Mein Vater Frederick Miller, ja. Sie ist also doch noch gut ausgegangen, Claras Geschichte. Aber dass ihr Trennungen zu schaffen machen, das müsstest du jetzt verstehen.«
Archie brummte vor sich hin. Dann nickte er und sagte: »Einverstanden. Bei meinem nächsten Urlaub komme ich nach Torquay. Und nach Ashfield. Ich will deiner Mutter klarmachen, dass sie sich von ihrem Schwiegersohn Archie Christie niemals trennen muss.«
Oft saß Agatha im Schulzimmer, starrte aus dem Fenster und dachte über ihren Krimi nach. Er würde ihr gelingen, das fühlte sie, und sie würde diesmal Mr Philpotts mit dem Manuskript verschonen, es dafür sogleich an einen renommierten Verlag schicken. »Ich konnte mir natürlich einen sehr ungewöhnlichen Mord und ein sehr ungewöhnliches Motiv ausdenken, aber das entsprach nicht meiner schriftstellerischen Absicht. Der ganze Witz eines guten Kriminalromans besteht darin, dass einer offensichtlich der Mörder sein muss, es aber ebenso offensichtlich aus irgendeinem Grund nicht sein kann. Obwohl er es natürlich ist …« Agatha hatte von Madge eine alte Schreibmaschine geerbt, an der saß sie in ihrer freien Zeit, übte für den Kursus und tippte die handschriftlichen Skizzen für ihren Krimi ab. So eine Seite sah, wenn man sie aus der Maschine herausdrehte, auf eine herrliche Weise gedruckt aus. Das war ein Vorgeschmack auf das Buch, das sie irgendwann in Händen halten würde. Würde sie? Anfang und Ende hatte sie schon genau im Kopf, einige Passagen schrieb sie auf gut Glück nieder – aber sie hatte noch keinen Detektiv. Madge glaubte nicht an das Projekt, sie fand, Agatha sei für die Genauigkeit, die ein Krimi verlange, zu wunderlich. Aber Clara nickte ermutigend. Eines Tages kam sie zu Agatha ins Schulzimmer, setzte sich auf den Sessel für die Lehrerin und fragte geradeheraus:
»Hast du mit Archibald über deine schriftstellerischen Pläne gesprochen?«
»Ich habe mal so etwas angedeutet«, erwiderte Agatha, »er fand das ganz in Ordnung. Hab keine solchen Bedenken, Mama, Archie ist ein ziemlich moderner Mann, und er wünscht sich eine moderne Frau, eine, die selbständig denkt und handelt und – schreibt.«
»So was sagen die Männer vor der Ehe, und hinterher wollen sie, dass man nur für sie allein da ist.«
»Aber wir sind doch nicht mehr ›vor der Ehe‹.«
»Praktisch schon. Ihr führt doch kein Eheleben.«
Agatha seufzte. »Dieser Krieg kann nicht ewig dauern.«
Clara sagte: »In Russland hat es eine Revolution gegeben. Das bedeutet weitere Flüchtlinge für uns, diesmal aus dem Zarenreich.«
Agatha überlegte: »Mein Krimi spielt im Hier und Heute. Was hieltest du davon, wenn mein Detektiv ein geflüchteter Ausländer wäre? Einer, der in seiner Heimat ein Kriminalbeamter war?«
»Soll er denn sympathisch sein?«
»Nicht unbedingt. Ich stelle ihn mir ein wenig sonderbar vor, mit einer speziellen Begabung. Er sieht hinter die Fassaden. Aber sympathisch? Hm. Manche mögen ihn, andere nicht. Auf jeden Fall ist er ein Außenseiter. Seiner Umgebung soll er ein wenig unheimlich sein, weil er Dinge wahrnimmt, die anderen entgehen.«
»Das ist üblich bei einem Detektiv. Aber um eins bitte ich dich: kein Russe!«
»Nein-nein, er muss ja Englisch sprechen und auch sonst Bildung haben.«
»Wie wäre es denn – du hast doch sicher von dieser Kolonie in der Gemeinde Tor gehört, dort hat man Leute untergebracht, die kurz nach Kriegsbeginn aus Belgien geflohen sind …«
»Ein Belgier! Ja, warum nicht? Man spricht dort Französisch, oder? Jedenfalls in größeren Landesteilen. Alle werden meinen Detektiv für einen Franzosen halten, weil er diesen Akzent hat. Und er kann seine Mitmenschen dann ein bisschen von oben herab berichtigen: ›Ich bin Belgier.‹ Und ich darf immer mal französische Wendungen einfließen lassen, etwa: ›Ah, mon ami‹, oder ›Voilà!‹ oder ›Eh bien!‹ – So was frischt einen Dialog auf! Ja, danke, Mama, der Vorschlag ist wirklich gut.«
Clara lächelte. »Und der Name?«
»Lass mich überlegen. Wie heißen Belgier denn so?«
»Lilian Pirie hat einen Belgier aus dieser Kolonie kennengelernt, der heißt Vandewall.«
»Nee. Es gibt doch wohl französische Namen in Belgien, oder? Ein bisschen Harmonik sollte schon mitschwingen; diese germanischen Namen klingen durch die Bank entsetzlich barsch und bestenfalls schwermütig.«
»Ja, warte, dieser Vandewall hat einen Nachbarn namens – äh – Poiret. Wie ist es denn damit?«
»Passt schon eher. Ich werde ihm übrigens einen Freund an die Seite stellen, mit dem er sich über den Fortgang seiner Ermittlungen austauscht. Damit ich diesen Fortgang in einen Dialog packen kann, verstehst du? Der Freund hat schon einen Namen: Major Arthur Hastings.«
»Ein bisschen wie bei Sherlock Holmes und Dr. Watson, he?«
Agatha errötete. »Nun ja, aber dass ein Detektiv einen Freund hat, dem er sich anvertraut, das ist ja sozusagen trivial. Das ist Realität.«
»Verrate mir doch, woran stirbt denn dein armes Mordopfer?«
»Ich denke mal: Strychnin.«
Ideen kamen Agatha im Gehen. Dabei tat sie dasselbe, was sie als Kind getan hatte, wenn sie durch den Garten schnürte und sich Wesen, Gestalten, Personen ausdachte, mit denen sie dann spielte. Sie probierte auch ihre fiktiven Dialoge so im Gehen aus. ›Wenn man ein neues Buch plant, ist nichts besser, als irgendwo einen langen Spaziergang zu machen. Das fehlende Glied in der Kette (englisch: The Mysterious Affair at Styles) schrieb ich gewissermaßen im Gehen. Man kann erst anfangen zu schreiben, wenn man sich die Figuren überlegt und das Gefühl hat, dass sie real sind. Dann kann man mit ihnen durch den Garten spazieren.‹ Lange überlegte sie, in welcher Gestalt ihr Detektiv, den Poirot zu nennen sie sich entschlossen hatte, ihr selbst und dem Lesepublikum begegnen sollte. Eine außergewöhnliche Erscheinung würde er sein, so viel war klar. Sie hatte einmal in der Straßenbahn einem Mann gegenübergesessen, der mit seiner Sitznachbarin französisch parlierte und einen sehr eigenartigen Akzent hatte. Irgendwann redeten die beiden über Brüssel, und es war klar, dass es sich um die Heimatstadt des Mannes handelte. Ein Belgier also. Er war sehr klein und rund, hatte einen Eierkopf und einen großen Schnurrbart. Dieser kleine Herr kam Agatha sogleich in den Sinn, als sie sich entschlossen hatte, ihren Detektiv einen Belgier sein zu lassen. Sie seufzte ein wenig, als sie entschied, Poirot äußerlich nach dem Mann aus der Bahn zu formen, denn der war alles andere als attraktiv. Aber sie hatte keine Wahl, denn sie wusste, dass ihre Phantasie reflexartig auf den kleinen Schnurrbartträger zurückkäme, wenn sie über Poirot schreiben und ihn sich dabei vorstellen würde. ›Er wird die Menschen verstehen und stolz darauf sein‹, dachte sie, ›und ich werde ihm einen Vornamen geben, der in scharfem Gegensatz zu seinem Wuchs steht: Hercule … Er sollte Inspektor in seiner Heimat Belgien gewesen sein, um über eine gewisse Erfahrung in der Verbrechensbekämpfung zu verfügen. Er würde sehr ordentlich, sehr exakt sein, ein Mann, der die Dinge zurechtrückte, sie paarweise anordnete, der eckige Formen lieber hatte als runde. Er sollte sehr intelligent sein, eine Menge kleiner grauer Zellen im Kopf …‹ Nie fühlte sich Agatha so mit sich selbst im Einklang, so leicht und frei, als wenn sie schrieb. Nun, da Hercule Poirot aus ihrer Phantasie in die Schrift übergesprungen war, arbeitete sie in einem enormen Tempo und mit großer innerer Befriedigung.
Den Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatten die Angehörigen der britischen Mittelschicht, überwiegend wohlhabende gebildete Zeitgenossen, in ihrer großen Mehrheit nicht kommen sehen. England war seinerzeit eine Weltmacht, sein Kolonialreich erstreckte sich von Australien über Indien, den Nahen Osten und große Teile Afrikas bis nach Kanada, das alles lernten die Kinder in der Schule oder, wie in Agathas Fall, daheim von den Eltern oder Hauslehrern, und sie fühlten sich entsprechend unangreifbar. Dass dieses Weltreich in einen Krieg hineingezogen werden konnte, schien ganz und gar unmöglich, aber es passierte, und damit ging eine Ära zu Ende. Königin Victoria war schon 1901 gestorben, aber das Viktorianische Zeitalter mit der ihm eigenen Stabilität versank erst 1914, als England gegen alle Wahrscheinlichkeit in einen Krieg eintrat mit all den fürchterlichen Folgen wie Verlusten an Menschen und Material und mit tiefem Leid und Lebensmittelknappheit zu Hause. Wie die meisten Engländer hoffte Agathas Familie auf ein baldiges Ende dieser ganz und gar unbegreiflichen Feldzüge, und als sich die Kampfhandlungen dann doch über Jahre hinzogen, war es das Ende des Krieges, auf das niemand mehr gefasst war. Man hoffte darauf, aber man rechnete nicht mehr damit. Agatha Christie schrieb ihren ersten Kriminalroman mitten im Krieg während der Jahre 1916/17, und sie entwickelte die Handlung nicht zufällig um einen Detektiv, der aus Belgien geflüchtet war und um dessen Freund Major Hastings, der einer Verwundung wegen Fronturlaub hatte. Von überallher strömten damals Menschen, die vom Krieg entwurzelt worden waren, auf die Insel, deren Bewohner ihrerseits um Söhne und Gatten auf dem Kontinent oder in Afrika fürchteten und ihre Ersparnisse von den Banken abzogen, um sie in ihren Geheimfächern zu verstecken. Aber dann war es irgendwann doch so weit. Agatha begab sich gerade auf den Heimweg von ihrem Kursus in der Handelsschule, sie trat auf die Straße und konnte nicht glauben, was sie da sah. Überall in den Straßen tanzten Frauen. Englische Frauen neigen nicht dazu, auf der Straße zu tanzen, aber da waren sie nun, in einer wilden Orgie des Glücks, lachend, schreiend, drängend, springend, in einer zügellosen Euphorie. Es war furchterregend. Man hatte das Gefühl, wenn in diesem Augenblick ein paar Deutsche in der Nähe gewesen wären, hätten die Frauen sie in Stücke gerissen. Wahrscheinlich waren nur einige von ihnen betrunken, aber alle benahmen sich so. Sie wankten, taumelten, jubelten. Es war der 11. November 1918. Der Krieg war vorbei.
Archie war schon im September nach England zurückgekehrt, aus Gesundheitsgründen. Seine Nebenhöhlen gaben auch bei der Artillerie keine Ruhe, außerdem hatte er ständig Magenprobleme, und jetzt war er, mittlerweile im Rang eines Obersten, ins Luftfahrtministerium abkommandiert worden. Selten hatte sich Agatha über eine Nachricht so gefreut wie über dieses Telegramm: «Ich komme nach Hause, stop. Archie.« Und von Clara erfuhr sie, dass sich Bruder Monty, der in Afrika verwundet worden war, auf dem Wege der Besserung befand. ›Unsere Familie hat Glück gehabt‹, dachte Agatha. Sie und Archie wollten sich in London niederlassen, sie suchten eine Wohnung – so wie ganze Scharen demobilisierter Soldaten mit und ohne Familie. Die Bleibe musste preiswert sein, denn Agatha und Archie waren nicht reich. Archies Sold war mäßig, und Agatha hatte nur ihr sehr bescheidenes Erbe. Aber beide waren zuversichtlich. »Ich werde einmal viel Geld verdienen«, brüstete sich Archie, und Agatha sagte sanft: »Hauptsache, wir sind zusammen.« Bald fanden sie ein passendes Apartment in London, Madison Mansions, und richteten es mit Elan ein. Archie ging Tag für Tag ins Ministerium und versah dort seinen Dienst, aber er teilte Agatha mit, dass er sich nach etwas Besserem umsehe und dass er kündigen werde, sowie er in der City einen Posten gefunden hätte. Verdiente Offiziere wurden bei Unternehmen und Banken gerne eingestellt. Agatha bewunderte Archies Pragmatismus. Sie war davon ausgegangen, dass das Militär seine Heimat sei, aber jetzt, wo der Krieg aus war, wollte er ins zivile Leben, dorthin, wo Geld verdient wurde und er keine Uniform tragen musste.
An einem Winterabend saßen er und Agatha zusammen in ihrem Wohnzimmer, das nach Ashfield-Maßstäben klein war, für sie selbst aber eine große Freude, und Agatha sagte zu ihrem Mann: »Ob du es glaubst oder nicht, ich habe einen Roman geschrieben. Einen Kriminalroman mit einem äußerst rätselhaften Fall und einem bemerkenswerten Detektiv. Ob du den lesen würdest?«
Archie kniff die Augen zusammen und sagte: »Wirklich?« Agatha nickte. Und er: »Na, her damit.« Agatha stand auf, um das Manuskript von Das fehlende Glied in der Kette zu holen. Sie war gar nicht besonders erleichtert über Archies Bereitschaft, ihr Buch zu lesen, denn sie hatte nichts anderes erwartet. »Hier«, sagte sie und legte ihm den dicken Papierstapel auf den Schoß, »schau mal rein, ich habe alles selbst mit der Maschine getippt.« Ehrfürchtig strich er über das Konvolut und sagte: »Alle Achtung«.
Nun kam Archie öfter mit nach Ashfield. Einmal, während Agatha die neue Köchin zum Wochenmarkt begleitete, saß er mit Clara beim Tee im Esszimmer und sagte zu ihr:
»Es tut mir leid, liebe Schwiegermama, dass ich so lange so abweisend war. Aber du darfst nicht vergessen, dass du versucht hast, mich aus dem Feld zu schlagen und stattdessen diesen Reggie …«
Clara fiel ihm ins Wort. »Schnee von gestern. Du musst dich nicht entschuldigen, Archie. Ich möchte dir aber etwas sagen, was dich vielleicht überrascht. Wahrscheinlich hat Agatha dir von meiner Kindheit erzählt, dass ich weggegeben wurde und darunter gelitten habe –«
»Ja, das hat sie.«
»– und dass ich es deshalb nicht vertrage, mich von meinen Kindern zu trennen. Aber das ist nicht so, Archie. Ich habe Madge gehen lassen und Monty, und ich musste mich von meinem Mann trennen, den mir der Tod geraubt hat, das war sehr schwer. Aber ich habe es durchgestanden. Mit Agatha ist es etwas anderes.«
Weil Clara eine Pause machte, im Wohnzimmer umhersah und auf ihrer Unterlippe kaute, fragte Archie: »Was ist es denn?«
»Ich habe Agatha hier in Ashfield noch eine Weile behalten wollen – nicht, weil ich mich nicht von ihr hätte lösen können, sondern weil ich es richtig fand, sie noch ein wenig länger zu behüten.«
»Das hast du ja nun getan. Sie ist immer noch nicht ganz von Ashfield ausgezogen. Seelisch, meine ich.«
»Wie du sagst. Agatha ist auf ihre Art ein Kind geblieben, verstehst du? Und sie braucht einen entsprechenden Schutz.«
Da lachte Archie. »Liebe Mama, ich kenne sie ja nun auch. Sie ist durchaus eine Frau!«
»Sicher ist sie das.« Clara wiegte ihren Oberkörper ein wenig unbehaglich hin und her. Und sagte: »Ich habe sogar das Gefühl, dass sie sehr glücklich mit dir ist. Aber Agatha ist nicht so gestrickt wie du und ich. Sie lebt nicht unmittelbar in der Wirklichkeit. Sie nimmt die wirkliche Welt nur durch den Filter ihrer Vorstellung von ihr wahr. So wie Kinder es tun, die die Dinge um sie herum beseelen und sie nach den Maßstäben ihrer Phantasie einschätzen, anstatt sie als das zu nehmen, was sie sind.«
Archie schaute zweifelnd: »Du meinst, Agatha lebt in einer Traumwelt?«
»So würde ich es nicht sagen. Aber ihre Phantasieproduktion ist ungewöhnlich stark und bestimmt ihre Weltwahrnehmung und ihre Lebensentscheidungen auch dann, wenn es darauf ankommt, die Dinge klarzusehen. Deshalb hatte ich Angst um sie und wollte –«
Archie ging lachend dazwischen. »Sorge dich nicht, verehrte Mama! Wenn es wirklich nötig sein sollte, Agatha ein bisschen mehr Bodenhaftung zu verschaffen, so werde ich das übernehmen. Schon morgen. Wir machen einen Ausflug ins Dartmoor.«
Archie fand bald einen Job in der Finanzwelt. Er war sehr stolz und fest entschlossen, sein Bestes zu geben. Am Anfang verdiente er noch nicht das große Geld, aber eine fühlbare Verbesserung seiner und damit auch Agathas Einkommenslage konnte gefeiert werden. Tagsüber blieb Agatha allein in der gemeinsamen Wohnung und versuchte, Routinen des Ehelebens für sich zu entwickeln und Freude daran zu finden. Müsste es sich nicht als wundervoll erweisen, eine verheiratete Frau zu sein? Blumen arrangieren, Kissenbezüge sticken … Alle Geschichten über das Leben und das Schicksal von Frauen liefen auf diesen einen Punkt zu: die Eheschließung. Danach brauchte nicht mehr viel erzählt zu werden, denn was jetzt begann, sollte pure Seligkeit sein. Zwar murmelten alte Damen manchmal etwas von der Unzuverlässigkeit oder gar Treulosigkeit der Ehemänner und von dem Schmerz, der daraus erwuchs, aber dergleichen galt ja wohl nicht für Mr und Mrs Christie. Doch abgesehen von den Wochenenden mit Archie, die sie sehr genoss, verspürte Agatha überhaupt keine Seligkeit. Sie empfand ihr neues Leben sogar als ausgesprochen öde. Archie mochte sie das so nicht sagen, denn wenn er da war, verhielt es sich ja anders: dann war sie immer zufrieden, oft froh und manchmal richtig glücklich. Aber unter der Woche wusste sie einfach nicht, was tun. Haushaltspflichten waren zu erfüllen, das ja, aber da es seinerzeit in der englischen Gentry als unschicklich galt, über kein Personal zu verfügen, egal, wie beschränkt die Mittel waren, mit denen man auskommen musste, hatten auch die Christies eine Haushälterin eingestellt, die alle anfallenden Aufgaben, inclusive Küche, zur Zufriedenheit ihrer Herrschaft erledigte. Die Arbeit im Hause bestand für die bessergestellte Hausfrau ohnehin nur in der Koordination und Beaufsichtigung der Dienstboten – die freundliche Mrs Woods jedoch, die Agatha und Archie den Haushalt führte, musste nicht groß beaufsichtigt werden; man konnte eher sagen, dass es Mrs Woods war, die Agatha ein bisschen beaufsichtigte, wenn sie mitbekam, wie die arme junge Frau erwartungsvoll in den Tag schaute, der ihr nichts bot außer einer vagen Freude auf den Abend. »Vielleicht hat Madam Lust, mit mir ein bisschen Apfelkompott einzukochen?« O ja, dazu hatte Agatha durchaus Lust. Des Abends, wenn Mrs Woods gegangen war und Archie heimkam, passierte aber meistens auch nichts. Er stopfte seine Pfeife, ließ sich von Agatha Bier servieren und erzählte ihr kurz von der City.
»Und was hast du erlebt, darling?«
»Ich? Gar nichts.«
»Warum unternimmst du nicht was mit Freundinnen? Ein bisschen Shopping, he? Und könntest du nicht mal deine Schwägerin besuchen, die du so interessant findest, hm, wie hieß sie noch, die Schwester von Madges Mann, Nan Watts? Übrigens: Ich habe heute während der Mittagspause deinen Roman zu Ende gelesen. Ich finde ihn ausgezeichnet. Du solltest sofort auf Verlagssuche gehen. Ein Kollege von mir hat einen Bruder mit Verbindungen zum Verlagswesen, den spreche ich an …« Das war ja nun etwas Neues, und mit einem Mal war Agathas Leben wieder aufregend, abwechslungsreich und voller Zukunft. Das fehlende Glied in der Kette. Sie küsste Archie auf beide Wangen. Schon morgen wollte er mit dem Kollegen sprechen.
In der Adventszeit zog es Agatha nach Ashfield, und Archie kam mit. Auch Madge war mit Sohn zu Besuch. Die neue Köchin bereitete Fisch und Geflügel zu, und es gab wieder eines jener herrlichen Dinners mit fünf Gängen, zum Nachtisch ein Soufflé mit Torte, wie Agatha es so gerne mochte. Nur dass sie diesmal einfach keinen rechten Appetit hatte. Clara guckte vielsagend, Madge wiegte den Kopf und Agatha erschrak – und erlangte bald Gewissheit. Ja, es war wirklich so: Sie war schwanger. Ich hatte bisher in dem Glauben gelebt, dass Babys sich automatisch einstellen würden. Nach jedem von Archies Urlauben war ich tief enttäuscht gewesen, wenn ich kein Anzeichen eines Babys entdecken konnte. Diesmal hatte ich gar nicht damit gerechnet. Die Schwangerschaft bekam Agatha schlecht, sie litt entsetzlich unter Übelkeit und zwar bis zum letzten Tag; aber nichts konnte ihre Freude trüben: Sie würde bald Mutter sein. Sie würde ihr Baby wiegen. Was für ein Wunder. Es kam also doch noch, das große Glück – wenn auch in Begleitung weher Eingeweide und einer grotesken Entstellung ihrer Figur.
Als Agatha ihrem Mann anvertraute, dass sie nun bald zu dritt sein würden, erlebte sie einen seltsamen Archie. Die beiden hatten kaum je über Elternschaft gesprochen, für Agatha war ein Baby die natürlichste Sache von der Welt und der tiefere Sinn der Ehe. Aber für Archie war das offenbar nicht so. Er starrte sie an, als sie ihn eingeweiht hatte, er kam auf sie zu, umfasste sie und stöhnte:
»Nein, das ist ja furchtbar, mein armer Schatz, nein …«
Agatha war verblüfft: »Was redest du? Es ist doch wunderbar. Ich warte schon so lange darauf …«
»Ich nicht. Ich will kein Kind. Ich möchte mit dir glücklich sein.«
»Aber glaubst du denn, ein Kind würde dabei stören?«
»Allerdings! Es wird die ganze Zeit auf deinem Schoß sitzen, und ich komme nicht mehr zum Zuge.« Nervös nestelte Archie an seinem Tabakbeutel.
Agatha dachte, er mache Spaß. »Ich verspreche dir, dass ich den kleinen Schlingel zwischendurch in die Wiege lege und du durchaus zum Zuge kommst.«
»Schlingel? Du hoffst auf einen Jungen?«
»Natürlich. Es wird auf jeden Fall ein Junge sein.«
»Ach, Agatha«, er küsste sie, weil er glaubte, das jetzt tun zu müssen und gestand ihr, dass er sich tatsächlich vor einem Kind fürchtete, dass es die Zweisamkeit mit ihr sei, die er suche und jetzt in Gefahr sehe und dass sie ihm bitte verzeihen möge.
»Verzeihen? Aber was denn bloß?«
»Na, ich habe dir das doch angetan.«
Agatha machte die Augen zu und lächelte. »Du bist ein Schaf«, sagte sie, »jetzt freu dich bitte.«
»Gut, ein wenig. Aber nur auf ein Mädchen. Auf einen Jungen werde ich immer eifersüchtig sein, denn du würdest deine ganze Aufmerksamkeit auf ihn richten.«
»Aber einer Tochter würde ich dieselbe Aufmerksamkeit widmen.«
»Nein, das wäre nicht das Gleiche.«
»Wir werden ja sehen. Denkst du mit mir über einen Namen nach?«
Archie hatte ausschließlich Mädchennamen auf Lager, er bevorzugte Elaine, Agatha war für Harriet und insgeheim für Frederick.
Das fehlende Glied in der Kette hatte mittlerweile eine Reise durch sechs Verlage, die es alle nicht drucken mochten, hinter sich, und Agatha wollte schon aufgeben, als ihr siebenter Versuch bei dem Verlag The Bodley Head dann doch zu fruchten schien. Man sehe eine gewisse Qualität in ihrem Manuskript, müsse aber vor einer Veröffentlichung noch auf einigen Änderungen bestehen. Um die zu besprechen, werde man der Verfasserin eine Einladung zukommen lassen. Agatha freute sich sehr über diese positive Antwort, aber je mehr Zeit verging, ohne dass die versprochene Einladung erfolgte, desto mehr verfestigte sich Agathas Überzeugung, versagt zu haben und nun doch nicht mit ihrem Buch an die Öffentlichkeit treten zu können. Ich habe wohl zu viel gewollt, dachte sie, schade um Poirot, schade um Major Hastings. Der Major war es, aus dessen Perspektive sie ihren Roman geschrieben hatte, ein bisschen war sie während der Arbeit zu Hastings geworden. Und als Hastings fühlte sie sich jetzt ganz und gar unbehaust, abgelehnt, weggeschickt. Das war schmerzhaft.
Es gab aber dann anderes zu tun. Die Familie musste in eine größere Wohnung umziehen, denn sie hätten künftig außer ihrem Kind ja auch noch eine Nanny zu beherbergen. Es ergab sich, dass ganz in der Nähe etwas Passendes frei wurde; die Christies bewarben sich und bekamen den Zuschlag. Noch einmal musste Agatha Türen und Wände streichen, elektrische Leitungen legen und Vorhänge nähen lassen, sie tat das »mit Feuereifer«. Archie bekam von der Army eine Abfindung. »Wir gaben ein Gutteil davon für Möbel aus. Ein Menge Zeugs kam auch aus Ashfield, das ganz vollgestopft war mit Tischen und Stühlen und Truhen, Silber und Wäsche. Wir besuchten auch Auktionen und erstanden dort für ein Butterbrot ein paar altmodische Kommoden und Schränke. Wir hatten kein Klavier, das war bedauerlich, aber diesen Mangel glich ich dadurch aus, dass ich, immer wenn ich nach Torquay kam, wie eine Wahnsinnige auf die Tasten drosch.« Mrs Woods führte Regie bei der Einrichtung der Küche. Sie wusste auch, was es bedeutete, dass Agatha ihr Schwangerschaftserbrechen nicht loswurde. »Ich für mein Teil«, sagte sie, »behaupte, dass Sie ein Mädchen bekommen werden. Übelkeit bedeutet Mädchen. Schwindel und Ohnmacht bedeuten einen Jungen. Übelkeit ist besser.« Archie umsorgte seine Frau mit viel Feingefühl, er ging mit ihr spazieren, brachte sie zu Bett, deckte sie zu und servierte ihr morgens den Tee. Wenn er mit ansehen musste, wie sie Mrs Woods köstliches Mittagsmahl wieder von sich gab, raufte er sich die Haare. Auch dass Agatha die Gestalt einer wandelnden Tonne annahm, irritierte ihn, und er machte gern Scherze über sein geliebtes Nilpferd.
Am 5. August 1919 wurde Agatha von einem Mädchen entbunden; die Geburt fand in Ashfield statt, unter Aufsicht von Clara und einer erfahrenen Hebamme. Das Kind war hübsch und gesund, mit dichtem, dunklem Haar und großen Augen. Die Eltern waren übereingekommen, das Baby so zu nennen, wie sie es passend fänden, wenn sie es nach der Geburt im Arm hielten. Es sollte ihnen sozusagen seinen eigenen Namen zuflüstern. Und als es dann so weit war und die Kleine abwechselnd auf Agathas und Archies Schoß ruhte oder zappelte und sie ihr lange ins Gesicht gesehen hatten, nannten sie sie Rosalind.
Nachdem Agatha sich erholt hatte, machte sie sich auf, in London eine Kinderfrau zu suchen. Es war seinerzeit in der Oberschicht völlig unüblich, ein Kind während der ersten Lebensjahre selbst zu betreuen, die Nanny eine Institution, die mit dem Baby ins Haus kam. Der Krieg hatte vieles verändert, nicht nur die Machtverhältnisse auf dem Kontinent und in Englands Überseebesitzungen, auch das soziale Leben auf der Insel war nicht mehr dasselbe. Die Labour Party, 1900 gegründet, hatte an Einfluss gewonnen, die Arbeiterklasse und die heimgekehrten Soldaten meldeten ihren Anspruch auf Würdigung ihrer Leistungen an, und die Frauen, auch die einfachen Arbeiterinnen, hatten in weiten Teilen Europas – wenn auch noch nicht in England – das Wahlrecht errungen. Eine neue Zeit war angebrochen, und der von Agatha so sehr geschätzte Kosmos der kundigen Dienstboten, mit dem sie aufgewachsen war, zerstreute sich und ging mit der alten quasi-feudalen Klassengesellschaft unter. Agatha erblickte darin einen großen Verlust für das Zusammenleben, den sie immer wieder beklagt hat. Nun musste sie sich an eine kommerziell ausgerichtete Agentur wenden, um eine Kinderfrau zu finden. Wie anders waren die Verhältnisse gewesen, als die alte Nursie noch an ihrer Seite und sie selbst ein kleines Mädchen gewesen war.
Die Nannys im Jahr 1919 waren frech geworden, verlangten zu viel Lohn und bestanden auf geregelter Arbeitszeit. In Agathas Kinderjahren gehörten Nannys zu den privilegierten Dienstboten. Viele nahmen eine Stelle nur an, wenn noch genügend weiteres Personal beschäftigt war und sie sicher sein konnten, dass ein Stubenmädchen das Kinderzimmer sauber hielt und die Köchin für Babynahrung sorgte. Mit einem Wort: sie hielten auf sich. Das war vorbei. Mr Christie konnte zwar den Lohn für eine Haushälterin und ein Kindermädchen aufbringen, aber für ein zusätzliches Stubenmädchen reichte es nicht. Agatha sprach mit mehreren Anwärterinnen, und sie fand die Richtige: Jessie Swannell, die ›Nursie‹ für Rosalind.
»Sie blieb über zwei Jahre bei uns, und ich mochte sie gern, obwohl sie ihre Fehler hatte. Sie gehörte zu jener Sorte Kinderfrauen, die eine natürliche Abneigung gegen die Eltern der von ihr betreuten Kinder empfinden. Für Rosalind war sie die Güte in Person; ich glaube, sie hätte ihr Leben für das Kind gegeben. Mich betrachtete sie als Eindringling, obwohl sie widerstrebend tat, was ich von ihr verlangte, auch wenn sie meine Ansicht nicht teilte. Andererseits wurde sie mit jeder Situation fertig: sie war immer freundlich, gut gelaunt und hilfsbereit. Ja, ich respektierte Jessie Swannell und hoffe, sie hat ein erfülltes Leben gehabt und erreicht, was sie erreichen wollte!«
Mittlerweile hatte Agatha ihr Manuskript und den saumseligen Verlag völlig vergessen, und so war es eine echte Überraschung, als eines Tages ein Brief mit dem Absender The Bodley Head in ihrer Postbox lag. Nach so vielen Monaten! Man hatte dort ihr Werk tatsächlich nur zur Seite gelegt und es dann wieder hervorgeholt, und jetzt wurde sie zu einem Gespräch gebeten. Hercule Poirot und Major Hastings, sie würden vielleicht doch noch das Licht der lesenden Welt erblicken. » Hoffnungsvoll machte ich mich auf den Weg. Ich wurde in das Büro des Verlagsleiters John Lane geführt, und er erhob sich, um mich zu begrüßen. Er hatte eine gütige, liebenswürdige Art, aber seine pfiffigen blauen Augen hätten mich vielleicht warnen sollen, dass ich es mit einem Menschen zu tun hatte, der seinen Vorteil rücksichtslos zu wahren wusste.«
Mr Lane klagte über die Schwierigkeiten des Buchmarktes und das Risiko, das er mit jedem neuen Titel eingehe. Und er wünschte sich für den Schluss von Das fehlende Glied … noch einige Änderungen. Agatha verstand, dass er entschlossen war, ihr Buch zu verlegen, und sie jubelte innerlich, als er das Vertragsformular hervorzog. Ich hätte unbesehen alles unterschrieben. Dieser Vertrag sah vor, dass ich kein Autorenhonorar erhalten würde, solange nicht zweitausend Exemplare verkauft waren. Die Hälfte aller Erlöse aus der Veröffentlichung als Fortsetzungsroman sowie aus den Bühnenrechten würde an den Verlag gehen. Das alles bedeutete mir nicht viel – nur eines war wichtig: das Buch würde erscheinen! Ich bemerkte nicht einmal, dass der Vertrag eine Klausel enthielt, die mich verpflichtete, ihm meine nächsten fünf Romane zu einem nur mäßig günstigeren Honorarsatz anzubieten. Für mich bedeutete das alles einen unglaublichen Erfolg. Ich unterschrieb mit Begeisterung. Auf dem Heimweg dachte sie: ›Ich muss sofort an Mama und Madge schreiben. Und auch an Eden Philpotts.‹
Archie war gar nicht verwundert, als Agatha zu Hause Bericht erstattete.
»Du bist gut«, sagte er, »die Geschichte ist sophisticated, da geht man gerne mit.« Und er schmunzelte. »Ich bin stolz auf dich.«
»Mr Lane hat mich womöglich über den Tisch gezogen, Archie. Ich bekomme erst Geld, wenn der Handel zweitausend Exemplare abgesetzt hat.«
»Das ist nicht besonders großzügig. Aber das wirst du schaffen. Das Buch wird laufen.«
»Er behauptete, dass es immer sehr schwierig sei, eine junge Schriftstellerin durchzusetzen, und als er das sagte, habe ich ihn unterbrochen und ihm klargemacht …« Sie stockte.
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt: Schriftstellerin? Aber ich bin doch keine Berufsschriftstellerin! Ich schreibe zu meinem persönlichen Vergnügen. Ich bin Ehefrau und Mutter und will nichts anderes sein. Er hatte mich da bei meiner Ehre gepackt.«
»Ehre? Wie meinst du das?«
»Er hat ja so getan, als sei ich eine Frau, die für Geld schreibt, die es nötig hat, verstehst du?«
»Ja, ich verstehe völlig, aber da hast du womöglich einen Fehler gemacht. Jetzt denkt Mr Lane, er könne mit dir Schlitten fahren, weil du kein Profi bist.«
»Meinst du, ich hätte so tun sollen, als ob?«
»Ich denke schon. Der Vertrag jedenfalls ist nicht sehr günstig. Aber warten wir erstmal ab, wie sich das Buch verkauft. Wann kommt es denn raus?«
»Oh, ich hab das Manuskript wieder mitgenommen. Ich muss am Schluss noch was ändern. Und muss unbedingt herausfinden, wie ein Strafprozess vor Gericht abläuft. Mr Lane meinte, da wären bei mir ein paar grobe Schnitzer dabei.«
Die Bearbeitung ging Agatha glatt von der Hand, sie verwandelte die Gerichtsszene in eine Anhörungsszene, und vermied so die Schilderung einer Realität, von der sie nichts verstand. ›Ich möchte es aber wissen‹, dachte sie, ›ich muss bald mal einer Gerichtsverhandlung beiwohnen.‹ Das Buch würde im kommenden Jahr, 1920, erscheinen, und zwar in England und in den USA. Archie entkorkte eine Flasche französischen Weins, um das Ereignis zu feiern, allerdings trank er sie allein, denn Agatha mochte keine alkoholischen Getränke. Sie nahm stattdessen ihren geliebten Tee und dazu Gebäck. Ein Traum war für sie in Erfüllung gegangen: ihr erstes Buch sollte herauskommen, mit einem illustrierten Titelblatt und ihrem Namen, bei einem angesehenen Verlag. Und dann auch noch in Übersee! Archie sagte:
»My dear girl, du solltest an ein zweites Buch denken. Wie wär’s mit einem Thriller? Ich glaube, das könntest du auch.«
Agatha legte den Kopf schief. »Mir scheint, lieber Archie, du willst auf Teufel komm raus eine Schriftstellerin aus mir machen. Aber wie sollte ich Schreiben als einen Beruf ansehen? Ich habe immer geschrieben, schon als Kind, Gedichte und Geschichten, das gehörte zu meinen Freizeitbeschäftigungen wie Klavier spielen oder Fäustlinge stricken. Ich kann das nicht als eine Arbeit ansehen, die bezahlt werden muss.«
»Und warum bist du nicht bei den Fäustlingen geblieben?«
»Es war mir zu langweilig.«
»Und warum ärgerst du dich über die Geschäftstüchtigkeit von Mr Lane? Soll ich dir mal etwas sagen, Agatha Christie? Du weißt erstaunlich wenig über dich selbst.«
»Das macht mir nichts aus, Archie. Ich interessiere mich nicht besonders für mich selbst. Aber für dich und Rosalind und die Menschen in der Welt. Sie kommen mir alle so seltsam vor.«