Читать книгу Das Geheimnis um das Tatzmannsdorfer Wunderwasser - Barbara Trattner - Страница 5

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Minnerl ist eine Frau von robuster Natur. Sie war eigentlich noch nie ernsthaft krank. Sie ist das einzige Kind ihrer Mutter, das die Kindheit überlebte. Zu ihren Lebzeiten ließ ihre Mutter keine Gelegenheit ungenützt, die Tatsache hervorzuheben, dass die Gesundheit ihrer Tochter praktisch unverwüstlich war. Der Tod ihres ältester Bruder im Jahr 1214 im Alter von sechs Jahren am Fieber, der ihrer beiden älteren Schwestern im Jahr 1216 an andauernden Durchfällen und der ihrer beiden jüngeren Brüder innerhalb weniger Wochen nach deren Geburt am Husten – sie waren eben im Winter geboren worden- machte Minnerl im Alter von 10 Jahren wieder zu einem Einzelkind und Nesthäkchen ihrer armen Mutter, die zu diesem Zeitpunkt bereits von den Strapazen des alltäglichen Lebens und den vielen Schicksalsschlägen, die sie hatte über sich ergehen lassen müssen, gezeichnet war. Kurz bevor sie starb, heiratete Minnerl einen wohlhabenden Bauerssohn, der die Wirtschaft seines Vaters nach dessen Tod übernommen hatte.

Es war aus Minnerls Sicht zwar keine wirkliche Liebesheirat, aber sie gewann den grobschlächtigen Mann und seine kantige und doch gutmütige Art über die Jahre sehr lieb. Sie gebar drei gesunde und starke Kinder, kümmert sich um ihre Schwiegermutter, macht den Haushalt, organisiert die Arbeit der Mägde und Knechte auf dem Hof und hilft bei der Viehwirtschaft.

Der Bauernhof ihres Mannes Mathes liegt inmitten der Jormannsdorfer Sümpfe, zwischen Tatzmannsdorf, Mariasdorf und Oberschützen. Der Boden um den Hof ist fruchtbare Torferde, die selbst an heißen Sommertagen nicht ganz austrocknet und reiche Ernten an Obst und Gemüse abwirft. Direkt am Gemüsegarten und die hinter dem Haus liegenden Obstbäume grenzt das Jormannsdorfer Moor. Die Ackerflächen für Getreide liegen etwas abseits auf der anderen Seite des Hofs und grenzen an den Waldbach, der die Grenze der Wirtschaft markiert. Der ehemalige Waldboden, der von Mathes Vater gerodet wurde, ist etwas trockener und daher für den Getreideanbau gut geeignet. Wenn ein wirklich heißer Sommer das Getreide zu vertrocknen droht, so haben die Bauersleute die Möglichkeit, die Feldfrüchte durch die Nähe zu dem Waldbach relativ einfach zu bewässern. Der Jormannsdorfer Forst, der auf der anderen Seite des Waldbaches beginnt, ist ein dichter Mischwald, den die Bauersfamilie zur Holzbeschaffung und Hasenjagd nutzen darf. Der Waldbach selbst ist voller Forellen und besonders an heißen Sommertagen kann man oft Kinder und Knechte mit Stoffnetzen beim Fischen beobachten.

Vom Hof aus sieht man hinauf auf den Sulzriegel, eine Anhöhe, die oberhalb des Ortsgebietes von Tatzmannsdorf liegt. In Jormannsdorf selbst gibt es nicht viele andere Häuser, so dass Minnerl und ihre Familie eigentlich keine richtigen Nachbarn haben. Zum Hof führt nur ein matschiger Lehmweg, der an der Stelle wo er durchs Moorgebiet führt mit Holzpfählen befestigt ist. Dieser Weg ist auch die Durchzugsstraße von Mariasdorf und Oberschützen in Richtung Tatzmannsdorf oder weiter nach Oberwart. Daher ist der Weg einigermaßen frequentiert und die Bauersleute haben regen Kontakt zur Außenwelt, trotz ihrer abgeschiedenen Lage.

Das Leben am Hof ist hart, anstrengend und erbarmungslos. Die Bauersleute sind von der Witterung abhängig und wenn sie die Wetterlage falsch einschätzen, kann es geschehen, dass das gemähte Gras, das als Heu zum Trockenen aufgelegt ist, im Regen verdirbt und die Tiere über den Winter verhungern. Oder noch schlimmer: Gibt es starke Einbußen bei der Getreideernte, dann droht der Familie selbst ein hartes Auskommen über den Winter. Jedoch hat die Familie des Bauern Mathes Glück im Unglück. Zumindest das Land, auf dem sie leben und arbeiten, gehört ihnen selbst. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, denn viele Bauern sind Leibeigene und müssen von dem Wenigen, das sie haben, Abgaben an die Ritter leisten. Jedoch rettete Mathes Vater das Leben eines Ritters, als dieser gekleidet in seine Rüstung nach einem Sturz vom Pferd in einen Teich gefallen war und beinahe ertrunken wäre. Zum Dank dafür, war Mathes Vater Herr seines Landes geworden. Durch vorausschauendes Wirtschaften, harte Arbeit und auch etwas Glück blieben die Bauersleute bisher von Hungersnöten verschont und brachten auch ihre Tiere - das waren vier Kühe, ein Pferd, eine Menge Schafe, Schweine, Hühner und eine Gänseschar – gut übers Jahr. Minnerl ist trotz der stetigen Unsicherheit was die Zukunft bringt und der schweren körperlichen Arbeit stets guter Dinge und ihr Optimismus und ihre schier unendliche Lebensenergie schlagen jede aufkeimende Krankheit normalerweise binnen weniger Tage in die Flucht.

Seit nunmehr zwei Wochen aber beherrschen hartnäckige Bauchkrämpfe die Minnerl, so dass sie mittlerweile nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Zwar kleingewachsen, aber von stämmiger Natur, werfen mittlerweile ihre Backenknochen Schatten in ihr blass gewordenes Gesicht. Wo früher zwei Speckröllchen ihren Kindern ein weiches Kuschelnest boten, stehen nun die Beckenknochen aus dem eingefallenen Bauch hervor. Sie liegt in der hinteren Stube auf einer Holzpritsche, neben ihr steht ein Bottich gefüllt mit Auswurf und übelriechenden Exkrementen. Ihre Haut ist fahl und an der Stirn haben sich kleine, kalte Schweißtropfen gebildet. Sie fröstelt unter der stinkenden Wolldecke. „Der nächste Fieberschub kommt“, denkt sie. Ihre Lippen sind aufgesprungen, die Augen glasig und die Haare fallen ihr aus. „Ich halte nicht mehr lange durch“, denkt sie und presst die Augenlieder fest zusammen, um nichts sehen zu müssen. Sie wundert sich, dass keine Tränen mehr kommen obwohl ihr zum Heulen ist, wenn sie an ihre Kinder denkt.

In der Küche hat die Magd inzwischen den Ofen angeheizt, denn die klirrende Kälte dringt an jenem Novemberabend durch Ritzen in den strohverstopften Fenstern. An den Strohhalmen hat sich der erste Frost in diesem Jahr gebildet. Der Bauer, seine Mutter und die drei Kinder sitzen eng gedrängt um den Tisch und warten, dass die Magd den Topf mit der Rahmsuppe aufträgt. Sie bereitete die Suppe mit Brotbrocken und getrockneten Pilzen und kochte darin ein großes Stück Speck mit, weil die Kinder gar so traurig sind. Unter normalen Umständen würde das kleine Lieserl Luftsprünge beim Anblick dieser Suppe machen, doch heute nimmt sie die Delikatesse gar nicht wahr. Die Suppe dampft den guten Geruch in die Stube und trotzdem hat niemand Appetit darauf. Die Kerze flackert im Zugwind, der permanent durch die Stube weht, und wirft lange Schatten an die Wand. Die Magd verlässt wortlos den Raum und der Bauer legt den Kopf in seine Hände und betet: „Lieber Gott, bitte nimm uns nicht die Minnerl.“ Der kleinen Lieserl, die mit ihren drei Jahren immer noch an der Mutterbrust hängt, kullern die Tränen übers Gesicht und sie bohrt ihren Kopf in den Schoß ihrer älteren Schwester Kathi, die die Hände von Lieserl und ihrem Bruder Hans fest drückt. Hans´ Gesicht ist verquollen vom vielen Weinen und er schluckt heftig, als er die Worte des Vaters vernimmt.

Der Bauer schöpft sich Suppe in seine Schüssel und nimmt einen ersten Bissen. Lustlos zerdrückt er ein erstes aufgeweichtes Brotstück mit der Zunge am Gaumen. Die Kinder halten schweigsam die Köpfe in den Suppendampf. Lieserl klettert auf Kathis Schoß. Sie kann nicht essen, ihr steckt ein Kloß im Hals. „So geht das nicht weiter“, sagt die Mutter des Bauern nachdenklich und schaut tief ins Gesicht ihres Sohnes. Die Falten um ihre Augen zucken. „Anna!“, ruft sie mit schriller Stimme nach der Magd, die sofort verängstigt in die Stube tritt, den Blick nervös nach unten senkt und die Hände unter ihre löchrige Schürze steckt. „Hat die Minnerl gegessen?“, fragt die alte Frau die Magd und dreht ihr dabei das rechte Ohr zu, da sie auf dem anderen nichts mehr hören kann. „Nein“, erwidert die Magd schüchtern, „auch nichts getrunken. Sie kann nichts behalten. Ihr Körper stoßt alles wieder aus.“ Die Magd wartet etwas unschlüssig im Türrahmen und verlagert ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Nach einer Weile geht sie wieder zurück zum Herd. „Ich muss den Arzt kommen lassen“, murmelt der Bauer und legt sein Gesicht in Falten. Kathis Augen blitzen kurz auf. „Hoffnung für die Mutter“, denkt sie. „Morgen ist der Arzt ohnehin bei der Mutter vom Schmied im Ort. Ich werde den Knecht schicken, dass er bestellt, dass der Arzt nach dem Krankenbesuch dort bei uns vorbeikommt“, brummt der Bauer, legt seinen Löffel nieder und geht seufzend in den Stall, um den Knecht zu suchen. „Esst jetzt, Kinder“, sagt die Mutter des Bauern, als er den Raum verlassen hat und streicht Lieserl über die fettigen Haare, „sonst werdet’s ihr auch noch krank!“. Aus Dankbarkeit ihrer Großmutter gegenüber stecken die Mädchen hastig einige Brotbrocken und Schwammerl in den Mund. Hans´ Magen krampft und er hat das Gefühl, dass er sich aus Angst um die Mutter übergeben muss, doch auch er schlürft artig etwas Suppe.

Der Bauer und seine Mutter legen sich in die Betten, die am anderen Ende der Stube stehen, die drei Kinder teilen sich eine Pritsche, über die ein Laken gespannt ist. Lieserl und Hans rollen sich eng aneinander und fallen sofort in einen tiefen, seligen Schlaf, mit Hans‘ Daumen in Lieserls Mund. Nur Kathi kann nicht einschlafen. Die Luft in der kleinen Stube ist mittlerweile aufgeheizt von der Abwärme des großen Ofens in der Rauchkuchl und feucht von den Suppendämpfen und den Ausdünstungen der vielen Menschen, die darin schlafen. Vorsichtig richtet sich Kathi auf und lauscht andächtig in die leise Nacht. Das Lieserl gibt Sauggeräusche von sich, der Bauer grunzt und schnarcht leise. Im Nebenzimmer hört Kathi ihre Mutter würgen und stöhnen. Kathi hält den Atem an und schleicht auf Zehenspitzen über den knarzenden Holzboden hinüber in die hintere Stube, wo ihre Mutter liegt. Die Luft hier ist kalt und durch das dürftig mit Stroh vermachte Fenster zieht es frostig, als Kathi die Holztür aufschiebt und den kleinen Raum betritt. Der Geruch von Essig sticht Kathi in die Nase. „Anna hat der Mutter Essigpatscherl gemacht“, denkt sie und verzieht das Gesicht. Auf dem rauen, kühlen Holzboden kniet Kathi nieder und nimmt zaghaft die Hand der Mutter zwischen die ihren. Minnerl registriert die Berührung nicht. „Gib nicht auf Mutter!“, sagt Kathi während ihr die Tränen die Wangen hinunterkullern, „Morgen kommt der Arzt.“ Von den Gesprächen aufgeschreckt, flattern einige Hühner auf, die ebenfalls in der hinteren Stube überwintern. Eine Henne ist in ihrer nächtlichen Verwirrtheit auf der Nase eines der vier Schafe gelandet, die neben den drei Ziegen durch den Winter gefüttert werden müssen und die kühlen Nächte ebenfalls mit der Bauersfamilie im Haus verbringen. Die Abwärme der Tiere ist eine Wohltat in solch eisigen Nächten und tröstet einen über den Gestank, der von ihnen ausgeht, hinweg. Das Schaf schüttelt energisch den Kopf und blökt kurz, um den Vogel zu verscheuchen. Kathi, unbeeindruckt von den vielen Tieren, wringt einen Lappen in dem Bottich mit Wasser aus, der neben der Pritsche steht, und legt ihn der Mutter auf die Stirn. Minnerl seufzt kurz auf und sackt dann wieder zusammen. Kathi zieht eine gefilzte, von Erbrochenem verschmutzte Decke hoch bis zum Kinn ihrer Mutter. Minnerl stöhnt und wirft kraftlos den Kopf hin und her. Neben dem Bottich steht noch der Lindenblütentee, den Anna gebracht hat. Kathi nimmt einen Löffel und benetzt die Lippen ihrer Mutter mit dem Tee. „Bitte Mutter“, schluchzt sie mit zitternder Stimme, „ich hab dich doch so lieb. Noch ein Löffel.“ Minnerl schluckt. Noch ein Löffel. Und noch einer. Minnerl schluckt wieder, drückt schwach die Hand ihrer Tochter und schläft dann ein.

Das Geheimnis um das Tatzmannsdorfer Wunderwasser

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