Читать книгу Fremde in der Nacht - Ingo Rose, Barbara Sichtermann - Страница 6
ОглавлениеMittsommernacht
Am 5. Januar des Jahres 1957 fuhr wie jeden Tag am frühen Morgen der Personenzug 341 von Sondrio (Veltlin) nach Milano Centrale. Auf dem Führerstand der E 626 haben der 59jährige Lokomotivführer V. und der 51jährige Hilfsmaschinist G. Platz genommen. Beide versuchen mit scharfem Blick den milchigen Vorhang vor ihnen zu durchdringen, der die Sicht auf wenige Meter beschränkt: Einmal mehr verhüllt dichter Nebel die Mailänder Bannmeile. Eben hat es drei Knallsignale gegeben; danach pflegt das Personal den Zug scharf abzubremsen, da der provisorische Viadukt bei Monza in Sichtweite kommt. Aber an diesem Morgen bremst Zug 341 nicht ab.
Da werfen auch schon erste Stöße die Fahrgäste quer durchs Abteil. Funken blitzen von überallher auf, als der Wagen nicht mehr auf den Schienen, sondern auf dem Schotter rollt. Mit einem gewaltigen Krachen legt sich das Gefährt auf die Seite, und im Abteil fliegt ein Fahrgast auf den anderen. Das Wagenfenster ist jetzt dort zu finden, wo vorher das Wagendach war. Mit Mühe können es die Reisenden öffnen, um den Wagen zu verlassen. Dieser liegt im Areal einer Wollfabrik. Im Abteil fehlen zwei Frauen. Sie sind verschwunden. Von einer der beiden sind nur die Schuhe gefunden worden, makabrer Überrest!
Die Lokomotive war auf der Böschung geblieben, zwar nicht mehr auf dem Gleis stehend, aber doch aufrecht, mit eingedrücktem Führerstand. Der Lokomotivführer war tot, sein Gefährte schwer verletzt. Der nachfolgende Wagen erster Klasse hatte sich, nachdem die Kupplung zerrissen war, freigemacht und die Trennmauer zur Lastwagengarage der Wollfabrik eingedrückt. Drei Wagen wurden nach vorne katapultiert und kamen kreuz und quer über die Gleise zu liegen. Der fünfte, der Gepäckwagen, und der sechste stürzten in die im Bau befindliche Unterführung.
Da glauben die Leute, dass erwachsene Menschen, die sich mit Modelleisenbahnen beschäftigen, vergessen hätten, ihre Kinderschuhe abzulegen, und vom Ernst des Lebens nichts verstünden. Ich habe es aufgegeben, mich gegen solche Verdächtigungen zur Wehr zu setzen, man macht sich damit nur klein. Leos Bedenken gegen mein Hobby konnte ich zerstreuen, indem ich ihm anvertraute, dass ich nicht nur Loks und Wagen verkoppele und Schienen auf Regalbretter klopfe, sondern auch Eisenbahnunglücke sammele. Ich besitze mehrere große Ordner mit Berichten von Zugkatastrophen - nach Möglichkeit mit Bildern. Manchmal hocke ich lange da und starre auf das Foto der zerstörten Dampflok »Dl« von Pomponne, die 1933 in den Express Nancy-Paris hineingedonnert ist. Man sieht nur noch an dem mächtigen Frontzylinder, dass es sich um eine Lokomotive handelt. Der ganze Rest, Räder, Puffer, Pleuelstangen, ist zerstoßen wie von einem kosmischen Steinschlag. Immer wenn Lukas bei mir ist, arrangieren wir im Zugzimmer Eisenbahnunglücke. Mein Patenkind ist von derselben Leidenschaft beseelt wie ich. Oder habe ich ihn angesteckt? Egal. Dass es in so jungen Jahren schon losgeht, war mir neu. Mit fünf, dachte ich, will man, dass die Eisenbahn fährt, nicht, dass sie verunglückt. Bis Lukas mir bewies, dass auch ein kleines Kind den Sinn fürs Verhängnis schon mitbringt.
Die meisten Menschen sind zu träge, um ein Ereignis wie das Unglück von Monza in Gedanken nachzuerleben - angefangen von dem Moment, wo die gleitende Bewegung der korrekten Fahrt erste Stockungen erleidet, die aber, da sie als Fehler der Strecke oder der Radlage gedeutet werden können, nur mäßige Unruhe auslösen, - bis zu dem fatalen Augenblick, da der Wagen aus dem Gleis springt, schlingert und kippt. Erst wenn er umstürzt, vertiefen die akustischen Schocks des Krachens und Quietschens die Angst zur Gewissheit: »Jetzt ist es aus.« Die Menschen erstarren erst und schreien dann im Griff der Panik. Wie V., der 59jährige Lokomotivführer, empfunden hat, mochte ich mir nie zu Ende ausmalen. Vielleicht, weil ich nicht anders kann, als mir vorzustellen, dass sein jäher Tod infolge des Schlages gegen den Führerstand ihn vorm Bewusstsein der Katastrophe bewahrt hat. Sollte es doch anders gekommen sein, und sollte er gewusst haben: »Vorbei-!«, ist dann in der Sekunde des Todes zum Horror vor dem Ende die Qual der Schuld hinzugetreten? Hat er sich zugeschrien: »Ich hätte bremsen müssen?« Ich denke: Ja. Almut meint: Nein.
Wie gern habe ich ihr aus meinem Lieblingsbuch, dem in einem Züricher Verlag herausgekommenen Werk mit Titel »Katastrophen auf Schienen« von Ascanio Schneider und Armin Mase vorgelesen, besonders das Unglück von Monza. Denn damit hat es was auf sich. Ich selbst, Hagen Schäfer, wurde an eben dem Tag geboren, an dem es geschah, sogar fast um dieselbe Stunde. Almut legte die Hand vor den Mund, als ich es ihr erzählte. Aber dann grinste sie. »Meinst du, dass das was bedeutet?« Ich zuckte die Achseln. Und gestand ihr nicht, dass ich manchmal glaube, der wiedergeborene Lokführer V. von Monza in Person zu sein. Sie hätte mich, zu Recht, ausgelacht und ein Gedankenspiel zerstört, das nur V. und mich etwas angeht.
Ich hatte Lehrer werden wollen. So einer wie Herr Engelbrecht, der Deutsch gab und unter meine Aufsätze die besten Noten schrieb, die ich bekam, und mit dem ich immer noch in Kontakt stehe. Ich war sonst in Sport nicht übel, und so lag es nahe und alle fanden es richtig, dass ich Deutsch und Sport studieren sollte, um später mal beides zu unterrichten. Dann aber hieß es: Lehrer werden auf absehbare Zeit nicht mehr gebraucht, und ich sollte mir überlegen, was sich mit meinen Talenten und Semestern sonst noch anfangen ließe. Leute, die gut reimen, von Zehnmeter-Brettern springen und die schrecklichsten Eisenbahnunglücke auswendig hersagen können, erwerben mit ihrem Qualifikationsprofil nicht schon den Anspruch auf die Beamtenlaufbahn. Meine Mutter sorgte sich sehr. Mein Vater hatte sowieso vom Studium abgeraten. Seine Vorstellung von einem ordentlichen Beruf verband sich mit Handwerk und machte vor jeder Art Reflexion entsetzt Halt. Aber ich gab nicht so schnell auf - schon um es dem Alten zu zeigen. Ich fuhr nach Nürnberg zu einem Kongress, der sich mit der Zukunft des Lehrerstandes beschäftigte. Dort lernte ich Leo kennen.
Nicht dass er etwas mit der Pädagogenzunft zu tun gehabt hätte - er begleitete nur seine damalige Freundin, die schon am Gymnasium unterrichtete und eine Arbeitsgruppe leiten sollte: »Ist Teilzeit die Lösung?« Leo durfte nicht zuhören, das hätte sie nervös gemacht. So ging er raus in den Park neben der Schule, wo die Tagung stattfand, und da begegneten wir uns. »Na?« sagte er zu mir. Wir kamen ins Gespräch - über Berlin, aus dem wir ja beide herbeigereist waren. Ich fragte Leo, welches Fach er unterrichtete, und er sagte: »Sicherheit.« Und erzählte von seinem Beruf.
Ich hatte später, als ich längst erfolgreich als Vertreter arbeitete und bei meinem Stammhaus hochangesehen war, öfter ein schlechtes Gewissen, da ich es ja nun in einem Job zu etwas brachte, für den ich gar nicht ausgebildet war. Schon damals in Nürnberg aber hat Leo mir verraten, dass von hundert Versicherungsvertretern achtundneunzig als Seiteneinsteiger anfangen, die einfach mal ihr Glück probieren. Vierzig Prozent etwa bleiben dabei, die Branche ist Fluktuation gewohnt und dennoch wachstumsorientiert, also flexibel.
»Ich war Hotelmanager«, gab Leo zu, »und Kopelke, unser Verkaufsleiter, Kapitän zur See.« Sie hatten sogar einen ehemaligen Eintänzer dabei und eine Meeresbiologin. »Vielleicht wär’s ja auch was für Sie.« Ich lachte geschmeichelt und schüttelte den Kopf. Leo deutete auf das Transparent über dem Eingang der Schule, auf dem der Slogan des Kongresses - irgendwas mit »Keine Zukunft...« - geschrieben stand und machte ein paar Bemerkungen über die alles in allem ziemlich miese Stimmung unter den jungen Lehramtskandidaten. Ich sagte: »Ich bin der geborene Pauker. Ich weiß immer alles besser.« Darauf Leo: »Wenn das wirklich stimmt, sollten Sie mich in den nächsten Tagen mal aufsuchen.«
Er gab mir seine Karte. So fing es an.
Es war der Anfang unserer Freundschaft - und eines neuen Lebens für den nicht besonders rührigen Germanistikstudenten Hagen Schäfer. Zwar fühlte ich mich nach wie vor motiviert und imstande, vor eine Klasse zu treten und ihr zu erläutern, warum es schade ist, wenn der Genitiv ausstirbt, aber die großen Umwege, die man auf der Universität betreffs dieses Ziels einzuschlagen hat, schienen mir immer sinnloser. Leo betraute mich mit ersten Akquisitionen als sein Stellvertreter, und ich machte meine Sache gut. »Wo bleiben die Anfängerfehler, die sonst dazugehören?« scherzte mein Mentor. »Warum beschweren sich keine übertölpelten Kunden, und warum kapierst du gleich alles?« Meine Studienfreunde reagierten neiderfüllt, wenn ich von meinem Nebenjob erzählte. Als ich dann aber den Schritt tat und die Germanistik aufgab, um mich ganz der KWP-Versicherung zu widmen, schüttelten sie die Köpfe und prophezeiten mir ein geistig armes Leben. »Geld ist nicht alles«, sagten sie. Nicht mal meine Jugendfreundin Elfie hielt zu mir. Nur Leo.
Es stimmt nicht, dass ich des Geldes wegen Versicherungsagent geworden bin. In meiner freiberuflichen Position bin ich selbst nicht besonders gut abgesichert, leicht kündbar und auf private Vorsorge angewiesen. Außerdem schwankt mein Einkommen. Wäre es mir auf eine perfekte Versorgung angekommen, hätte ich das Examen machen und um das Lehramt kämpfen müssen. Ich folgte Leos Rat und ging zur KWP, weil ich unabhängig sein wollte, musste. Das Liebkind-Spielen hing mir zum Halse heraus. Wer wie ich einen Vater hat, dessen Leib- und Magenthema der Monatswechsel für einen spinnerten Sohn ist, wird mich verstehen. Als ich auf eigenen Füßen stand, war ich so erleichtert, dass mir die akademischen Würden, Zeigestock und Klassenzimmer sehr bald egal waren. Ich ordnete meine Verhältnisse neu, gab Elfie den Laufpass, mietete meine Wohnung in Wilmersdorf mit viel Platz für die Eisenbahn und kaufte mir einen PC. Mein Telefon klingelte oft und öfter. Ich war im Geschäft.
Als dann noch Almut in mein Leben trat, schien sich mir alles zu fügen. Sie schätzte meinen Beruf, meinen Status und meinen Freundeskreis. Und ärgerte mich gern, wenn sie feixend erklärte, wie glücklich sie sei, dass sie keinen Schulmeister heiraten müsse. Ihr war die Schule verhasst gewesen, so konnte ich Verständnis aufbringen für ihre Abneigung gegen mein Vorleben. Immerhin hatte ich jetzt einen weiteren Grund, mich zu meiner beruflichen Entscheidung zu beglückwünschen.
Unsere Hochzeit war ein enormes Gelage. Zum ersten Mal erlebte ich Leo betrunken. Er benahm sich korrekt, außer dass er Magda Silberpapierkügelchen in den Ausschnitt warf. Ich musste die ganze Nacht Flaschen öffnen. Es war die erste Hochzeit, an der ich teilnahm, ohne dass ich das Festgedicht geschrieben hatte.
Am Morgen danach sagte Almut, den Eisbeutel auf dem Kopf, dass sie noch glücklicher gewesen wäre, wenn ein alter Freund von ihr, Ralph Schaufuß, mitgefeiert hätte. Ralph Schaufuß? Ich tat so, als hätte ich den Namen nicht mehr in Erinnerung, dabei wusste ich genau, dass dieser Mensch, zusammen mit einem gewissen Lennart Miller, ihr Liebhaber gewesen war. Sie sagte, sie habe ihn meinetwegen nicht eingeladen, das sei ihr unpassend erschienen; aber ob sie uns zwei nicht bald mal bekannt machen sollte? Ein kleines Abendessen hier bei uns?
»Was denn«, sagte ich, »du siehst diesen Herrn immer noch?« Sie gab mir den Treppenblick. »Ach komm, Hagen, warum soll ich mit ihm brechen, wo ich gar nichts gegen ihn habe? Das war doch wirklich nicht fair. Nu lass mal deine Vorurteile beiseite und sei ’n bisschen aufgeschlossen. Ralph ist okay. Du wirst ihn mögen.« - Herr Schaufuß war Drogist. Er sprach Dänisch, seine Mutter stammte aus Bornholm. Als er auf Almuts Einladung bei uns erschien, trug er einen weinroten Anzug, dazu ein offenes Hemd, er brachte Champagner mit. Ganz gegen meine Erwartung fand ich ihn sympathisch. Sein Jungengesicht war sommersprossig und frisch, sein Haar rotbraun und sehr dicht; er trug einen Ring mit einem Glasbrillanten am kleinen Finger.
»Herr Schäfer! Na endlich... Almut hat...« Und so weiter. Die Konversation mit ihm war leicht und etwas hastig. Almut holte einen Kühler und machte den Champagner auf. Wir redeten ungefähr zwei Stunden über die Wiedervereinigung, die damals noch nicht lange her war, und über die Auspizien für Drogerien und Versicherungen im neuen deutschen Osten. Zum Abschied nahm Herr Schaufuß meine Hand und lächelte ein paar Sekunden länger, als die Höflichkeit es verlangt hätte.
Er kam bald wieder. Verwundert registrierte ich, dass er und Almut Pläne machten: rauszufahren an die Ostsee, in den Spreewald, in die Pilze. Ich trank Brüderschaft mit ihm. Ganz wie damals in der Zeit zwischen dem »Crystal« und Paris versuchte ich, obwohl die Hinweise deutlich waren, zu vergessen, dass etwas nicht stimmte. Ich produzierte eine fröhliche Laune. Ich ließ die beiden gehen und war offen für Unternehmungen zu dritt. Ich fragte nichts; wenn Almut spät nach Hause kam. Ich beobachtete sie, wenn wir miteinander schliefen. War sie wie sonst? Es schien mir so, aber man weiß ja nie. Schließlich vertraute ich mich Leo an. Der rieb sich die Nase. »Du musst sie drauf ansprechen«, sagte er. »Sie erwartet das. Los, Hahn.«
Ich fasste mir ein Herz, eines Abends, kurz vorm Zubettgehn.
»Hast du noch was mit Ralph?«
»Nein, aber Hagen, was denkst du.«
»Sag nicht, dass es abwegig wäre.«
»Du weißt, was wir gemacht haben. Ralph und ich waren nie... nie allein im Schlafzimmer.«
»Ach.«
»Wirklich - nie.«
Sie schnitt sich die Fußnägel. Ich guckte weg. Wie war das gemeint? Was hatte die Rückkehr dieses Burschen zu bedeuten? Es musste was zu tun haben, dämmerte mir, mit »weiblichem Exhibitionismus«.
Da erhob sie sich und ging ein paarmal zwischen Frisiertisch und Fenster hin und her. Ihre schmale Gestalt war in einen Morgenrock aus gelber Seide gehüllt, der gut zu ihren braunen Haaren passte. Am Fenster blieb sie schließlich stehen, äugte kurz fast furchtsam zu mir rüber und sagte dann mit Festigkeit:
»Hagen, es ist alles zurückgekommen.«
Gleich darauf verlor sie die Fassung und sank, die Hände vorm Gesicht, aufs Bett, auf den mauvefarbenen Satinüberwurf, den sie selbst hatte anfertigen lassen. Ich fragte dumm, aber zart:
»Was ist zurückgekommen?«
Es war die richtige Frage gewesen. Sie hob ihr Gesicht. Und beichtete, stockend und leise, dass ihr Anderssein leider nur vorübergehend, in Paris und noch einige Zeit danach, von ihr gewichen sei. Inzwischen aber sei das alte Verlangen wieder da, und wenn sie und ich miteinander ins Bett gingen, wünschte sie sich leidenschaftlich, dass ein Zuschauer unsere Freuden teile.
Schweigen kehrte ein. Es dauerte minutenlang. Schließlich seufzte ich:
»Wie ich diesen Schuh reparieren soll, weiß ich wirklich nicht.«
Almut war mir dankbar für den kleinen Scherz. Sie fasste Mut weiterzusprechen. In ihrem Unglück, sagte sie, habe sie noch einmal beim Sex-Krisentelefon angerufen. Diesmal sei eine andere Beraterin dran gewesen, aber auch von dieser Dame habe sie sich gleich verstanden gefühlt. Als erstes, sagte die Krisenfrau, reden Sie mit Ihrem Mann. Schenken Sie ihm reinen Wein ein. Und bitten Sie ihn, darüber nachzudenken, ob es denn gar so unvorstellbar sei, dass er auf Ihre Wünsche einginge... Zumal ein passender Dritter, erprobt und diskret, schon zur Verfügung stehe...
»Ich frage dich also jetzt, Hagen«, sagte sie mit zitternder Stimme und griff nach der Flasche mit Himbeergeist, die sie immer auf ihrem Frisiertisch stehen hatte, »ob es für dich völlig unvorstellbar ist...«
Plötzlich erschien mir die Ehe als eine komplizierte Verantwortung, die mich restlos überforderte. Ich hatte eine Frau geheiratet, die »anders« war, und war wohl jetzt, als ihr Ehemann, dazu verpflichtet, die Konsequenzen zu tragen. Bedrückt akzeptierte ich einen Himbeergeist. Mit dem kleinen Feuer in der Kehle fühlte ich mich stärker. Fühlte mich gleichwohl wie in der Klinik nach der Diagnose: Ist eine Operation unumgänglich, Herr Doktor, oder kann man mit Medikamenten was ausrichten?
Meine Frau war für die »Operation«, sie erläuterte mir in ziemlicher Verlegenheit, dass sie darauf aus sei, mit mir im Beisein ihres Freundes Ralph zu schlafen und betonte - sie hatte eine mir bis dahin unbekannte schnurrend-tonlose Weichheit in der Stimme - dass auch auf mich bei einem solchen Beisammensein überraschende Wonnen warteten.
Der Vorgeschmack, oje, war äußerst bitter.
Ich war zu guter Letzt gegen Lennart Miller ausgetauscht worden, war der arme Dussel, der diesen Freak ersetzen sollte, und ich warf ihr das wörtlich so hin. Sie antwortete: »Aber nein. Überhaupt nicht.« Mir habe sie ihr Herz geschenkt. Dann genehmigte sie sich noch einen Himbeergeist und sagte, von einem Hustenanfall unterbrochen, denn sie war zu erregt, um ordentlich schlucken zu können:
»Da gibt’s noch was... ähm ... Was ich mir am meisten wünsche, ist - dass du... - «
»?«
»... dass du zuguckst...«
Ich guckte lange regungslos in ihr Gesicht. Es war schön. Die pechschwarzen Brauen spannten sich wie Vogelschwingen durch diese Landschaft aus heckenrosenfarbenen Pastelltönen. Ihre Augen blickten friedfertig und wie stets ein wenig bittend. Nur ihr Mund verriet, dass sie eben etwas Unerhörtes gesagt hatte, denn sie hielt ihn jetzt fest geschlossen, und das Verzeihung heischende Lächeln, das sie darüberzubreiten versuchte, passte nicht zu dieser festen Geschlossenheit. Schließlich produzierte sie einen regelrechten Hustenanfall, mit Tränen, und wollte mir weismachen, sie habe sich erneut am Himbeergeist verschluckt. Es war aber nur die Bodenlosigkeit ihres Mutwillens, die ihr zusetzte.
»Du möchtest, dass ich...«
»Ja, dass du zuguckst -«
»Während du...«
»Ja, während ich es mit Ralph tue.«
Ich bin ein Spießer! - das war das einzige, was ich denken konnte, ein elender Spießer mit lächerlichen Durchschnittsneigungen, der froh sein kann, überhaupt ein Mädchen abgekriegt zu haben; und nun noch eine Exhibitionistin, das ist natürlich etwas ganz Phantastisches, danach lecken sich die Kerls die Finger. Ich habe das große Los gezogen und kann mich nicht dran freuen. Erbarmen! Diese Krisentelefon-Tanten sind ja wohl nicht ganz dicht. Und ich muss jetzt dafür zahlen. Kurz und verzweifelt dachte ich an Scheidung, dann an das »Crystal« und den Jardin de Luxembourg. Almut setzte sich auf die Sessellehne, ließ gelbe Seide auf mein Knie fallen und sprach leise, von kleinen Obstbrandschlucken unterbrochene Worte zu mir. Ich sei ihr von Anfang an so unkonventionell, irgendwie meinerseits »anders« und frei im Geiste vorgekommen, und so sei sie sicher gewesen, ich hätte für alles Verständnis. Irrtümer gibt’s, dachte ich, die sind so kurios, dass es schon nicht mehr drauf ankommt.
Ich blättere noch ein bisschen in Ascanio Schneiders und Armin Mases Meisterwerk und beschließe, den Schutzumschlag zu erneuern. Vorn im Innendeckel steht der Name des Vorbesitzers: Lothar Schick. Diesen Mann und mich verbindet das Eisenbahnhobby - und sonst nicht viel. Ich lernte ihn bei Flebbe kennen, dem bestsortierten Modellbahn-Fachgeschäft von ganz Berlin, im Wedding gelegen. Er hat mir die »Katastrophen auf Schienen« geliehen und später geschenkt. Ich fahre Spur N, die ja schon zierlich genug ist, es ist die zweitkleinste Größe. Lothar aber ist der totale Pinzettentyp, verfitzelt und pedantisch. Er macht’s mit Spur Z, die so winzig ist, dass man, wie Flebbe sagt, beim Einatmen aufpassen muss. Der mikroskopische Zuschnitt seiner Anlage mag der Grund dafür sein, dass Lothar nach seinen Bastelstunden regelmäßig völlig erschöpft ist - und deshalb auf die Idee kam, sein Hobby als »Sport« zu bezeichnen. Sport! Ich sage einfach: Passion. Das altmodische Wort Steckenpferd fände ich gar nicht so falsch, obwohl es etwas ungut Verniedlichendes hat. Aber es weist auf die Fortbewegung hin, um die es ja geht. Und was seit Menschengedenken dazugehört, ist der Unfall. Zur Zeit der Pferdekutschen war’s noch nicht ganz so dramatisch. Aber seit die Gewalt des Dampfes fürs Vorankommen genutzt wurde, seit ferner die Geschwindigkeit, mit der die motorisierten Menschen sich ins Gelände hineinwerfen, nicht mehr mit natürlicher Kraft zu zügeln ist, folgt das Verhängnis des Unfalls dem Fortschritt des Verkehrs wie ein blutiger Schatten.
Nun kann man mit der Modellbahn nicht verunglücken, es sei denn, man ist ein Modell-Lokführer. Die Katastrophe hat für uns Modellbahner eine eher spirituelle Bedeutung - und mit Sport hat das Ganze nichts zu tun, weder die funktionierende, noch die aus den Gleisen hüpfende Bahn. Ich streite nicht mit Lothar über diesen Punkt. Ich lache ihn nur aus. Und gucke ihn von der Seite an. Denn er ist ziemlich rund, obwohl doch angeblich so sportlich ...
Jenseits der Vierzig essen die Leute mehr, als sie brauchen, so kommt das allgemeine Übergewicht zustande. Ich will tun, was ich kann, dass mir das nicht passiert. Früher habe ich mit Radfahren und Gesellschaftstanz ein übriges für die Gesundheit getan, aber nach meiner Trennung von Almut war mir das alles verleidet. Radfahren hatte ich mit ihr begonnen, es war ihr Lieblingssport, und auch zum Tanzen hat sie mich veranlasst. Kaum war sie gegangen, habe ich das Mountain Bike verkauft. Für den Erlös konnte ich mir eine historische englische Dampflok, ein Paar Doppelkreuzungsweichen und zwei neue Trafos leisten. Ich hatte das Rad nicht mal mehr ansehen mögen, so sehr erinnerte es mich an Almut. Zuerst fürchtete ich, die Lok und die Trafos könnten etwas von dieser unerbetenen Erinnerung abstrahlen, weil sie ja das geldliche Äquivalent »unseres« Fahrrades darstellten - aber das war glücklicherweise nicht der Fall. Manches ist mir doch geblieben, manches gehört nur mir. Vor allem meine Eisenbahn, für die sich Almut nie wirklich interessiert hat, außer dass sie fand, sie nehme zu viel Platz weg. Und das Schwimmbad.
In diesen Tagen, wo der Sommer loslegt und eine höllische Hitze über der Stadt entfacht, bersten die Freibäder.
Wer geht schon ins Hallenbad bei 30°? Und dann noch nachmittags um vier? Ich. Anschließend werde ich in den Heidelberger Platz hinabsteigen und zu Lothar fahren: Er hat die Stadtbahnstrecke Friedrichstraße-Jannowitzbrücke ausgelegt, und ich darf bei der Einweihung dabei sein.
Meine Zehnerkarte ist ja nun weggekommen. Erstaunlich, was alles in eine einzige Brieftasche hineinpasst. Drei Tage ist es her, dass mir das kostbare Teil geklaut wurde, und noch immer bin ich mir nicht ganz im klaren, was eigentlich alles drin war. Hoffentlich gehen Karli oder der Schwarze wenigstens mal schwimmen - um den Staub des Mäuseturms von den Gliedern zu waschen und die kaum angebrochene Abo-Karte aufzubrauchen. Ich hasse Verschwendung. Und sehe blutenden Herzens vor mir, wie die unreifen Räuber meinen Personalausweis, meine Umweltkarte, einen ganzen Satz Visitenkarten, den Videothek-Mitgliedsausweis, den Abschnitt von der Reinigung, meine Bahn-Card und das Zehner-Abo des Wilmersdorfer Stadtbads in einen Straßenmüllcontainer kippen. Und dazu lachen und johlen wie die unerlösten Seelen.
Ich habe meine Tasche gepackt und noch ein paar Münzen eingesteckt, um eine neue Zehnerkarte zu ziehen, als es klingelt. Das kann nur ein Briefträger sein. Seit allerlei private Dienste mit der Post konkurrieren, ist die Zeit, zu der ausgetragen wird, offen geworden. Rund um die Uhr ist Zustellung möglich. Paketboten erscheinen am Mittag, Eilbriefträger im Morgengrauen, und der Versand, bei dem ich meine Frankenweine ordere, liefert grundsätzlich kurz vor Feierabend. Ich drücke auf den Summer und linse durch den Spion. Es dauert die üblichen zwei Minuten, und auf der Treppe zum dritten Stock erscheint ein großer runder Strohhut. Die Trägerin hält ihren Kopf gesenkt, so dass ich nur den Hut mit seinem blauen Band erkenne. Er krönt eine Gestalt von beträchtlich schlanker Länge. Ich öffne verdutzt. Da betritt die hochgewachsene Person meine Fußmatte und hebt ihr Kinn. Ein Gesicht leuchtet mich an, das ich gesehen hab, ich weiß nicht, wo.
»Ick komm vom Jugendamt«, sagt das Mädchen mit dem Hut. Sie lächelt unpassenderweise ein wenig hämisch. Ihre Lider und ihr Mund sind so geschminkt, wie das bei Mitarbeiterinnen des Jugendamtes kaum üblich sein dürfte. Sie reißt die Augen auf, als wollte sie sagen: Wat is, soll ich hier Wurzeln schlagen? und schiebt sich mit einem Schwung des Beckens an mir vorbei in den Flur. Sie nimmt den Strohhut ab. Der hat sie verborgen gehalten, die schwarzen Haarschlangen, die jetzt herausspringen und alles klären. Sie legt den Kopf zur Seite, nickt, um mitzuteilen: Ich weiß, dass du jetzt weißt: Is nix mit Jugendamt. Und sagt:
»Ick hab wat, det dich interessiert, Opa.«
Erst jetzt schließe ich die Wohnungstür. Auf meine Kehle drückt Erregung, die von unten hochsteigt und aus kaltem Grimm, aber auch - kurioserweise - aus Hoffnung besteht. Bringt sie mir die Zehnerkarte? Ich schlucke und bin gleich wieder gefasst. Hier wohne doch ich, mir kann gar nichts passieren. Und wenn die Medusa so generös ist, mir meinen Personalausweis zurückzuerstatten, erspare ich mir eine Menge Lauferei bei den Ämtern.
»Dann mal los«, fordere ich meine Besucherin lachend auf und wundere mich über meine plötzlich umgeschlagene Laune. Sie stakst vor mir her ins Wohnzimmer, dessen Tür ich für sie aufstoße. Ihr Kleid, ein langes Sommerfähnchen, schwarz trotz der Hitze und mit kupferroten sowie grünspanüberzogenen Münzen bedruckt, flattert um ihre Beine. Den Hut hält sie noch in der Hand. Ich biete ihr einen Platz auf meinem Sofa an und frage mit strenger Stimme:
»Wie war doch gleich dein Name?«
»Yvonne Genthien.«
Sie sagt das fast mit Stolz, den Blick auf mich gerichtet. Obwohl sie ja noch nie hier war, mustert sie ihre Umgebung nicht. Sie wirkt, als sei sie hier zu Hause oder doch an allem, was mein Salon so zu bieten hat, vollständig desinteressiert. Als sie aufhört, mich anzuglotzen, nimmt sie sich den Hut vor und beäugt das blaue Band. Danach kommt ihr Handtäschchen dran, das Schloss muss geprüft werden. Ich unterbreche diese selbstvergessene Tätigkeit:
»Hab ich recht, dass du mir meinen Personalausweis, meine Bahn-Card und mein Schwimmbadabo verkaufen willst?«
»Vakoofen?« Sie schlägt die Beine über, so dass ein braunes Knie unter dem geschlitzten Rock hervorsticht. »Har ick wat von Vakoofen jesacht?«
»Na, 400 Mark bin ich doch wohl schon mal los, oder was?«
»Wir ham ooch Unkosten, Opa. Irgendwie müssen die ja abjedeckt wer’n.«
»Irgendwie...«
»Na, wat meenste, wie teuer det Leben uff Trebe is. Du kannst von Glück sagen, det wir dir deine unverkäuflichen Siebensachen wiederbring’n.«‚
»Warum tut ihr das?«
Sie zuckt die Schultern.
»Man is doch Mensch.«
»Das ist die Frage - bei Gören, wie ihr es seid.«
»Na, nu komm runter vonner Palme, Eddi. Jeder wie er kann.«
»Eddi?«
»Ja, steht hier uff dem Zettel vom Meldeamt. Hagen Edgar Schäfer. Hagen is ja wohl ’n Irrtum vom Amt. Saren wir also Eddi.«
Ich strecke die Hand aus.
»Gib schon her, den Papierkram.« Ich vollführe eine ungeduldige Geste mit der offenen Hand und will hinzufügen: Und dann mach, dass du wegkommst, beiße mir aber auf die Lippen. Hab ich doch die Chefin hier im Exklusivinterview, da müssten ein paar Informationen, Karli betreffend, rauszuholen sein. Und so schalte ich auf Zeitgewinn um.
»Wie wär’s mit’m Kaffee?«
Ihre Augen leuchten auf. Das Handtäschchen, das sie eben öffnen wollte, gleitet über ihr Knie und rutscht vor das Sofa. Sie lässt es da liegen. Ein verstohlenes Lächeln zuckt um ihre Mundwinkel, kurz und fast schamhaft. Mir fallen ihre Lippen auf, die trotz der schattenmorellenfarbenen Schminke frisch und blank aussehen. Ihre Stimme klingt wie die eines zwölfjährigen Jungen, dem sie eben bricht. Ihre Augen sind schieferblau, ihre Haut wahrscheinlich im Winter ganz weiß, jetzt von einem matten Rostton überzogen und mit Sommersprossen gesprenkelt. In Kombination mit schwarzen Haaren sind Sommersprossen selten. Genthien? Was ist das für ein Name? Warum lebt dieses Kind auf der Straße? Plötzlich bin ich daran interessiert, es rauszufinden. Sie sagt:
»Haste nich ’ne Cola?«
»Nee, so was trink ich nicht.«
»Und ick mag keen Kaffee.«
»Dann vielleicht Milch?«
Sie lacht auf:
»Humor haste, wa?«
Wir gehen in die Küche. Hier zeigt sich, dass mein Gast auf Melone steht und also für unser beider Erfrischung gesorgt ist. Ich setze die Kaffeemaschine in Gang.
»Moment«, sagt Yvonne. »Ick hol ma eben meene Tasche.«
Sie kommt nicht so schnell zurück, wie es hätte geschehen müssen, wenn sie nur bis zum Sofa gegangen wäre, und ich überlege kurz, ob sich Gegenstände, die zum Klauen verlocken, in ihrer Reichweite anfinden. Ich denke mal: nein. Alles Geld trage ich bei mir, im Portemonnaie, das wie stets in meiner Hosentasche steckt. Solange ich noch keine neue Brieftasche habe, kommen auch die Scheine in die Börse. Und dass sie sich an meinem Zinnkrug oder meiner Büfettuhr vergreift, schließe ich aus.
Da höre ich das Mädchen schreien:
»Mannoo —!«
Es ist ein langgezogener Schrei, der Überraschung mit Belustigung mischt. Als sie auf der Küchenschwelle erscheint, lacht sie mit ihrem Kindermund von einem Ohr zum andern.
»Du spielst mit Eisenbahnen!«
Dann, plötzlich ernst werdend:
»Oder haste ‚n Sohn?«
Ich schüttele den Kopf. Sie ist mit dieser Auskunft sehr zufrieden:
»Det is ja ’n Ding!«
»Hast du Lust?«
»Da frachste noch?«
Ich schalte die Kaffeemaschine aus. Wir gehen ins Eisenbahnzimmer.
Als wir wieder rauskommen, schlägt meine Büfettuhr halb sieben. Wir sind ganz schön hungrig und völlig verschwitzt.
Ich muss Lothar anrufen und ihm sagen, dass es später wird. Während ich wähle, höre ich Yvonne in der Küche die Melone schlachten. Ich habe ihr noch Brot und Wurst hingestellt. Gern würde ich Lothar erzählen, dass ich eben die erste Frau kennengelernt habe, die nicht nur ein echtes Interesse für das Eisenbahnwesen, sondern auch noch technisches Verständnis und sogar Vorwissen mitbringt. Wofür das Leben auf freier Wildbahn - und diese Wildbahn ist im Untergrund mit Schienen ausgelegt - doch gut ist! Aber ich sage keinen Ton, denn die Göre würde alles mithören. Lothar ist wie immer tolerant. »Komm, wann du willst, Hagen.« Ich lege auf, mache die paar Schritte auf die Küche zu und bleibe im Türrahmen stehen.
Yvonne hat ihre Ärmel über die Schultern gestreift, es ist ihr wohl zu heiß. Diese Andeutung eines damenhaften Dekolletes wirkt seltsam an ihrem mageren Torso. Sie futtert. Ich räuspere mich:
»Warum lasst ihr Karli Maaßen nicht in Ruhe?«
»Biste sein Papa?«
»Er hat ’n Zuhause. Er muss nicht auf der Straße schlafen.«
»Meü Deus«, ruft sie aus und bleckt die Zähne.
»Was kann ich tun, damit du... damit du ihn zu seiner Tante zurückschickst?«
Sie bittet um etwas zusätzliche Wurst. Während sie die Stulle schmiert, sagt sie, das Messer an der Rinde abstreichend:
»Ick halt’ keenen fest.«
»Es genügt nicht, dass du ihn nicht festhältst. Du musst ihn zurückschicken.«
»Det hat doch jar keen Zweck. Nächsten Tach isser wieder da.«
»Wieso? Wie kommt das? Was will er von euch?«
Sie blickt auf.
»Na, er jehört dazu.«
»Wozu?«
»Zu uns.«
»Ich glaube, du irrst dich. Er gehört zu seiner Familie.«
Da lacht sie fauchend. Legt abrupt das Brot ab und ihre Hand auf die Magengegend. Ich sehe sie unter Sonnenbräune und Sommersprossen blass werden. Sie beäugt die Stulle und sagt vorwurfsvoll:
»Irgendwat stimmt mitter Wurst nich.«
»Die Wurst ist in Ordnung.«
»Auch ejal. Haste ’ne Cola?«
»Ich hab dir doch schon gesagt...«
»Meü Deus!«
Sie schließt die Augen und lässt ihren Rücken gegen die Stuhllehne sinken. Allmählich kehrt die Farbe in ihr Gesicht zurück. Die Hitze setzt uns eben allen zu. Wurst passt nicht zu dieser Temperatur. Ich suche Quark, Tomaten, Milch und Salz zusammen und setze mich zu meinem Gast an den Tisch. Bemühe mich, sie aufzumuntem.
»Hier, iss was Frisches.«
Doch sie hat keinen Hunger mehr. Sie rutscht auf ihrem Stuhl herum, greift plötzlich zur Milch, trinkt ein paar tiefe Züge aus der aufgeschnittenen Tüte, wobei ihr ein gutes Quantum das Kinn entlang über den Hals in den Ausschnitt rinnt und stößt, als sie, jetzt wieder ganz rotwangig, die Tüte abstellt, lächelnd hervor:
»Schenkste mir die Ferkel-Taxe?«
Warum wischt sie sich die vergossene Milch nicht ab? Ich bin eigen mit meinen Modellen, ich schenke nicht gern eins weg. Besonders von dem grünen Schienenbus, der es ihr so angetan hat, einem Einzelstück, das selten ist, möchte ich mich nicht trennen. Ich öffne die Tischschublade, hole eine schwere weiße Serviette heraus und reiche sie Yvonne wortlos hin. Sie nimmt sie und wischt sich mit ihr den Schweiß von der Stirn.
»Du hast Milch am Hals.«
»Echt?« Sie lächelt mich abschätzig an. Wirft dann die Serviette zurück, aber zu hoch, so dass sie hinter mir auf den Boden fällt, und reibt sich mit beiden Händen die weißen Tropfen in die Haut. Greift auch in ihren Ausschnitt und zieht dazu die Nase kraus.
»Kuhmilch is jut für die Haut. He Eddi, schenkste mir die Ferkel-Taxe?«
»Ich glaube, du wolltest mir ’n paar Sachen geben.«
»Kommt hin.« Sie stürmt ins Wohnzimmer und erscheint gleich darauf mit ihrer Tasche; sie öffnet den Beutel und entnimmt ihm einen mit rotem Gummiband zusammengehaltenen Stoß kleiner Papiere und Sächelchen. Den reicht sie mir. Ich zögere, bevor ich zugreife. Denn es kommt mir nicht so vor, als ob das da der Inhalt meiner Brieftasche sei.
»Nu nimm schon.«
Schaden kann’s ja nicht, wenn ich das Zeug mal mustere. Tatsächlich, da ist sie, meine Meldebestätigung. Und die Quittung von der Reinigung, der Videothekausweis, die Bahn-Card. Nach ein paar Fahrscheinen, Visitenkarten, Einkaufszetteln, originalverpackten Kondomen, Streichholzbriefchen und Supermarktbons, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, stoße ich erfreut auf meine grüne Zehnerkarte. Aber das war’s dann. Das wichtigste Dokument, mein Personalausweis, fehlt. Und natürlich die Kreditkarten. Aber die sind längst gesperrt.
»Was ist das?«
»’n Präser, Eddi.«
»Ich meine: Wo ist mein Ausweis?«
»Wat denn für’n Ausweis?«
»Das weißt du genau. Dies kleine Plastikding...«
»War nicht dabei.«
»O doch, bestimmt.«
»Dann wär’s jetzt hier bei dem Jelumpe.«
Wie sie das sagt - als sei sie felsenfest davon überzeugt, dass ein Mensch wie ich nie und nimmer würdig sei, einen Personalausweis bei sich zu fuhren. Ich werde auf einmal stinkwütend. Was erlaubt sich dieses Balg?
»Ich will auch die Brieftasche wiederhaben!«
»Jeschenk von deiner Tussi, wa?«
»Also her damit!«
»Wozu haste die Präser dabei? Machste’s mit Nutten?«
»Die Dinger sind nicht aus meiner Brieftasche.«
»Wat schämste dir, Eddi? Is doch menschlich. Und besser mit Jummi als blank. Is besser für’t Wohlbefinden.«
»Halt die Klappe! Sag mir lieber, wo ich Karli Maaßen finden kann und zwar sofort, oder ich mach weiter.« Ja, ich habe mir ihr Handgelenk gegriffen, über den Tisch weg, bin danach aufgesprungen, zu ihr hin und drehe ihr jetzt den Arm auf dem Rücken um. Sie japst vor Überraschung und fängt an zu keuchen. Sie setzt ihre Beine ein und hackt mit ihrem Knie nach meinem Schritt, den sie nur knapp verfehlt. Gleich tritt sie mit dem Ballen hinterher, doch ich bin schon ausgewichen, und die Wucht, mit der sie mich treffen wollte, bringt ihren Stuhl ins Wackeln, er kippt krachend hintenüber. Ich geh mit zu Boden, denn ich habe ihren Arm nicht losgelassen. Ihr Kopf landet auf meiner freien Hand. Sie kann sich nichts getan haben.
»Det is Körperverletzung!« kreischt sie.
»Nu gib ma Ruhe.«
»Det is Jewaltanwendung, weeßte, wat dich det kosten kann?«
Ich habe ihren Arm immer noch nicht freigegeben, deshalb kommt sie nicht vom Boden hoch und rollt empört die Augen. Ihr wüstes Haar ist als schwärzliche Gloriole um ihren Kopf gebreitet. Sie riecht eigentümlich nach Wacholder.
»Jetzt sag was ... Wo ist Karli? Ich will ‚ne Adresse. Und ’ne Zeit, wann ich ihn sicher treffe.« Ein bisschen noch drehe ich an ihrem dürren Arm, ich muss nicht viel tun, denn da sie selbst auf ihm draufliegt, genügen ein paar Millimeter, und es zieht, so hoffe ich, ganz schön. Sie wirft sich aus den Hüften hin und her, als unterzöge ich sie einer Folter. Mit der Linken bändige ich ihren freien Arm. Meine Knie sind gut in Position, um etwaige Ausfälle ihrer Stelzen zu parieren - die beide nackt zu sehen sind in ihrer langen Magerkeit, denn der geschlitzte Rock hat sich im Fall gehoben und ist auf ihren Bauch herabgesunken.
»Also?«
Sie bleckt die Zähne und stöhnt, als hätte ich gedroht, auf ihrem Hals eine Zigarette auszudrücken. Ihre Augen flackern in wilder Anklage, ihr Arm in meiner Hand fängt an zu zittern. Warum bloß muss das Kind so übertreiben? Ich will eine Auskunft von ihr und halte sie fest - ist das ein Grund zu erbeben und mich anzustarren wie einen Schänder?
»Yvonne, ich höre.«
»Lass mich los, du versauter Scheißtyp, du ekliger!« Sie stößt das heiser hervor, unter Tränen. Wo die plötzlich hergekommen sind, weiß ich auch nicht, denn eben noch haben ihre Augen kalt gedroht. Mir wird das jetzt alles zuviel. Ich mache, schwant mir, keine gute Figur. Lasse einfach ihre Handgelenke los und stehe auf, mit Kopfschütteln und hörbarem Ausatmen ihr die Schuld an der verfahrenen Situation zuweisend. Ich ordne Hemd und Hose. Es ist später Abend geworden, doch taghell und sehr warm. Es ist Mittsommernacht.
Yvonne rollt sich erst auf die Seite und steht dann so vorsichtig, ihre Gliedmaßen einzeln prüfend und massierend, vom Boden auf, dass man meinen müsste, ich hätte sie durchgeprügelt. Sie wischt sich das Gesicht mit den Händen ab. Ihr Blick, als sie sich zu mir wendet, ist nicht zornig, auch nicht vorwurfsvoll, eher resigniert und etwas spöttisch. Als wolle er bedeuten: Ich wusste es doch, du bist ein Schwein, wie alle. Sie zupft ihr Kleid zurecht und reibt ihr Handgelenk. Dann sagt sie, mit einer völlig unbeteiligten Stimme:
»Morgen abend um sechs isser da, der Karli, am Mäuseturm, wie wir alle. Wenn du willst, sar ick ihm, er soll ‚ne Viertelstunde früher komm’.«
Und sie flitzt aus der Küche. Mir ist nicht klar, was dieses plötzliche Einlenken zu bedeuten hat, und wie immer, wenn ich das Gefühl habe, dass etwas zu glatt geht, wird es mir mulmig im Bauch. Ich hebe den Stuhl vom Boden hoch und schiebe ihn mit der Sitzfläche unter den Tisch. Ich wickle das rote Gummibändchen um die fremden Zettel und Kondome und stopfe das Zeug in Yvonnes Tasche. Höre sie den Flur entlanglaufen, dann geht die Klotür. Ich warte, bewege mich raus auf den Flur, das Täschchen in der Hand. Die Kleine hat jetzt zu verschwinden. Sie kommt aus dem Bad, den Hut auf dem Kopf, das Haar druntergestopft und das Gesicht gewaschen. Es ist ein zartes Kindergesicht, das mir entgegenglänzt, ohne Schminke, braun gebrannt, mit freundlichen Sprossen besät. Ihre schiefergrauen Augen lächeln jetzt, ihre Lippen versuchen es auch, breite, schön modellierte Lippen, deren untere sich gerne vorschiebt. Doch sieht’s dann nicht wie Schmollen aus, sondern wie Nachdenklichkeit.
»Ick kiek ma... ick meene... wegen der Brieftasche.«
»Was wollt ihr auch damit? So’n Ding ist doch gebraucht nicht zu verkaufen.«
»Hast du ‚ne Ahnung. Aber ick kiek ma, ob ick det für dich fingern kann.«
»Und mein Personalausweis?« Ich reiche ihr die Tasche.
»War nich mit drin.«
»Ich muss es doch wissen.«
»Irren is menschlich, Opa. Na denn, bis bald.«
Sie geht zur Tür. Bewegt sich geschmeidig und weich, obwohl sie fast nur aus Knochen besteht. Ich öffne ihr.
»Yvonne...«
»?«
»Warum kämmst du dir nicht mal die Haare?«
Sie lacht mit ihrer Mutanten-Stimme. Und macht, dass sie wegkommt. Ich schleiche zurück in die Küche.
Lasse mich in einen Stuhl fallen und überdenke den Nachmittag. Es war nicht richtig, wie ich mich verhalten habe, es war unkontrolliert. Warum musste ich das Mädchen anfassen? Ja ja, sie hat mich in Wut versetzt, aber ich hätte sie nicht anfassen dürfen. Ich hätte ihr nicht den Arm umdrehen und nicht so tun dürfen, als ginge es mir um Karli Maaßen. Der war mir längst egal gewesen. Ich wollte sie zum Schweigen bringen, wollte sie für ihr obszönes Gerede und den Diebstahl meines Personalausweises bestrafen. Sie hat das alles gemerkt und mir deshalb wie zum Hohn die Sache mit dem Mäuseturm gesteckt. Sie ist eine raffinierte kleine Person, eine wahre Schlange, und es ist Vorsicht geboten. Yvonne... Woher mag sie stammen? Mit Sicherheit ist sie in Berlin aufgewachsen..
Das Telefon schnarrt. Wer? Lothar wird’s sein. Ich möchte jetzt nicht mit ihm sprechen. Ich rufe ihn morgen zurück und entschuldige mich. Immerhin bringt er mich auf eine befreiende Idee. Ich werde ein bisschen basteln. Erstmal das T-Shirt wechseln, dann das Pomponne-Unglück nachstellen oder einfach den S-Bahn-Viertelzug ein paar Runden drehen lassen. Nichts lenkt so ab.
Ich kenne mich gut aus in meinen Beständen. Jedes Stück hat seinen Platz, und deshalb seh ich es sofort: Die Ferkel-Taxe fehlt.
Ich wähle Leos Nummer und will schon wieder auflegen, weil mir, während ich auf das Freizeichen lausche, alle Lust vergeht, von Yvonne zu berichten, aber da ist Magda am Apparat, und ihre liebliche Stimme vertreibt meinen Missmut.
»O Hahn, wann holen Lukas ab? Er soo viel Spaß mit neue S-Bahn.«
Morgen ist mein Bürotag. Da ist nichts zu wollen, Schäfers Wochenplan ist aus Gusseisen. Aber Mittwoch nachmittag gebe ich mir stets frei, und ich könnte den Patensohn vom Kindergarten abholen. Magda ist einverstanden und erzählt mir verliebt von Lauras erstem Lächeln. Ich stelle es mir vor und bin überzeugt: Ein schöneres Lächeln gibt es in ganz Neukölln nicht. Dann kommt Leo.
»Na, Junge, wie isses?«
»Zu heiß.«
»Kann man wohl sagen.«
»Erinnerst du dich an die Bernotat-Zwillinge?«
»Die mit der Versicherungsphobie?«
»Ja, die. In ihrem neuen Mietvertrag gibt’s ’ne Klausel, dass sie eine Hausratsversicherung abschließen müssen, und sie weigern sich. Jetzt drängt der Verwalter, und die zwei verlangen von mir, dass ich mit ihnen einen Scheinvertrag abschließe, damit sie ihre Ruhe haben.«
»Ach du Teufel.«
Die Bernotat-Zwillinge sind Leos verrückteste Kunden. Er hat sie von einem Kollegen übernommen, die beiden Herren, und alle Gespräche und Besuche, die er bis jetzt investiert hat, dienten nur dazu, bereits bestehende Verträge zu kündigen. Und jetzt wollen sie ihn auch noch zu Ungesetzlichkeiten anstiften. Eineiig sind die Bernotats, absolut ununterscheidbar und von Beruf Klavierbauer. Beide. Leo mag sie, obwohl er mit ihnen nicht ins Geschäft kommt.
»Mein lieber Mann«, seufzt er.
»Du hast ihnen doch Bescheid gestoßen?«
»Ich halte sie hin. Wenn ich gut bin, versichern sie ihren Hausrat demnächst doch noch - inklusive unterschriebener Einzugsberechtigung. - Kommst du Donnerstag zur »Runde«?«
»Nur wenn’s kühler wird.«
Die »Runde« ist Erich Kopelkes, unseres Verkaufsleiters, Steckenpferd. Er liebt es, seine Außendienstler um sich zu scharen und sie mit eitel Optimismus vollzupumpen. Ich gehe gar nicht ungern hin, denn hinterher sitzt man oft bis in die Nacht bei einem Tropfen zusammen und erzählt die ausgefallensten Begebenheiten. Es gibt keinen Versicherungsagenten, der nicht mal auf Tour von einem kokainsüchtigen Yuppie vollgeweint, von einer Alzheimer-Oma zum Erben bestimmt oder von einer honetten Hausfrau auf die Couch gezerrt worden wäre. Manchmal nimmt uns Kopelke mit zu sich nach Hause. Mia, sein Weib, so breit wie hoch und Herz für zwei, macht erstklassiges Käsegebäck.
»Wir brauchen dich, Hahn. Du bist beim Rollenspiel der beste Kunde von der skeptischen Abteilung.«
Ich muss lachen, fahre mir mit dem Zeigefinger in den Kragen, denn ich schwitze immer noch und merke dabei, dass mir die ganze linke Hand wehtut. Da ist Yvonne mit ihrer Rübe draufgeknallt. Ihr Haar hat wie Glaswolle gestochen.
Leo möchte, dass ich bei meiner Versandfirma ein paar Kisten Frankenwein für seine Party ordere. Er hat vorhin die Gästeliste zusammengestellt. Da ist ein Problem aufgetaucht.
»Weißt du, irgendwie ist es absurd, wenn ich Almut nicht einlade. Aber wenn sie kommt, kommst du nicht. Was soll ich machen?«
»Wirf ’ne Münze.«
Ich liebte Almut noch, als ich sie rauswarf, und bin auch jetzt, anderthalb Jahre nach unserer Trennung, nicht mit ihr fertig. Magda weiß das. Sie sagte neulich: »Schade. Ihr wart schönes Paar.« Manchmal denke ich: Hätte Almut nicht diese Augenbrauen gehabt und diesen Blick, wäre da nicht ihre fahrige, aber reizende Art gewesen, mit den Händen zu reden und mit den Fingern Figuren in die Luft zu zeichnen, ich wäre längst von ihr los. Aber natürlich ist das ein dummer Gedanke, denn dann hätte ich mich ja nicht in sie verliebt und sie nicht geheiratet. Sie wollte es nicht wahrhaben, aber sie war es, die unsre Ehe kaputtgemacht hat. Sie hat Ralph Schaufuß in unsere Zweisamkeit eingeschleppt, und mir war’s nun mal nicht gegeben, die Rolle, die sie mir zugedacht hatte, auszufüllen. Ich war guten Willens, ich wollte ihr beweisen, wieviel mir an ihrem Glück gelegen war. Aber was hilft der gute Wille, wenn es kommt, wie’s mit uns kam.
Merkwürdigerweise habe ich den Abend, an dem Ralph Schaufuß dabeisein und alles dann so kommen sollte, wie Almut es sich wünschte, mit einem Gemisch aus Furcht und Spannung erwartet. Wenn er nur, dachte ich, nicht wieder Champagner spendiert. Ich muss das doch als Herablassung empfinden, als eine Geste, die besagen will: Mein armer Hagen, du bist nun mal leider noch ein bisschen spießig, und um dich zu animieren und deine Verkrampfungen zu lockern, habe ich hier ein Tröpfchen mitgebracht, wie es uns allen dreien guttut und wie ihr zwei es euch nicht so oft leisten könnt... Skäl! Ich sprach Almut auf diesen Punkt an und bat sie, Ralph davon abzuhalten, etwas mitzubringen. Sie guckte, als hätte nicht sie, sondern ich eine ausgefallene Vorstellung vom ehelichen Intimleben. Dabei zog sie ihre Brauen zusammen, die so gekräuselt, in ihrer feuchten Teerschwärze, sehr attraktiv wirkten. »Lass ihn doch mitbringen, was er will, Liebling«, sagte sie in völliger Verständnislosigkeit. »Weißt du, zu dritt dauert es eh länger. Und es macht großen Spaß, wenn man zwischendurch eins zwitschert.« Dabei sah sie in offenkundiger Vorfreude erst mich, dann ihre Hände, Knie und Fußspitzen an und kicherte in sich hinein.
Über die Regie des Abends hatten wir gesprochen. Almut und Ralph fanden es fair, mir als dem Dreier-Neuling die Wahl zu lassen: Wollte ich zuerst aktiv oder Zuschauer sein? Es war mir immer als eine Selbstverständlichkeit erschienen, dass ich als Ehemann den Anfang machen müsste. Aber wenn ich mir die Szene vorstellte, wurde ich nicht froh damit. Es konnte doch sein, dass ich versagte. Oder dass ich, mitten im Akt, Ralph zum Teufel wünschte und das herausschrie. Als Zuschauer würde ich mich, so hoffte ich, leichter in der Gewalt behalten. Zur Not konnte ich die Augen schließen. Das schien mir nicht ganz so schmachvoll wie der Zusammenbruch meiner Männlichkeit in Almuts Armen - mit Ralph als verständnissinnigem Beobachter. Sollte das im zweiten Akt passieren, so hatte ich als toleranter Zuschauer schon ein paar Pluspunkte in petto, und die Niederlage wäre nicht so verheerend.
An einem Wintersamstagabend war es dann soweit. Ralph erschien - mit einem Handy in der Brusttasche und mit Champagner! Wir stießen an. Redeten ein bisschen hin und her, ohne den Dreier anzusprechen, zu dem wir ja nun bereit waren. Schließlich nahm Almut mich beiseite - sie schickte mich ins Schlafzimmer; im Sessel vorm Fenster sollte ich warten. Das tat ich. Die beiden legten im Bad ihre Sachen ab und duschten; Ralph telefonierte, während Almut ein Weihnachtslied sang. Als sie eintraten, schwiegen sie immerhin, nur Almut hustete künstlich. Beide trugen Morgenmäntel. Er führte sie an seiner Hand wie eine Braut herein und lächelte dazu. Almut trug noch Schmuck und ihre Armbanduhr, die legte sie jetzt ab. Es gab kein verführerisches Getue ihrerseits, keine Worte oder Gesten, nichts. Ich weiß noch genau, dass die geschäftsmäßig-stille Geste des Uhr-Abnehmens, die sie genauso vollzog, wenn sie nur ins Bett ging, um zu schlafen, mich wirklich rührte. Oha, dachte ich, jetzt geht es los, gleich wird sie nackt und ich werde nicht mit ihr allein sein. Und mein Magen verzog sich erst Richtung Herz, dann Richtung Gedärm und blieb da schmerzend hängen.
Ohne meiner Wenigkeit im Sessel einen Blick zu gönnen, lösten beide ihre Bindegürtel und warfen die Mäntel von sich. Ich roch unser Duschgel und bewunderte verstohlen Ralphs drahtige Figur. Sein Rücken war ziemlich gekrümmt, aber so muskulös, dass die Krümmung nicht störte. Sein Becken war leicht nach hinten gekippt, wie um einer staunenden Welt das gesträubte rostrote Schamhaar vorzuführen, auch den einstweilen noch fromm herabhängenden Schwanz, der aber selbst in diesem Zustand durch seine breite Wurzel bestach. Almut kniete sich augenblicklich auf den Teppich, fing sein Ding mit den Lippen und sog es ein. Ralph legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er stellte die Füße ein Stück weit auseinander, um einen guten Stand zu haben und gab von gurrendem Lachen untermischte Seufzer von sich. Ich betrachtete seine Schenkel, die einen enormen Umfang hatten. Vor ihm wirkte Almut elfenzart. Sollte ich sie nicht beschützen? In Sicherheit bringen? Es dauerte nicht lange, dann gab ihr Mund einen wundervoll aufragenden Schwanz frei. Er reichte ihr die Hand, um sie emporzuziehen. Dann hob er sie vom Boden hoch und legte sie aufs Bett. Und sich daneben.
Eine Welle von Eifersucht schwappte mir ins Herz. Sie war nicht groß, dafür böse, drängend und ungewohnt. Ich zitterte in meinem Sessel und schwitzte außerdem. Das Paar lag umschlungen da, er deckte sie mit seinem Körper zu. Sie zog seinen Kopf auf ihr Gesicht herab, um mit ihm jene Küsse zu tauschen, die ich seit dem »Crystal« gut kannte. Aber mit seinem Mund an ihrem waren es natürlich andere Küsse. Ralphs Lippen waren üppig, hübsch geschwungen, und einige seiner dickeren Sommersprossen saßen genau auf der Trennlinie von lila Lippenhaut und weißer Gesichtshaut - als hätten sie nicht gewußt, wohin. Ob wohl Almut seine Küsse besser schmeckten als meine, da ja meine Lippen schmal und rosa sind? Und er? Wie dachte er über ihren Mund, über ihre hingebungsvolle Art zu küssen - so als sänke sie dabei in Trance? Was dachte er überhaupt?
Er spricht jetzt zu ihr, flüstert von Lachen und Küssen verzerrte Wörter in ihr Ohr, und als sie darauf dankbar juchzt, wird er lauter. Ich verstehe »dein Mann«, ich verstehe »muss alles sehen«, ich verstehe »Ehemann«, ich verstehe »Angetrauter« und noch einmal »sieht zu« und allerlei obszöne Vokabeln, die beiden einen Heidenspaß machen. Dabei liegt Almut ziemlich regungslos unter dem Muskelmann, und ich weiß wieder nicht, wo ich meine Freude an dieser Szene hemehmen soll. Mein Magen schert noch einmal aus; ich möchte flüchten und richte mich schon auf.
Da haben die beiden genug von ihren Albernheiten und rollen sich ein paarmal umeinander. Ralph richtet sich auf. Er nimmt ihre Hände in seine und breitet ihre zarten Arme über das Laken aus. Dann macht er es mit ihren Beinen ebenso: Er kniet und sieht sich ihre gespreizten Glieder an. Ich gewahre seinen Schwanz, der seine volle Form behalten hat und jetzt auch von ihm, Ralph, der weidlich lächelt, begutachtet wird. Und sie, natürlich, sie starrt auch auf das Wunderding. Er setzt es, noch lächelnd, ohne mit der Hand zu helfen, auf ihren Hügel und tickt und sucht und rutscht. Seine Lippen spitzen sich zu einem »Oooh« und löschen so das Lächeln aus. Sie schließt die Augen, drückt den Hinterkopf ins Kissen Und reckt ihm ihr Kinn entgegen.
Ich sehe mir das an und werde ruhig. Ich denke: So ist das also. Wie normal. Wie unproblematisch. Wie menschlich. Ich lächele sogar vor mich hin. Nein, da ist nichts, wofür man sich schämen muss - weder wenn man zuschaut, noch wenn man es macht. Hat nicht Ralph einen perfekt gerundeten roten Hintern, dessen Backen, wenn er ihn ausholend hebt, ganz leicht auseinanderwogen und dabei verletzlich aussehen, fast kindlich und jedenfalls hübsch. Hat er nicht feine, lange Hände, die liebkosend am Kopf der Frau, an ihrem Ohr, in ihrem Haar zugange sind und die nur Gutes wollen? Warum soll ich dagegen sein, dass so etwas geschieht, dass sie es tun und ich dabei bin? Ich betrachtete Ralphs Rücken, der feucht zu schimmern begann, und stellte erfreut fest, dass ich Lust empfand. Es war eine neue Empfindung. Sie entsprang in den Leisten, floss über den Damm in die Hinterbacken und verteilte sich da. Sie wollte sich nicht sammeln, was mir recht war. Ich genoss sie und legte mir die Hand an den Zwickel. Ich dachte: Almut hat recht gehabt. Auch für mich springt was raus aus dem Dreier. Bin ich der geborene Voyeur und habe es bis heute nicht gewusst? Ich dachte nicht weiter darüber nach, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, zu fühlen.
Ich zog mir die Schuhe aus und dann auch gleich die Hose.
Ich griff mir, während Almut und Ralph es noch trieben, meinen Morgenmantel. Mit ihm auf den Knien erwartete ich Höhepunkt und Ende des Akts auf meinem Ehebett. Ich weiß noch, dass ich heiter war und voller Sympathie. Zu was für einer Größe das Lustgefühl den Charakter steigern kann! Ich hatte auf einmal für vieles Verständnis. Almut war nun mal, wie sie war. Warum nicht ihre Eigenart mitlieben und das Paar auf dem Bett dort segnen? Wofern ich nur... Das Bild der verschlungenen Körper wurde unscharf vor meinem Blick. Meine Augen suchten Ralphs Kopf, der irgendwo zwischen den Kissen und Almuts Brüsten vergraben war. Ich stellte mir seine Gesichtszüge vor. Es wurde mir nicht gleich klar, dass ich meine schöne Gelassenheit mit einem neuen Verlangen erkauft hatte. Ich freute mich für die beiden, als sie kurz nacheinander, erst sie, dann er, kamen und in große Töne ausbrachen: Sie heulte auf, er stöhnte herzhaft, und ich zog die Flasche aus dem Kühler. Es folgte ein allgemeines Morgenmantel-Überziehen und Haare-aus-der-Stim-Streichen wie in der Sauna. Das gefiel mir nicht schlecht. Ralph lachte sportlich und sah mich - wie mir schien absichtsvoll - mehrfach groß an. Almut lächelte verklärt. Sie bemerkte wohl die Gelöstheit in meiner Miene und deutete sie in ihrem Sinn. Wir gerieten in eine humorige Laune, die an Ausgelassenheit grenzte. Schließlich saßen wir alle drei mit untergeschlagenen Beinen auf dem Zweimalzwei-Meter-Bett, süffelten Himbeergeist aus Sektkelchen und lästerten über das Fernsehprogramm.
Die Dreier-Dramaturgie wollte es, dass nach einer Erholungspause ich mit Almut schlief, während uns Ralph vom Fenstersessel aus zusah und durch seine aufmerksame Anwesenheit sowie durch die eine oder andere schlüpfrige Bemerkung Almut die Freude auch am ehelichen Sex beibringen würde. Mir schien, dass meine Frau sich stärker scheute, es vor dem anderen mit mir zu tun als mit dem Liebhaber vor mir, denn sie zögerte den zweiten Akt hinaus und hantierte immer noch mal mit dem Spannlaken. Sie schämt sich vor Schaufuß, schoss es mir durch den Kopf - ist der Schwanz ihres Ehemanns womöglich weniger formvollendet als der ihres Liebhabers? Er mag einen geringeren Durchmesser haben, räumte ich ein, aber die Länge ist okay und die verdickte Spitze geil. Das hat nicht nur sie mir öfters gesagt; wie sollte er das nicht auch finden? Ich zog mich völlig aus und lächelte in mich hinein. Ich fühlte mich gutaussehend und tolerant und meiner reizenden Ehefrau würdig. Almut brauchte nicht lange zu blasen, bis auch ich auftrumpfen konnte wie ein Affe, den die Äffin lockt, wobei, ach, ich nicht mehr wusste, für wen ich das alles hier tat, dieses seltsame »exhibitionieren«. Ich wusste nur, dass ich es plötzlich selber wollte und eine unklare, aber beglückende Erwartung damit verband.
Almut zog mich aufs Bett, sie streckte sich lachend aus; sie kam auf dem Rücken zu liegen. Ihre Hände fuhren mir entgegen, fassten meine Taille und baten mich, ihren Körper genauso zu bedecken, wie es vorhin Ralph getan hatte. Ich gehorchte. Und schämte mich doch eine Spur, weil ich mir der Wirkung meines Körpers in Bauchlage vollkommen unsicher war. Das Blut stieg mir zu Kopf, wo es nicht hingehörte. Ich fing an zu schwitzen. Stellte mir vor, ich sei ein Schauspieler in einem Pornofilm, was mir auch kurzfristig half. Aber dann drohte ich doch abzurutschen, und Almut musste ein paar Griffe und Kniffe anwenden, damit ich in Form blieb.
Ralph war inzwischen aufgestanden und ging um unser Ehebett herum. Das Geräusch seiner Schritte gefiel mir, es versetzte mich in Spannung. Ich lauschte auf seine Stimme, die mit weichem Timbre Sauereien sagte, wie Almut und er sie wohl schon oft ausgesprochen und angehört hatten, denn seine Worte und ihre Lustlaute erschienen mir wie ein gelernter Dialog. Der Refrain hieß: »Was muss ich sehen...«, ich konnte Almuts Erregung, wenn sie diese Zeile hörte, deutlich körperlich fühlen. So also macht’s der Voyeur, dachte ich, er glotzt nicht einfach nur, er teilt mit, was er sieht. Ralph beschrieb meine Rückenansicht und alles, was ich mit Almut tat, so schmeichelhaft, dass ich mich gänzlich fing. Seine frivolen Komplimente und Almuts Temperament rissen mich mit. Ich befriedigte sie so schnell wie nie zuvor, und sie küsste mich in glücklicher Erschöpfung. Ich selbst konnte oder wollte nicht kommen, was mir aber nachgesehen wurde. Almut nahm es nicht so genau, sie war viel zu vergnügt, und Ralph grunzte nur. Zu meiner Freude schien er zu finden, dass ich mich gut geschlagen hatte. Und ich, ich war nur allzu froh, vor ihm mit aufgerichtetem Schwanz hin und her gehen zu können und so vielleicht seinen Respekt zu erregen. Noch nach einer halben Stunde machten Almut und er schmeichelhafte Bemerkungen über meine Potenz.
Ich wusste damals nicht genau, was mit mir los war, und ganz klar ist mir’s bis heute nicht. Ich hielt mein Interesse an Ralph für die normale Neugier, die dem Rivalen gilt, bloß dass die bei mir durch eine Laune der Natur oder durch meine Liebe zu Almut und mein Bedürfnis, alles mit ihren Augen zu sehen, anstatt mit Eifersucht mit Begehren untermischt war. Wir hielten meinen Einstand für geglückt, und Almut vergalt ihn mir mit Zärtlichkeit und einer S-Bahnfahrt nach Potsdam.
Ralph sollte wiederkommen, der Dreier weitergehen, mit neuen Kombinationen. Almut und ich hätten nächstes Mal den Anfang zu machen, am besten in a-tergo-Position, und Ralph würde hinter der Gardine stehen. Auch dass ich hereinplatze, während er und sie mittendrin sind, hatte Almut vorgesehen, außerdem einen Vollzug zu dritt.
Es wurde ein Fiasko. Ralph kriegte von den Gardinenfusseln einen allergischen Nies-Anfall, ich platzte viel zu spät, als die beiden schon fast fertig waren, herein und ließ auch noch die erbetene gespielte Empörung vermissen. Und als wir endlich zu dritt beieinanderlagen, wurde Ralph von seiner Freundin abberufen. Die arme Frau hatte einen Bandscheibenvorfall und lag praktisch gelähmt auf ihrem Flur. Nachdem Ralph gegangen war, beschlossen Almut und ich, ihn darum zu bitten, bei unseren Rendezvous sein Handy zu Hause zu lassen. Auf meine Frage, ob denn seine Freundin wissen dürfe, dass Ralph zu uns zu Besuch komme, erklärte Almut, die sei eingeweiht. Sie schlafe ihrerseits mit einer Philippina. Ich begann, Ralph und seinen Lebensstil vorbehaltlos zu bewundern.
Wir lebten zu dritt. Zwar brachten es Berufstätigkeit und unterschiedliche Freizeitneigungen - Ralph konnte mit Modellbahnen nichts anfangen, und ich war nicht dazu zu kriegen, Tennis zu lernen - mit sich, dass wir uns nur ein- bis zweimal pro Woche sahen, aber es kam doch so weit, dass Almut und ich keinen Wochenend- und keinen Urlaubsplan schmiedeten, ohne Ralph einzubeziehen. Er und ich unternahmen sogar manches zu zweit. Wir gingen schwimmen, sammelten Pilze und unterhielten uns über Politik. Ich hörte ihm gar zu gern zu, denn er sprach, obzwar schnell, melodiös. Er war FDP-Wähler und polemisierte bei jeder Gelegenheit gegen die Subventionen, die in die Ost-Wirtschaft flossen. Seiner Meinung nach käme das Kapital nur freiwillig nach Leipzig oder Chemnitz, wenn niedrige Löhne lockten. Auf meinen Einwand, dass der Faktor Arbeit massenhaft nach Westen drängen würde, wenn das Lohngefälle sich verstärkte, entgegnete er: »Der Mensch hängt an seiner Heimat.« Auch er werde, sowie er die Frau fürs Leben gefunden habe, nach Bornholm zurückgehen.
Diese Bemerkung gab mir einen Stich. Er wollte also weg. An uns lag ihm nur wenig. Wir waren nicht mehr als eine hübsche Abwechslung für ihn, und selbst seine bisexuelle Freundin, die mit dem Rückenschaden, war nur ein vorläufiges Arrangement. Wie traurig. Ich wurde ein bisschen stiller in seiner Gesellschaft; vermutlich hat er das gar nicht gemerkt. Als wir das nächste Mal zu dritt und nackt im Schlafzimmer versammelt waren und er mir den Rücken zukehrte, während Almut vor ihm kniete, spürte ich ein enormes Verlangen, meine Hände auf seine Hüften zu legen und mein Gesicht in sein Kreuz zu schmiegen. Ich kam von diesem Wunsch nicht los. Ich wusste, dass ich nicht imstande sein würde, mit Almut zu schlafen, und entschuldigte mich unter dem Vorwand, ich hätte eine Kolik. Genaugenommen war es gar kein Vorwand. Was anfangs überraschende Lust gewesen, war bald schon in Verwirrung übergegangen und jetzt in Scham. Und das war nicht weniger schlimm als eine echte Kolik. Wir müssen über alles reden, dachte ich und beruhigte mich damit. Wir taten es sogar. Und hätten es wahrscheinlich lieber lassen sollen.