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Eine Medusa

Erst wenn die U-Bahnschächte so tief runterführen, dass die Luft in ihnen steht, riecht es nach diesem besonderen Gemisch aus Lehm und Öl, Eisenabrieb und Schotterstaub. Die Londoner Tube verströmt den Geruch durchgängig, die Pariser Metro auf weiten Strecken, die Berliner U-Bahn ausnahmsweise. Unterm Alexanderplatz kann man ihn spüren - nur auf den Tiefbahnsteigen, versteht sich - am Gesundbrunnen und in der S-Bahn Friedrichstraße kommt er vor, sonst nur ab und an. Ich als Berliner bedaure das, denn ich atme ihn allzu gern ein, den erdigen, brandigen Hauch. Obwohl er ja nun wahrlich kein Parfüm ist. Es gibt Leute, denen davon schlecht wird. Mir behagt er schon deshalb, weil ich mit ihm das Bewußtsein genieße, ganz tief unten zu sein, in Sicherheit. Da, wo man verschont bleibt, wenn oben eine Granate explodiert, ein Feuer ausbricht oder ein Baugerüst einstürzt. Doch ich mag den Geruch auch als Geruch. Das Modrige an ihm erscheint mir anheimelnd und das Beißende verlockend. Ich wollte schon immer ganz tief runter, schon als Knirps, und wissen, wie man Tunnels ausschachtet, Kabel verlegt und Kanalisationsrohre ineinandersteckt.

Meine eigene U-Bahnstation weist Spuren meines Lieblingsgeruchs auf - oder bilde ich mir das bloß ein? Nein, ich rieche es. Der »Heidelberger Platz«, Berlins schönster U-Bahnhof, liegt für hiesige Verhältnisse ziemlich weit unten. Er musste die höhere Lage an die hier kreuzende Ringbahn abtreten und sich ins Tiefgeschoss versenken lassen. Daher die Gewölbehalle mit den majestätischen Granitsäulen, die den Tunnel stützen, daher ein Anflug von - ja, jenem Gruft-Duft.

Mein »Heidelberger Platz« ist schwach besucht. Wer im gutbürgerlichen Wilmersdorf wohnt, hat einen Wagen. Nur die Kinder fahren mit dem Zug, die Omis, die Penner, die Studenten und ich. Nicht einmal einen Zeitungs-Kiosk beherbergt dieser Keller noch, kein Kartenverkaufshäuschen, keine Süßigkeitenbude und kein BVG-Büro. Das alles war einmal, die Baulichkeiten sind noch da, aber verrammelt. Heute ist nur noch ein Bettler vorhanden - oder soll ich sagen: ein Musikant? Der Kerl spielt Xylophon und ist aus einem dunklen Grund diesem einsamen Bahnhof treu. Schon oft wollte ich ihn fragen, warum. Ich schiebe es jedesmal auf. Dabei duzen wir uns, wir beiden letzten Freunde des »Heidelberger Platzes«. Als ich ihm kürzlich zwei Mark gab, sagte er: »Hast’n großes Herz. Ich heiße Otwin.« Und fragte nach meiner Lieblingsmelodie. Die beiden oberen Schneidezähne fehlen ihm. Das lässt ihn alt aussehen. Ich sagte ihm, dass ich Hagen heiße, und er spielte für mich »Strangers in the Night«.

Heute ist er nicht da. Außer dem Abfertiger bin ich der einzige Mensch in der festlich erleuchteten Tiefe. Ich nutze das aus und öffne mal kurz mein multifunktionales Köfferchen, um einen Blick in den oben rechts im Deckel eingelassenen Vergrößerungsspiegel zu werfen. Die Fallwinde auf den langen Treppen stoßen einem in die Locken und richten Verheerungen an. Meine Haare trage ich ein bisschen länger über den Ohren, und Frau Maaßen, die ich jetzt aufsuchen will, hat nichts dafür übrig. »Im Westen ist das ja wohl Mode«, sagte sie neulich abschätzig. Ich nahm mir vor, beim nächsten Mal in ihrem Hausflur mit dem Kamm durch die Haare zu fahren, ich darf es nicht vergessen. Da kommt die Bahn, eine A3. Täusche ich mich, oder riecht der Luftzug, den sie mitbringt, eine Spur nach Teer?


Ich habe meine Frau in der U-Bahn kennengelernt. Es war eine jener romantischen Begegnungen, um die man oft beneidet wird, denn die meisten Paare sind sich auf Betriebsausflügen oder Geburtstagsparties erstmals näher gekommen, das ist das Normale, und es eignet sich nicht zum Erzählen. Aber im U-Bahnhof, wo man ja kaum verweilt - außer wenn man Fahrkarten verkauft oder als Musikant Geld erbettelt-, wo man vor der Fahrt enttäuscht ist, wenn man nicht gleich vom eintreffenden Zug aufgelesen und weggetragen wird, und wo man nach der Fahrt so schnell davonstrebt wie es eben geht, auf einem U-Bahnhof trifft man nicht die Frau fürs Leben. Und wenn es geschieht, ist es etwas Besonderes.

Es war am Wittenbergplatz, vormals Endstation der Linie 2. Eine schlanke junge Dame hastete die Treppe rauf, wie die ganze Menge, und verlor dabei einen Absatz. Die hohe Hacke brach so plötzlich und vollständig von ihrem Stiefelchen ab, dass die Frau mit einem lauten »Heh-!« halb zur Seite, halb nach hinten wegkippte und mir, der ich auf das »Heh« hin stehengeblieben war, voll in die Arme plumpste. Hinter mir war zufällig ein bisschen Luft gewesen, der Menschenstrom registrierte die Stockung sogleich und rauschte links neben uns vorbei. Ich hielt das Mädchen im Arm und starrte in ein erschrockenes Gesicht mit herrlichen kohlschwarzen Brauen. Sie sagte: »O Gott, pardon!«

Ich hätte sie gerne längere Zeit so gehalten, aber sie rappelte sich hoch und suchte, ihr Erröten verbergend, methodisch und ziemlich mutig zwischen all den eiligen 17-Uhr-Heimkehrern nach ihrem Stöckel. Ich war hinter ihr stehengeblieben. Als sie sich aufrichtete mit ihrem Absatz in der Hand, sah sie mich mit einem Blick an, den ich später an ihr liebte und der so viel besagen sollte wie: Bitte laufen Sie nicht weg, nur weil ich ein bisschen ungeschickt bin! Ich legte meine Hand auf ihren Rücken und gab ihr einen leichten Druck wie beim Gesellschaftstanz; sie reagierte und stakste die Treppe hoch, anmutig um ihr Gleichgewicht besorgt, denn der eine Schuh war ja nun flach, und sie musste versuchen, sich mit einem tänzelnden Schwanken auf diesen ungleich hohen Stiefeletten aufrechtzuhalten. Oben fanden wir ein ruhiges Eckchen, und ich reparierte da ihren Schuh. Es war ganz einfach: In der Sohle klaffte hinten ein kleines, nicht allzu ausgefranstes Loch, und aus der Stöckelbasis ragte ein stumpfer Zapfen heraus. Man brauchte nur ein wenig Fingerkraft. Sie sah mir zu und überlegte - das gestand sie später ein - wie sie es anstellen sollte, mir ihre Dankbarkeit an einem Ort zu bekunden, der etwas weniger gerammelt voll wäre mit Wilmersdorfer Witwen und Charlottenburger Schuhverkäufem. Ich hatte ähnliche Gedanken und wusste meinerseits nicht recht, wie ich sie in Worte kleiden sollte. Schließlich platzten wir beide in derselben Sekunde los und luden einander kreuzweise zu einem Cappuccino ein. Wir gingen ins »Crystal«, das nur zweihundert Meter entfernt war. Es hieß so nach seinen Lüstern, fiel außerdem durch eine mächtige Papageienvoliere auf sowie durch eine besonders nette Wirtin. Einer von den Vögeln konnte sprechen. Er sagte laut: »Prost, alter Gauner!« Wir blieben, bis die Gaststätte um 23 Uhr schloss. In der Tür brach sich Almut, als sie meinetwegen über die Schwelle stolperte - ich hatte was gesagt, worüber sie lachen musste - ihren Absatz noch mal ab. Ich trug sie zum Taxi. Wir waren schon ein Liebespaar.


Abergläubisch bin ich nicht, aber ich frage mich manchmal, ob nicht solche romantischen Begegnungen einfach zu schön sind, um Steigerungen zuzulassen. Almut und ich verbrachten niemals wieder so beglückende Stunden wie damals im »Crystal«. Aufgeregt waren wir, betäubt vom Glück und schließlich etwas angesäuselt. Später hab ich mir manchmal gewünscht, Almut bräche sich noch einmal einen Absatz ab oder sänke mir zumindest unter Tage in den Arm. Aber sowas passiert höchstens zweimal.

Natürlich war es überflüssig, doch sie hatte jede Menge Komplexe. Zum einen wegen ihrer mageren Figur, an der mir gar nichts fehlte. Dass ihre Brüste winzig waren, schien mir gut zu ihr zu passen, und auch dafür, dass sie eine Banklehre abgeschlossen hatte und auf der Sparkasse in der Girokontenabteilung arbeitete, bewunderte ich sie aufrichtig. Sie aber glaubte, dass nur ein Mädchen mit enormen Formen und einem tollen Beruf wie Fernsehmoderatorin oder Profi-Sportlerin für mich gut genug sei. Dabei hätte ich mich mit so einer Superfrau nie wohl gefühlt.

Ich fand, dass meine U-Bahn-Braut vortrefflich zu mir passte, und ich weiß, sie fand das im »Crystal« absolut auch. Sie gab mir immer wieder diesen Treppenblick: Ich weiß, ich bin unmöglich, nimm mich trotzdem! Der Antwortblick, den ich versuchte, wollte sagen: »Keine Bange, Baby, ich lass dich nicht in Ruhe - du kannst machen, was du willst.«

Leider hat sie das wörtlich genommen.


Es ist Donnerstag, halb vier, die beste Zeit für Kundenbesuche. Das Wochenende hat noch nicht richtig angefangen, der Mensch ist offen für Fragen, die um den Ernst des Lebens kreisen. Andererseits ist es nicht mehr lange hin bis zu den arbeitsfreien Tagen, die Vorfreude hebt die Stimmung und stärkt die Bereitschaft, Bedenken zurückzustellen und einen Vertrag zu unterzeichnen. Frau Maaßen lebt im Osten. Man muss sie alle sanft anfassen, die Kunden von drüben, sie wittern den ganzen Tag Gauner. Zu Recht. Manchmal schmeichle ich mir, der einzige durch und durch ehrliche Versicherungsvertreter auf Berlins Böden zu sein, Umland inklusive. Wenn man, wie Frau Maaßen, nichts als eine Rente hat und einen Neffen großzieht, der so gut wie verwaist ist, sollte man die Verpflichtung spüren, für den Jungen eine Ausbildungsversicherung abzuschließen. Was wird denn sonst bloß aus dem Kind, wo die Arbeitsmarktlage ja hoffnungslos ist und die Tante auch nicht ewig lebt?


Jeder Mensch, der einen U-Bahnwagen besteigt, macht eine Wandlung durch, und ich glaube zu wissen, was für eine. Reisende sind stets ein bisschen beunruhigt und meist in Eile - ist das Fahrzeug zuverlässig, habe ich auch nichts vergessen, komme ich rechtzeitig an? U-Bahnreisende empfinden nicht so. Sie sind von einem fraglosen Vertrauen erfüllt und würden am liebsten für die Dauer der Fahrt die Augen schließen. Ja, ein U-Bahnwaggon hat etwas so Bergendes wie eine Konservendose - er verwandelt seine Fahrgäste in zufriedene Sardinen. Und das Öl, in das wir alle eingelegt sind, die wir hier durch den Untergrund rollen, das U-Bahn-Fluidum, dem ich gern den Geruch zuschriebe, der mich unter Tage so reizt, es ist von einer besonderen Beschaffenheit: ein bisschen trübe, ein bisschen schwer, ein bisschen süß. Ich habe mir lange den Kopf zerbrochen, was diese Flüssigkeit repräsentiert. Die Erschöpfung des Feierabends? Die Müdigkeit des Morgens? Die Bild-Zeitung? Bis ich des Rätsels Lösung in einem Zeitschriftenartikel fand. Es ging darin um die vorgeburtliche Geborgenheit im Fruchtwasser und die Neigung auch der erwachsenen Menschen, diesen Zustand der vollkommenen und glückerfüllten Sicherheit symbolisch oder auf dem Wege der Ähnlichkeit zu wiederholen. Wir alle, die wir hier sanft gerüttelt, in die Kurve gedrückt und von einem grollenden Geräuschmix aus Räderrattern, Motorengedröhn und Bremsenseufzen betäubt werden, wir alle, die wir dasitzen oder an den Haltegriffen hängen, ernst, abweisend und doch hingegeben - wir fühlen uns zuhause in einem schützenden Bauch. Was ist der fötalen Behaglichkeit ähnlicher als der Aufenthalt in einem Wagen, der durch den Leib der Erde zieht? Die Dosenfische, sie sind längst am Ziel - deshalb auch ist die Rate der Zuspätaussteiger in der U-Bahn am höchsten. Alle, die hier fahren, haben nicht nur an demselben Rhythmus teil, sondern auch an denselben Freuden. Die Wonne des Getragenwerdens löscht unsre Sorgen aus.


Warschauer Straße — heute ist das noch eine umwegige Fahrerei mit der S-Bahn über Alexanderplatz; aber wenn erst die Oberbaumbrücke wiederhergestellt ist, könnte ich vom Heidelberger Platz aus durchrauschen und mit Frau Maaßen täglich Kaffee trinken. Was ich mir überlegen werde, denn sie kocht eine Plörre und ist voll von Vorurteilen gegen uns Westler. Aber sie ist eine vielversprechende Kundin - da mit einer großen Verwandtschaft gesegnet, von Sympathie für mich erfüllt und drauf und dran, mich öfters zu empfehlen.

Die Warschauer Brücke überspannt die S-Bahn und das Gleisdelta des Hauptbahnhofs, der eigentlich »Schlesischer Bahnhof« heißt. »Warschauer Brücke« ist aber auch ein U-Bahnhof, einer der ältesten, vom Beginn des Jahrhunderts, weswegen ich ihn verehre. Zu DDR-Zeiten war er geschlossen. Denn hundert Meter weiter südlich verlief die Mauer - in Gestalt von Oberbaumbrücke, Spree und nervösen Grenzern, die hier mal auf einen türkischen Jungen angelegt haben. Der war von der Westseite aus in den Fluß gefallen.

Jetzt wird der Bahnhof restauriert - und die historische U-Bahnlinie erhält ihre Endstation zurück. Vielleicht baut man sogar noch hoch bis zur Stalinallee. Für mich ist das ein Grund zur Freude. Wiewohl ich mich öfter mal frage, ob das alles gutgehen kann. Wieviel Baustellen verträgt ein so dünner Boden wie der Berliner? In der Friedrichstraße müsste die Erdkruste kurz davor sein, einzubrechen. Und so wird das auf farbigen Bauvorhaben-Tafeln angekündigte »Altberliner Flair«, das hier neu entstehen soll, in den Orkus saugen, noch bevor es geschlüpft ist.

Es ist heiß auf der Warschauer Brücke, der leichte Wind kühlt nicht. Unter blauen Abdeckplanen, die den schmucken alten Zierturm neben dem Bahnhof einhüllen, bricht eine Rotte Kids hervor - was hatten die da verloren? Ja, jetzt ist Feierabend; die Arbeiter gehen nach Hause, und die Diebe und Junkies und Obdachlosen drängen in ihre Quartiere. Längst sind die Nächte so warm, dass man auch im Freien schlafen kann - aber was passiert bei plötzlichem Gewitter? Die Kinder hier sind noch ganz grün, einer von ihnen, ein schlanker Schwarzer, ist vielleicht siebzehn. Vorneweg stakst ein Mädchen, eins von der Sorte, die urplötzlich wie wild zu stark wachsen. Ist nur’n halben Kopf kleiner als ich, das Gör, und schätzungsweise vierzehn. Ihre schwarzen Haare sind verfilzt und stehen wie Schlangen vom Kopf ab. Eine Medusa. Doch das Gesicht ist nicht schrecklich, o nein. Sie zeigt es mir deutlich, als sie ihre Rotte über die Brücke fuhrt und auf mich losstürmt, als wolle sie durch mich hindurchmarschieren. Sie lässt es drauf ankommen, und ich, jaja, ich weiche aus. Die Burschen grölen. Von der Schwarzhaarigen höre ich ein »Yeah!«, und dann lacht sie ein krächzendes Lachen. Man sollte diese Kids in großen Keschern fangen und so lange zum Straßenfegen, Müllsortieren und Reinigen der mit Graffitti beschmierten U-Bahnschachtwände einteilen, bis sie wissen, wo der Hammer hängt.


Frau Maaßen wohnt in der Kopernikusstraße, in einem Haus aus dem vorigen Jahrhundert. Ich bin etwas zu früh und nutze die Zeit, mich im Treppenflur kurz zu kämmen. Wenn man wie ich einen natürlichen Kastanienton im Haar hat und außerdem natürliche Wellen, soll man die Haare so lang wachsen lassen, bis beides zur Geltung kommt. Das hat mir Almut auseinandergesetzt, und es hat mich überzeugt. Die Maaßen kann ihre Augenbrauen noch so hochziehen. Macht sie aber gar nicht, heute. Als sie auf mein Klingeln hin geöffnet hat, nickt sie nur mehrfach mit dem Kopf und sagt nach einem Seufzer:

»Herr Schäfer, kommse rin. Kaffee steht schon auf’m Tisch. Stellense sich vor, der Karli ist ausgebüxt...!«

»Karli?«

»Mein Neffe, Sie wissen doch. Ist einfach ab durch die Mitte. Unauffindbar seit vorgestern.«

Das sind ja Neuigkeiten. Die Maaßen forscht mit großen Augen in meinem Gesicht, im Schummerlicht des Korridors erkenne ich, dass ihre Ohren glühen. Sollte sie eine geheime Freude daran empfinden, mir den zu Versichernden, den Knaben, um dessentwillen ich die weite Reise von Wilmersdorf nach Warschau unternommen habe, als abgängig zu melden? Wo bleiben die mütterlichen Gefühle, die sie vorgeblich für den Stromer hegt? Als wir im Wohnzimmer angekommen sind, sehe ich tiefe Ringe unter ihren Augen und einen Zug äußerster Besorgnis um den Mund. Na also. Der Karli ist verschwunden, aber man wird doch wohl alles dafür tun, ihn wieder aufzufinden. Einer Versicherung steht nichts im Wege.

»Wie alt isser denn genau, Ihr Karli?«

»Gerade dreizehn geworden. Nehmse Sahne?«

»Ja danke. Mit dreizehn kann so’n Junge ja schon alleine über die Straße gehen. Machen Sie sich mal keine allzu großen Sorgen.«

»Na, wennse wüssten...«

»Ist die Polizei eingeschaltet?«

»Besser nicht, denk ick.«

»Wieso nicht?«

»Fällt auf mich zurück, wa?«

»Na aber, Frau Maaßen. Sie könn’ Ihren Neffen doch nicht anbinden. Und die Erziehung - für die sind Sie ja nun gar nicht verantwortlich.«

»Nee, das fällt auf mich zurück. Wennse wüssten...«

Da gibt’s also ein Geheimnis. Karli ist scheint’s kriminell oder lebt sonstwie gefährlich. Die Maaßen mag gar nichts erzählen. Doch wozu ist man Vertrauensperson? Abwarten ist alles. Wir trinken Kaffee.

»Und das mit der Versicherung«, sagt die Frau am Rand der Tränen, »das ist ja nun wohl hinfällig, wa?«

»Aber nicht doch, ganz im Gegenteil. Gerade so’n Problemkind wie Ihr Karli braucht den Schutz, das isses doch, ‚n strebsamer Jugendlicher erarbeitet sich zur Not seine Ausbildung selbst, ’n gefährdeter Jugendlicher, der ist drauf angewiesen, dass vorgesorgt wird, nicht wahr? Da ist dann die Versicherungssumme sozusagen der Haltegriff, der ihn vorm Absturz rettet.«

Mir scheint, Frau Maaßen empfindet die Wörter »Haltegriff« und »Schutz« als Trost, sieht ihren Karl schon auf der Straße des Erfolges und ist nun doch bereit, sich mir anzuvertrauen. Ich hole angelegentlich das Notebook raus. Sie redet. Ogottogott, dieses Kind. Aber sie könne nun nicht so schnell gutmachen, was ihre Schwägerin über Jahre hinweg versaubeutelt habe. Das Schlimmste mit Karli sei, dass er sich nicht ausspreche. Man wisse ja nicht, was in ihm vorgehe. Sie sei auf Vermutungen angewiesen.

Und sie erzählt von einer Kinderbande, die ihr Hauptquartier hier im alten Bahnhof gehabt hat, im Mäuseturm. Da ist der Karli immer mitgezogen, da hatte er seine zweite Heimat, seine besten Freunde, auch ein Mädchen ist dabei gewesen, an der er sehr gehangen hat. »Heute fangense ja so früh an, Sie glaubens nicht.« Ich muss an die kleine Gang von vorhin denken und frage mich, ob Karli dabei war.

»Wie sieht er aus, Ihr Neffe? Haben Sie ein Foto?«

Sie steht auf, geht zum Regal und sucht in einem Album. Seit die Bauarbeiten im Bahnhof begonnen haben, sind die Kinder, erfahre ich, zum Alex umgezogen, Karli wohl mit ihnen. Sie kämen nur noch manchmal hier vorbei, vor allem abends, wenn die Bauarbeiter weg sind. Karli ist öfter schon über Nacht ausgeblieben - aber zwei Nächte, das ist neu. »Was treiben diese Kinder denn?«

»Na, klauen, Automaten knacken, solche Sachen ebent.«

»Und... äh ... Drogen?«

»Oh - der Karli nich. Nee, das hätt ich gemerkt.«

Sie reicht mir ein Foto rüber. Netter kleiner Lausejunge, blond, schmal, helle Augen. War er dabei auf der Brücke? Ich kann’s nicht sagen. Hab eigentlich nur die Medusa gesehen - und den Schwarzen.

»Verstehense, dass ich... mit der Polizei... lieber gar nich erst anfangen will? Verstehense?«

Klar verstehe ich. Will gerade - und strecke die Hand aus - ihren Arm ein wenig tätscheln, blicke hoch, und da steht Frau Maaßen mit zuckendem Gesicht und weint. Ihre Ohren flammen.

»Was soll ich denn bloß machen? Herr Schäfer!«

Sie fällt in den Stuhl. Legt die Stirn in beide Hände, und mir kommt das Notebook auf dem Tisch jetzt reichlich albern vor. Ich klopfe der Tante sanft auf die Schulter. Sie fasst sich. Von ihrer Oberlippe wischt sie eine Träne.

Da sage ich:

»Vielleicht kann ich ... helfen ...?« und wünsche sofort, ich hätte es nicht gesagt. Ja, bin ich denn völlig verrückt? In Frau Maaßens Gesicht kommt starke Bewegung. Ein Lächeln arbeitet sich durch ihre Sorgenfalten, und ihre Augen leuchten gegen den Tränenflor an. Sie stammelt:

»Das würden Sie tun?«

Ich räuspere mich. Sie fragt:

»Hamse auch Kinder?«

Ich verneine.

Aber Respektsperson kann ich trotzdem sein. So lasse ich wissen:

»Dem Karli gehört doch nur mal die Meinung gegeigt, wie? Der iss doch im Grunde ‚n guter Junge, he? Wenn man dem das mal ganz klar sagt, dass seine Zukunft aufm Spiel steht...«

Soweit denkt Frau Maaßen gar nicht. Ihr reicht es, wenn der Lümmel aufgefunden und nach Hause geschleift wird, ein bisschen Körperkraft würde das ja erfordern. Und sie ist mit ihrer Arthritis dazu nicht mehr so fähig. Wenn ich den Zugriff übernähme und das Schleifen... Ohrfeigen täten nicht nötig. Sie würde sich dann morgen mit ihrem Bruder in Verbindung setzen.

Aber ich bin nicht in der Stimmung, jetzt mit der Tante auf Streife zu gehen. Schütze eine weitere Verpflichtung vor, hier in der Gegend, und verspreche, die Augen offenzuhalten, auch im Mäuseturm nachzusehen. Frau Maaßen nickt mit dem Kopf. Ihr wird klar, dass sie mein Hilfsangebot ein bisschen zu großzügig ausgelegt hat. Ich packe das Notebook ein.

Sie putzt sich die Nase, bringt mich zur Tür und gibt mir zum Abschied die Hand. Ich springe die Treppen runter, als könnte ich die Medusa und ihren Tross noch einholen.


Draußen geht jetzt ein kräftigerer Wind, aber es ist immer noch heiß. Über die Warschauer Brücke strömen die Friedrichshainer Werktätigen heimwärts. Sie haben alle diese Ost-Verschlossenheit in ihren Mienen - eine Mischung aus Ärger und Gier. Tja, Leute, jetzt kommt der Weststandard, und eine günstige Hausratversicherung sollte drin sein - bevor Karli und seine minderjährige Chefin bei euch einbrechen und den gerade erworbenen Videorecorder abräumen. Ich schwenke rüber zur S-Bahn - nicht ohne vorher kurz hinter die Plastikplanen der Bahnhofsbaustelle gespäht zu haben. Nichts. Um Frau Maaßens willen sollte ich tatsächlich am Alex ein bisschen herumgucken. Zwar überlege ich, ob es nicht besser sei, diese Kundin zu vergessen, aber die Tante ist ja schließlich auch ein Mensch, und als solcher tut sie mir einfach leid.

Am Alex steige ich immer gerne in die U-Bahn um: wegen Grenander.

So heißt der Architekt des Bahnhofs. Halb Berlin hat er untertunnelt, vor allem in den zwanziger Jahren, und mein Schicksalsbahnhof Wittenbergplatz stammt auch von ihm. Ist Heidelberger Platz die schönste, so Alex die großartigste aller Berliner Stationen. Einst lief die Mauer durch das Gewölbe, als Westler konnte man mit der Gesundbrunnen-Neuköllner Linie auch den Alex unterfahren, aber die Züge hielten nicht an, und vom Herumspazieren in den Riesenkellern war nur zu träumen. Und obwohl das jetzt alles schon vier Jahre anders ist, weitet es mir jedesmal wieder das Herz, wenn ich zur Hönower Linie herabsteige.

Vom unteren Bahnsteig her riecht es verführerisch nach Ackerkrume und Schmieröl - ich bin in meinem Element. Ich brauche gar keinen Geheimauftrag von Frau Maaßen, ich habe ganz von selber Lust, hier rumzulaufen. Sei mir gegrüßt, Grenander. Du hattest nicht viel Platz für das Zwischengeschoss, wie? Und konntest auch nicht wissen, dass die Menschen gegen Ende des Jahrhunderts gern mal zwei Meter hoch werden. Jetzt müssen sie ihre Köpfe einziehen, bevor die Tiefe sie aufnimmt. Dort aber werden sie reichlich belohnt. Der Hönower Bahnsteig ist ein grüner Dom, hoch, weit und unwirklich wie die Kultstätte eines verschollenen Stammes Innerirdischer, die nur künstliches Licht kennen. Der einzige Luxus ist Höhe. Der einzige Schmuck sind die Nieten an den vierkantigen Trägern - wenn man von der Wandkeramik absieht. Die erscheint zunächst schlicht grün. Guckt man aber genauer hin, erkennt man, dass der Schimmer changiert. Es sind nur geringe Farbnuancen, worin sie sich unterscheiden, aber die genügen, damit die Wände leben. Später ausgebesserte Stellen erkennt man sofort: an der dicken farbigen Gleichförmigkeit, von der ein deprimierender Schwimmbad-Effekt ausgeht. Auch sonst ist die Entwicklung unterm Pflaster seit Grenander rückläufig. Einst wurden für Fahrkartenschalter Architektenwettbewerbe ausgeschrieben! Heute gibt es nur noch Automaten, ohne jeden Reiz.

Nach dem Mauerfall warf ich mich auf die Ostbahnhöfe. Ich machte den Versuch, Almut an meiner Passion teilnehmen zu lassen, und fuhr mit ihr durch Grenanders Welt. Es klappte anfangs prima; sie hörte sich geduldig meine Ausführungen über Strecken, Waggons und Bahnhofsarchitektur an. Ich vergaß sogar, mich vor ihr zu schämen, dass ich Modelleisenbahner bin und ziemlich viel Zeit und Geld in dieses Hobby stecke. Aber ihre Toleranz war oberflächlich. Und ihre Lust zum Hinausfahren klang ab. Ich mochte sie nicht drängen, also wartete ich. Wir machten unsre erste Reise nach Paris. Danach, so hoffte ich, würde sie sich schon wieder auf die Schiene locken lassen. Von wegen. Jetzt war es an mir, in ihre Passion eingeweiht zu werden.


Dass sie »anders« sei, hatte sie mir gleich zu Beginn gesagt. Sie hatte es ein paar Mal wiederholt und einige geheimnisvolle Andeutungen drumherumgewoben, aber ich wußte nie genau, was es bedeuten sollte. Sie vielleicht auch nicht, dachte ich unbesorgt. Wer ist denn schon wie alle? Klar war mir lediglich, dass dieses Anderssein mit Sex zu tun hatte, das war aus dem Zusammenhang ihrer Andeutungen hervorgegangen.

Während unserer Pariser Wochen - es war die Zeit, als wir täglich miteinander ins Bett gingen und uns immerzu Streiche spielten: Sie versteckte meine Schuhe und meine Krawatte, und ich praktizierte ihr eine lebendige Schnecke in die Handtasche - während dieser Zeit vergaß ich ganz, dass da etwas nicht stimmen sollte. Sie erschien mir wunderbar normal, ich konnte, abgesehen von ein paar kleineren Eigentümlichkeiten, keinen Unterschied zwischen ihr und den Liebhaberinnen meiner Jugendjahre entdecken. Während ich nichts Böses ahnte, dachte sie nur eins: Wie sag ich’s ihm? Und sie verfiel auf eine glänzende Idee: Sie verlegte ihre Andersartigkeit in die Vergangenheit. Nur in dieser Zeitform konnte sie mir alles sagen.

Wir saßen auf einer Bank im Jardin de Luxembourg. Es war Sommer. Ich hatte eine Flasche mit Sprudel dabei, Almut eine Tüte mit Blätterteigbruch. Ich war glücklich. Sie nicht. Wie kam es nur, dass ich es nicht merkte? Glück macht blind. Der es einem schenkt, denkt man, muss davon im Überfluss haben.

»Du hast mich nie gefragt«, sagte sie, »was ich meine, wenn ich sage, ich sei >anders<...«

»Na, dass du auf Frauen stehst, kann ich mir nicht vorstellen -«

Sie lachte. Es klang komisch. Ich sprach schnell weiter:

»Also, ich finde, das einzig Ungewöhnliche an dir sind deine langen Beine, deine schlanken Hüften, deine schönen -«

Sie unterbrach mich:

»Jaja, das ist es ja. Es ist schon vorbei mit dem Anderssein. Du hast es mir ausgetrieben. Jetzt bin ich wie normale Frauen...«

Sie wandte sich mir zu, und ich wollte sie in den Arm nehmen, um die Versöhnung nach einem nie erfolgten Zerwürfnis, nach der bloßen Drohung einer Krise zu besiegeln, hatte dafür auch schon eine passende Antwort auf den Lippen, nämlich ein launiges »Das ist doch meine Rede«, als ich sah, dass sie mir die Blätterteigtüte hinhielt und selbst kaute. Ich nahm ein bisschen Gebäck und begriff, dass es zu früh gewesen wäre, die Sache beizulegen. Jetzt, wo die Gefahr nicht mehr akut, sondern ins Dunkel der Vergangenheit abgeschoben schien, konnte man über sie reden. Und ich bat Almut, mir alles zu sagen.

Sie holte aus, sprach über ihre Jugend, stockte dann und fragte, ob ich mir unter »weiblichem Exhibitionismus« etwas vorstellen könne. Ich musste lachen, was sie verstimmte. Ich beherrschte mich und sagte, ich dächte dabei an Stripteasetänzerinnen. Sie wandte ein, dass diese Mädchen häufig gar keine echten Exhibitionistinnen seien. Sie machten es des Geldes wegen und hätten keine wahre Freude dran. Bei ihr sei es folgendermaßen:

Sex in der Abgeschlossenheit des Schlafzimmers habe ihr früher wenig bedeutet. Sie habe es dem Mann zuliebe getan. Was sie brauchte, war ein Zuschauer, also eine dritte Person. War die zugegen und als Voyeur glücklich, während sie es trieb, dann - und nur dann - kam sie auf höchste Touren und ging, wie sie es ausdrückte, ins Nirwana ein. So sei sie nun mal gestrickt gewesen, da habe sie gar nichts dafür gekonnt. Sie hatte sich immer, als junges Mädchen bei ihren ersten Liebschaften, gewundert, wie wenig sie empfand. Bis sie einmal, bei Sex im Freien, sich beobachtet glaubte und auch tatsächlich beobachtet wurde. Da plötzlich durchfuhr sie der große Schauer. Und sie wusste: So geht’s. Seitdem brauchte sie für ihre Lust einen Mann mehr als andere Frauen.

Almut redete sich alles von der Seele. Sie sah zuerst in ihrer Veranlagung einen Makel und entschloss sich, in Therapie zu gehen. Sprang aber vor der ersten Sitzung wieder ab. Mittlerweile hatte sie einen lebenspraktischen Ausweg gefunden: die Phantasie. Wenn sie mit ihrem damaligen Freund ins Bett ging, stellte sie sich vor, es stünde ein Fremder hinter der Gardine, und schon ging alles gut. Aber die Vorstellungskraft erlahmte mit der Zeit. Nachdem Almut ihr alle Varianten entlockt hatte, einschließlich des unterm Bett versteckten Einbrechers, der entzückt wichste, während über ihm die Matratzenfedem kreischten, war Schluss. Verzweifelt blätterte sie im Telefonbuch. Und sie rief das Sex-Krisentelefon einer alternativen Beratungsstelle an.

Die Frau dort am Telefon habe ihr, so Almut, das Leben gerettet. Leider habe sie ihre Retterin nie persönlich kennengelernt - es gehört zur Philosophie dieses Sex-Krisentelefons, alles im Anonymen zu belassen - aber sie müsse öfter in herzlicher Dankbarkeit an sie zurückdenken. Diese Frau nämlich habe gemeint, Almut sei keine Bohne pervers, sondern nur »anders« als die meisten - wobei man sich wundere, wenn man mal genauer hingucke, wieviele Menschen in dieser oder sonst einer Weise »anders« seien. Kurz gesagt: Almut solle auf die besondere Ausprägung, in der sich das sexuelle Verlangen bei ihr äußere, stolz sein und alles lassen, wie es sei. Und sich per Annonce die richtigen Partner suchen. So geschah es dann.

Ja, über eine Anzeige, die Almut selbst in der Stadtteilzeitung »Wo denn« aufgegeben hatte, war ein junger Mann in ihr Leben getreten, der Ralph Schaufuß hieß. Er kam nicht allein, sondern in Begleitung seines Cousins und Spezis Lennart Miller. Die beiden hatten die Message, welche der verklausulierte Anzeigentext nur solchen Kandidaten offenbarte, die besser wussten als ich, was eine Exhibitionistin ist, genau verstanden. Man traf sich, war einander sympathisch, kam überein, und alles lief wunderbar. Bis Lennart sich mit einem dänischen Fotomodell verheiratete und nach Odense zog. Almut und Ralph suchten Ersatz, machten aber nur deprimierende Erfahrungen. Da verliebte sich Almut. In mich.

»Und jetzt«, sagte sie atemlos, »ist es so schön, dass ich gar keinen Dritten mehr brauche.«

Die Freude, die ich empfand, als sie mir die Hände auf die Schultern legte, war nicht rein. Zu deutlich spürte ich, dass ihr Anderssein noch nicht ausgestanden war. Aber ich zog sie an mich und drückte sie fest; ich fühlte, dass die Blätterteigtüte ihren Händen entglitt und ihren Inhalt über meine Hose entließ. Dafür konnte Almut nichts. Ich hielt sie zu fest. Ich wollte den letzten Exhibitionismus aus ihren Gliedern herauspressen. Gleichwohl war unser Einverständnis, da auf der Bank in Paris, so etwas wie eine Verlobung. Sie hatte mir gesagt, wie es um sie stand, wenn sie auch unaufrichtig gewesen war bezüglich der Zeit, und ich hatte trotz dieser Enthüllung an ihr festgehalten. Mir ging es wie ihr: Ich hatte nach langem Suchen endlich eine gefunden, die zu mir passte, und war jetzt nicht mehr bereit, Einwände zuzulassen. Wir taten so, als seien wir über alles erhaben. Übermütig gossen wir die Limonade auf den Rhododendron, der sich mit uns freuen sollte.


Die Atmosphäre im Untergrund drückt mir auf die Schläfen, ich sollte nach Hause fahren. Was mich hält, ist der Geruch, der eine kräftige Schuhcremenote entwickelt hat. Ich wandere den Bahnsteig entlang und schnuppere. Seinerzeit, als das hier alles neu war, sind die Menschen nur so in die Tiefe geströmt; sie fuhren zur Arbeit, sie fuhren nach Hause, sie machten Besuche, sie kauften ein - alles mit der U-Bahn, und es war eine Freude, Schulter an Schulter in diesem Mutterleib-Verkehrsmittel auszuharren und seine Sorgen zu vergessen. Dann raus auf den Bahnsteig, hinein ins Gedränge, treppauf, treppab, und die Absätze brachen nur so von den Stiefeletten. Ende der zwanziger Jahre hat man U-Bahnzüge eingesetzt, die an die tausend Plätze boten - und sie blieben nicht leer. Heute dagegen... Mir scheint, es werden langsam immer weniger im Bauch der Stadt, sogar hier unterm Alex. In der Epoche des Autos sind U-Bahnhöfe historisch. Dazu passt, dass die Leutchen, die sich drunten versammeln, gar nicht so wirken, als läge ihnen was an Fahrt und Vorwärtskommen. Sie gleichen jenen hingestreuten Figürchen auf Städtebaumodellen, die nur dafür gedacht sind, das Modell zu beleben und der Phantasie des Betrachters dabei zu helfen, sich den Bahnhof oder das Einkaufszentrum in Benutzung durch allerlei Volk vorzustellen. Da haben wir zum Beispiel zwei Knaben, die unauffällig am Kaugummiautomaten rumfummeln: schweigend, mit kleinen Bewegungen - genauso unbeteiligt, still und beiläufig wie die hölzernen Miniaturmenschen auf Städtebaumodellen. Die beiden lassen von dem Automaten ab und hocken sich auf den Boden. Der Kleinere zieht ein Taschenmesser raus und geht dessen Funktionen durch. Der Größere guckt sich um und pfeift - einen kurzen, juchzenden Pfiff, der, wie mir scheint, zum Zwischengeschoss hochsteigt und da verklingt. Jemand antwortet von oben mit einem ähnlichen Pfiff. Und gleich darauf turnt eine ganze Bande über die Treppe runter und gesellt sich zu ihren Kumpels. Die Neuankömmlinge sind nicht so ruhig wie die beiden Automatenknacker. Sie springen herum und schreien, einer singt, einer flucht. Nein, das sind keine Statisten auf einem Städtebaumodell, die hier in die Wirklichkeit fallen. Gerade will ich mich darüber wundern, wie dicht doch das Gelände der Berliner Verkehrsgesellschaft mit Jugendbanden besiedelt ist, als mir ein langes, dürres Reff ins Auge fällt, das eine Colabüchse schwenkt: die Medusa. Na klar, das sind sie, meine Pappenheimer. Warum merke ich das erst jetzt, ich Dummbeutel. Das kommt davon, wenn man zu lange im Untergrund rumlungert. Das Hirn funktioniert nicht mehr richtig - infolge Sauerstoffmangels.

Na schön. Ziehn wir’s durch. Ich atme einmal schnaubend aus und drücke dabei Zwerchfell und Rippen nach innen - so kommt Kraft, kommt vor allem deren Anschein über mich. Ich trete vor die Gören hin, als gehörte ich zu ihrer Gang, mache dabei aber eine fast polizeiliche »Keine Faxen«-Geste mit der Hand. In Situationen wie dieser kann ich mich stets auf meine Stimme verlassen. Sie ist so tief und kräftig, dass sie überall durchdringt.

»Wer von euch ist Karli Maaßen?«

In der Tat - ein Sekundenbruchteil lang regiert der Schreck. Danach bricht Tumult los. Die lachen, grölen und biegen sich, als sei »Karli Maaßen« das Witzwort der Saison und ich ein Fernsehmoderator, der den Saal zum Kochen bringt. Grenanders türkise Kacheln werfen das Getöse hohl zurück. Ich verziehe keine Miene. Da springt die Medusa in die Höhe. Als sie vom Boden hochschnellt, überragt sie mich. Ihre Haarschlangen steigen kurz auf wie anklagende Finger. Sie kräht:

»Ick bin - der Karli Maaßen!«

Gebrüll von allen Seiten. Dieser Name, so schlicht er ist, scheint einen enorm komischen Effekt zu machen. Mir wird mulmig. Aber die Gereiztheit ist stärker. Und so ist der Griff, mit dem ich den echten Karl Maaßen, als ich ihn urplötzlich zu erkennen glaube, am Arm packe, ziemlich fest.

»Anfassen is nich!« ruft der Schwarze mit gedämpftem Alarm in der Stimme, aber ich bin in Fahrt und kümmere mich nicht drum.

»Du kommst sofort mit nach Hause«, donnere ich los, »Sonst passiert’s.«

»Wat denn... wat denn?« schnattert der Kleine, dessen Kinn aus der Halterung rutscht. Da passiert’s wirklich, zwar nicht dem Karli, sondern mir und so überraschend, dass ich, der ich sonst gut reagiere, hilflos japse. Die Burschen müssen das trainiert haben, professionell. Zwei von ihnen schnellen mir ihre Absätze in die Kniekehlen, so dass ich einknicke und plump zu Boden rutsche; ein dritter, mir scheint der Schwarze, haut mir auf das Nervenknäuel oberhalb des Ellenbogens, so dass Karli freikommt, sich aber, als wolle er von mir nicht lassen, in mein Revers verkrallt. Einen Moment lang bin ich von den Füßen, Knien und Fäusten meiner Feinde regelrecht eingekeilt und unfähig, mich zu rühren. In diesem fiesen Moment beugt sich die Medusa über mich und spitzt die Lippen. Sie spuckt mich an. Eine Haarschlange berührt meine Stirn, ihre Finger streifen meine Brust. Jesus, was ist das hier für eine Show!

Von der Treppe ertönt eine Stimme:

»Was ist los?! He -!«, und es scheppert und rauscht. Der Zug fährt ein. Die Kids lassen von mir ab und türmen. Ich wende den Kopf nach meinem Retter. Er ist ein Fahrgast wie ich, ein vierschrötiger Herr. Er fragt:

»Alles in Ordnung?«

Ich nicke folgsam und sammle mein Köfferchen auf, das heil und vorhanden ist, immerhin. In der Tat tut nichts weh, nur der Musikknochen dröhnt, und in den Kniekehlen zieht’s, doch was Ernstes ist es nicht. Karli, wo steckt Karli? Die Gang ist in die U-Bahn abgetaucht, der Schwarze hängt noch in der Tür, mit dem Rücken nach draußen, er winkt mir zu. Die Abfertigerin plärrt ihr »Zurückbleiben!«, der Zug braust raus. Ich schüttle entgeistert den Kopf. Über die Bande? Über Karli? Nein, über mich. Ich wische mir den Speichel der Medusa vom Kinn.


Jetzt täte mir Leos Gesellschaft gut, also beeile ich mich, ans Tageslicht zu kommen und in die Reichweite einer Telefonzelle. Leo ist mein Freund. Er ist sogar mein Schicksal. Er war es, der mir meinen ersten Vertreterjob vermittelt, mich mit dem Spaß am Geldverdienen angesteckt und mich alles gelehrt hat, was ich fürs Berufsleben brauche. Auch dass ich das Studium aufgegeben habe, ohne es länger als ein paar Wochen zu bereuen, verdanke ich ihm, meinem Vorbild. Er ist zweifellos intelligenter als ich und als Vertreter zufrieden. »Du kannst dein Studium jederzeit wieder aufnehmen«, sagte er. »Als Luxus ist es in Ordnung. Aber als Berufsvorbereitung? Der Mensch, der heute im Arbeitsleben vorankommen will, muss vor allem eins können: verkaufen. Und genau da liegt dein Talent.« Ich war stolz, dass er an mich glaubte. Er tut es immer noch. Und ich, ich glaube an ihn.

Viel haben wir nicht gemein. Mit Modelleisenbahnen hat Leo, auch wenn er mich mit Spott verschont, nichts im Sinn. Schwimmen und Radfahren bedeuten ihm nichts. Und dass meine Ehe mit Almut schon nach kurzer Dauer in die Krise geriet, kreidet er mir als Schwäche an. Na schön, auch als Ehemann ist er der Begabtere, aber das ist keine Kunst bei Magdalena. Sie, Leos Frau, ist eine blonde Polin mit Stupsnase und Wespentaille, und ihre Freundlichkeit ist unerreicht. Das Paar hat zwei Kinder. Der fünfjährige Lukas ist mein Patensohn und gibt überall mit mir an. Wer hat schon einen »Onkel« mit Eisenbahn? Laura ist erst ein paar Wochen alt und Leos ganzes Glück.

Leo und ich sind Kollegen, wir arbeiten beide für die KWP-Versicherung und müssten Konkurrenten sein, aber bis jetzt hat sich da nichts verschärft. Manchmal schlucke ich, wenn er einen dicken Fisch an der Angel hat, während sich bei mir gar nichts tut, und manchmal schielt er, wenn Kopelke, unser Verkaufsleiter, mir ein Extralob spendet und mich zur Schulung der Neulinge einteilt, weil mein pädagogisches Können mehr gilt. Aber das sind Kleinigkeiten. Im großen und ganzen halten wir zueinander.

Erleichtert wird uns das, weil er älter ist und schon im Geschäft war, als wir uns kennenlernten. Das ist sieben Jahre her, aber unser Meister-Schüler-Verhältnis, von Sympathie und Ironie durchwirkt, ist geblieben, wie es war. Bestimmt hat’s auch damit zu tun, dass ich nicht allzu neidisch bin. Prämienmäßig habe ich Leo längst nicht eingeholt - ich akquiriere immer noch Kleinkram, während er mit Betrieben verhandelt. Aber ich hab’s nicht eilig mit dem ganz großen Geld. Almut war mit meinem Einkommen zufrieden; und jetzt, wo sie nicht mehr da ist, leg ich ganz schön was zurück. Eine Modelleisenbahn verschlingt eben nicht so viel wie eine Familie. Obwohl sie, die Bahn, schon ein ordentlicher Kostenfaktor ist. Nichtkenner reißen die Augen auf, wenn ich verrate, was ich jährlich verpulvere. Seit Juni dieses Jahres gibt es den ICE im fertigen Modell. Die Preise?

Astronomisch. Ich werde warten, bis die ersten Exemplare gebraucht zu haben sind. Sofern Lukas mich lässt. Er drängt schon.


Leo hat vorgeschlagen, dass ich zu ihm nach Neukölln komme und wir zwei uns bei einem Gläschen erholen. An sich bin ich kein Kneipenhocker. Aber wenn ich mit Leo allein sein will, lässt es sich anders nicht machen. Bei Dittrichs zu Hause ist es ziemlich eng, und ich mag Lukas nicht abweisen, wenn er kommt und mich bestürmt, ich solle ihm eine Dampflok zeichnen. Also klingle ich Leo runter.

Er kommt im offenen Hemd, den Schlüssel in der Hand, sich mit der freien Hand den Nacken kratzend. Sonst tritt er - das ist berufsbedingt - stets formvollendet auf. Diese Hitze kocht uns alle weich. Statt des üblichen »Na, Junge!« sagt er nur schnaufend: »Na-«. Ich klopfe seinen Ellenbogen.

Ein paar Minuten später sitzen wir im Shangri-La, einer Pinte, die drei verschiedene Versionen chinesischen Huhneintopf anbietet, aber auch Gäste willkommen heißt, die nur trinken wie wir. Ich halte es mit Frankenwein. Leo trinkt Bier. Er sieht geschafft aus. Seine Sorgen gelten zur Zeit seinem Geburtstag. Er wird demnächst vierzig und hat das Gefühl, er müsse groß feiern. Ich hätte ihn gern auf eine intimere Runde eingestimmt, aber er ist schon entschlossen.

»Warte, bis du so weit bist, mein Junge«, sagt er. »Schlimm genug, dass die Jugend vergeht. Da will man doch wenigstens zeigen, dass man noch Freunde hat. Prost, Hahn.«

Seit Baby Lukas versucht hat, meinen Namen auszusprechen und dabei irgendwo im Mittelteil steckengeblieben ist, nennen mich die Dittrichs »Hahn«. Und ich kann froh sein, wenn sie nicht, wie es Magda schon rausgerutscht ist, »Gockel« zu mir sagen.

»Hör zu, du Manta-Fahrer«, sage ich, »wenn du doch mal die U-Bahn nimmst und am Alex umsteigst, solltest du dich vorsehen.« Und ich erzähle. Leo reibt sich die Nase. Seiner Ansicht nach habe ich alles richtig gemacht, und da es gut möglich ist, dass Karli einen Schreck gekriegt hat und heute abend schon bei seiner Tante auf der Matte steht, könnte sich die Angelegenheit rentieren. Denn Dankbarkeit und Verpflichtungsgefühl einer ganzen Sippe werden sich über mich ergießen.

»Mein lieber Mann«, sagt Leo bewundernd, »du lässt nichts aus, was? Ruf die Alte gleich morgen an. Damit sie sieht: Du fühlst mit.«

»Ich kann sie nicht anrufen, sie hat kein Telefon. Ich weiß nicht mal, ob sie eins haben will. Diese Ossis verstehen nichts von Konsum und nichts von Kommunikation. Sie sehen nicht ein, warum sie einen Apparat bezahlen sollen, wenn sie sich unterhalten wollen.«

Wir bestellen noch mal dasselbe, und dann muss Leo was loswerden. Seit meiner Trennung von Almut hat er den besseren Kontakt zu ihr. Er versuchte damals, zwischen uns zu vermitteln, aber jetzt hütet er sich, mir von ihr und ihr von mir was zuzutragen. Er ist so diskret, wie man es als Versicherungskaufmann nur sein kann und im übrigen auch sein muss. Ich schätze das äußerst an ihm. Aber manches Mal hat er einen Auftrag. So auch heute.

»Sie lässt dir ausrichten... und sie hofft, du verstehst... dass sie an eine neue Bindung denkt.«

» --- «

»Das bedeutet: Ihr zwei müsst über die Scheidung reden.«

Pause. Seit langem schon ahne ich, dass meine Frau und ich nicht mehr zusammenfinden. Aber ein anderer?

»Wer isses? Kenn ich den Knaben?«

»Bestimmt nicht, ’n Kollege von der Sparkasse. Einer, der erst kürzlich dazugekommen ist. Aus der Chefabteilung. Sie ist mächtig stolz, fällt die soziale Leiter nach oben.«

Ich schiebe das Weinglas beiseite. Der Schweiß, der mir auf die Oberlippe tritt, kommt nicht von der Hitze. Leo guckt diskret in seinen Humpen. Ich schlucke.

»Na schön, ich ruf sie an.«

»Ich sollte dich ein bisschen vorbereiten, damit du nicht... Sie hatte Schiss, es dir selbst zu sagen.«

Ich grinse in mich hinein.

»Dieser Leitende von der Sparkasse - weiß der, was auf ihn zukommt?«

»Das lass mal dem seine Sorge sein.«

»Warum muss sie ihn gleich heiraten? Sie kennt ihn doch kaum, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»O Hahn, lass deine Eifersucht im Stall. Du weißt doch, wie Almut ist. Sie will den Ring. So wie die meisten.«

»Sie hat doch noch unsern.«

»Hahn!«

»Er wird sie vor die Tür setzen, wenn sie mit ihrer Masche rausrückt.«

»Hahn -«, er legt mir die Hand auf den Arm, »vergiss es. Sturkopp! Es ist manchmal wirklich nicht einfach mit dir. Mensch, Junge, die Geschichte ist vorbei.«

Aus seinen runden schwarzen Augen zuckt ein verächtlicher Blitz. Er erwartet von mir Konsequenz. Um ihn zu versöhnen, übernehme ich die Rechnung. Wir winken dem Wirt. Ich greife in mein Jackett und taste nach meiner Brieftasche. Ich rutsche mit meinen Fingern die leere Innentasche längs. Da war, ja ja, den ganzen Abend ein Gefühl von ungewohnter, unangenehmer, bedrohlicher Leichtigkeit über der Herzgegend, ich hatte es mir nur nicht ganz zu Bewusstsein kommen lassen. Leo starrt mich an, er hat verstanden. Ich sehe die Medusa über mir. Was da mein Hemd gestreift hat, ist nicht ihr Finger gewesen, sondern eine Kante von schwarzem Rindsleder. Ein Geschenk von Almut, diese wunderschöne, seidengefütterte Brieftasche. Schätzungsweise vierhundert Mark waren drin. Und von der Umweltkarte über Bahn- und EC-Cards bis zum Personalausweis alles, was den Menschen in den Augen der Banken und Behörden zum Menschen macht.

Fremde in der Nacht

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