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Liebe, die nicht endet – Leben nach dem Unfalltod ihrer gesamten Familie

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Ich treffe Barbara Pachl-Eberhart, 34 Jahre alt, im Bayerischen Hof in München. Sie hat den Spiegelbesteller „vier minus Drei“ geschrieben und dort bereits ein anderes Interview.

Wir sitzen auf dem Dach des Hotels mit Blick über die Stadt. Barbara ist schlicht gekleidet und erscheint auf den ersten Blick sehr zierlich, zart, fast zerbrechlich. Im Gespräch spüre ich aber ihre innere Größe, die sie ihr schwieriges Schicksal bewältigen lässt, und ihre Liebe, die stärker ist als der Tod. Barbara verlor von einem auf den anderen Tag ihren Mann Heli und ihre zwei Kinder bei einem Zugunglück. Ihre Geschichte geht unter die Haut. Aus heiterem Himmel einen geliebten Menschen zu verlieren, lässt wohl niemanden kalt. Nur: Bei ihr ist es gleich ihre ganze Familie. Allein die Vorstellung gleicht einem Albtraum.

Am Morgen des 20.3.2008 schien die Sonne. Es war Gründonnerstag. Eine glückliche Familie scherzte am Frühstückstisch. Barbara musste gleich los, sie hatte einen Termin als Clown in einem Krankenhaus. Als sie sich verabschiedete, hielt ihr Sohn Timo, 5 Jahre alt, sie lange fest. „Mama, ich lass dich nie mehr gehen.“ Obwohl in Eile, genoss Barbara die innige Umarmung, so lange es ging. Dann umarmte sie ihre zwanzig Monate alte Tochter Fini. Noch ein Kuss für Heli, für Timo, für Fini. Barbara verließ das Haus. Ihr Mann Heli wollte später mit den zwei Kindern einen Ausflug machen, im gelben Clownbus der Familie. Timo hatte frei, es waren Osterferien. Der Weg führte kurz darauf über einen unbeschrankten Bahnübergang im Nachbarort. Ein kleines, idyllisches Dorf in der Steiermark. Der Zugführer des herannahenden Zuges konnte nicht mehr bremsen. Der Clownbus wurde von der Fahrbahn geschleudert. Heli war sofort tot, die Kinder wurden lebensgefährlich verletzt. Ein kurzer Moment, und Barbaras Leben war nicht mehr das, was es vorher war.

„Wir waren gerade erst in ein neues Haus gezogen, mit Garten und allem drum und dran. Heli hat es in kürzester Zeit renoviert. Er wollte es unbedingt fertig haben, als hätte irgendetwas in ihm geahnt, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Vorher wohnten wir in einer Siedlung mit vielen Nachbarn. Jetzt waren wir plötzlich allein in diesem Haus und sehr mit uns selbst konfrontiert. Dabei war nicht immer nur alles eitel Sonnenschein zwischen Heli und mir. Es gab Situationen, in denen wir beide überfordert waren und uns stritten. Ich war nicht perfekt, auch nicht die perfekte Mutter.

Wenn wir nicht weiterwussten, suchten wir uns auch das eine oder andere Mal Hilfe bei einer Therapeutin. Dort begriffen wir rasch, dass uns gegenseitige Schuldzuweisungen nicht weiterbringen. Wir waren uns einig, dass wir uns sehr lieben, aber manchmal einfach nicht weiterwissen. Von da an pflegten wir eine Art Morgenritual zur Erinnerung: „Ich bin dir gut, und alles, was ich sage, meine ich im Guten.“ Das sagten wir einander vor dem Aufstehen und schauten uns dabei fest in die Augen. Es gab uns viel Kraft und veränderte von einem Tag auf den anderen alles. Wir hörten auf, uns gegenseitig Schuld zuzuschieben. Plötzlich waren wir so etwas wie Komplizen innerhalb unseres Konflikts, innerhalb des Problems, das wir miteinander hatten.

Wenn es uns gelang, alles Überflüssige wegzuradieren, blieb immer nur unsere Liebe. Es war dann, als hätten wir eine Frucht von einer dicken Schale befreit und plötzlich wieder das gesehen, was drinnen ist: der Kern, die Liebe. In diesem Gefühl purer Liebe lebten wir in der Zeit vor dem Unfall miteinander. Heli war in den Wochen vor seinem Tod voller Frieden, mit sich und dem Leben ausgesöhnt. Vielleicht war es eine Zeit, in der wir uns unbewusst auf den Abschied vorbereiteten, eine Zeit, die wir erleben durften, um in Frieden und in Liebe Abschied zu nehmen.

Ich hatte nicht das Gefühl, dass noch irgendetwas zwischen uns stand. Es gab nichts, was ich ihm unbedingt noch hätte sagen müssen. Wir waren voller Liebe und hatten eine wundervolle Zeit miteinander. Das half mir zu akzeptieren, dass er jetzt woanders und unsichtbar ist. Diese Gewissheit, dass er mich so liebte, wie ich bin, half mir dabei sehr.“

Barbaras Kinder wurden lebensbedrohlich verletzt. Ihr Sohn Timo wurde an der Unfallstelle reanimiert, starb jedoch drei Tage später im Krankenhaus in den Armen seiner Mutter. Ausgerechnet in jenem Krankenhaus, in dem Barbara als Clown schon oft Menschen zum Lachen gebracht hatte. Fini lag im Bett neben Timo und kämpfte um ihr Leben. Auch sie war bewusstlos, doch im Gegensatz zu Timo gaben ihr die Ärzte noch reelle Überlebenschancen.

„Meine Tochter wurde zu einer Notoperation geholt, weil ihr Hirndruck stieg. Ich wusste, dass das riskant ist, aber ich wollte einfach nicht glauben, dass gerade während der Operation etwas Bedrohliches passieren würde. Ich dachte fast wie in Trance nichts anderes als: „Sie wird gerettet. Sie wird leben.“

Während der Operation war ich im Wald spazieren. Die Ärzte hatten mich rausgeschickt. „Es bringt nichts, wenn Sie im Krankenzimmer sitzen. Sie werden hier nur wahnsinnig.“ Also ging ich. Es war 22.30 Uhr. Ich lief durch den Wald, und da schien es mir auf einmal, als hätte das ganze Universum in mir Platz genommen. Als würde es mich bis in jede Fingerspitze erfüllen. Es kribbelte furchtbar stark, fast wie bei einem Orgasmus! Liebe anders kann ich dieses Gefühl nicht beschreiben. Gleichzeitig spürte ich eine unendliche Kraft.

Ich rannte durch den Wald, bis ich nicht mehr konnte, und sang dabei aus voller Kehle das Pippi-Langstrumpf-Lied. Zurück im Krankenhaus fühlte ich mich wie vollgepumpt von unermesslicher Energie. „Jetzt hole ich sie zurück ins Leben“, dachte ich. Als ich Finis Zimmer betrat, wusste ich jedoch sofort, dass ich zu spät gekommen war. Sie war gestorben, während ich singend durch den Wald gelaufen war. Ironie des Schicksals? Nein, ich glaube nicht. Ich ahne, dass Fini mich mitgenommen hatte, dorthin, wo ihre letzte Reise sie trug. Sie muss genau dasselbe erlebt haben wie ich – diese unendliche Freude und Kraft. Seitdem spüre ich diese Liebe wie eine Stromleitung, an die ich angeschlossen bin. Das hat seit damals nicht aufgehört. Wenn ich mich damit verbinde, sind da auch kein Schmerz, kein Leiden, keine Traurigkeit mehr, nur noch Liebe. Dort, wo Fini ist, wo diese Liebe ist, kommen wir her, und dort gehen wir auch wieder hin.“

Ein Leben lang wollten Heli und Barbara einander lieben, ehren und achten. Gemeinsam wollten sie durch dick und dünn gehen. Sie wussten damals noch nicht, wie kurz ihr gemeinsames Leben sein sollte.

„Unser Kennenlernen war bei uns beiden Liebe auf den ersten Blick. Wir sahen einander und wussten sofort: Das ist es. Es war, als hätte mich etwas auf magische Weise direkt in Helis Arme geführt. Bei einem Stadtfest in Graz stand er als Clown auf der Bühne. Ich war damals gerade mit dem Zug von einem Clown-Workshop aus Wien zurückgekommen und ging durch die Fußgängerzone nach Hause. Bereits aus fünfzig Metern Entfernung sah ich diesen Clown. Es gab kein Vorbeikommen mehr. Ich wurde wie magnetisch zu dieser Bühne gezogen, zu ihm. Ich drängte mich sogar bis in die erste Reihe. Heli holte mich sofort als Freiwillige auf die Bühne, dreimal hintereinander, immer nur mich. Auch er war wie elektrisiert. Unsere Begegnung war sehr physisch und direkt, der Körper übernahm das Ruder. Es war keine Zeit für Gedanken wie: „Oh, ich liebe ihn“, kein Raum für Distanzierung durch Worte. Wir waren. Nicht mehr, nicht weniger. Wir.“

4. Juli 2000, der amerikanische Unabhängigkeitstag und zugleich der Beginn einer großen Liebe. Drei Monate später war Barbara schwanger. Im sechsten Monat wurde geheiratet, mit dickem Bauch.

„Heli war so nahe an dem, was er eigentlich ist. Er war ohne Panzer und wirkte so, als würde etwas durch ihn hindurchleuchten, als würde er seine Seele auf der Nasenspitze tragen, auf seiner Clownsnase. Das machte ihn aber auch sehr verletzlich und mitunter für seine Umwelt schwer verträglich. Was Heli zu sagen hatte, beschönigte er nicht. Er konnte sehr direkt sein, und das war nicht immer nur charmant.

Als er einmal mit einem Nachbarn stritt, hielt er gerade eine Blumenspritze in der Hand, und als ich dazu kam, spritzte Heli dem verblüfften Nachbarn tatsächlich direkt ins Gesicht. Es war einfach mit ihm durchgegangen. Das wurde später zum Running Gag in unserem Freundeskreis. Wenn Heli grantig wurde, deuteten alle eine Spritzflasche an und lachten. Am meisten berührte uns Heli, wenn er als Clown einfach nur schaute, stumm und mit offenem Blick. Diesen Blick hatte er auch manchmal, wenn er keine Clownsnase trug. Mit dieser Art, wie Heli jemanden anschauen konnte, fühlte man sich gesehen und wertgeschätzt. Er zimmerte sich, glaube ich, kein Bild von anderen, sondern erkannte die Menschen wirklich. Ich fühlte mich nie von einem Menschen so gesehen wie von Heli, in allem, auch in meinen Schwächen. Damit konnte er mich natürlich treffen. Er hatte immer so recht mit dem, was er sagte. Aber die Wahrheit will man nicht immer hören. Irgendwie waren Heli und ich uns immer schon sehr nahe und ähnlich. Viele Leute glaubten anfangs, dass wir Geschwister seien, weil wir einander auf seltsame Weise ähnlich sahen, vielleicht nicht nur äußerlich, sondern in der gesamten Art, wie wir durchs Leben gingen.

Manchmal werde ich gefragt: „Sprechen Sie noch mit Ihrer Familie?“ Besonders in der ersten Zeit war ich ständig im Dialog mit meiner Familie. Ich fragte oft laut in die Luft: „Heli, was sagst du dazu?“ Heute ist aus dem Zwiegespräch eher ein stummes Einvernehmen geworden. Die Verbundenheit zwischen uns ist nun fast noch stärker spürbar. Ich habe oft das Gefühl, dass Heli ganz nahe bei mir ist, als wären wir mittlerweile verschmolzen.“

Es gab Momente, Zeiten, in denen Barbara ihrer Familie am liebsten gefolgt wäre und dem Leben Lebewohl gesagt hätte.

„Auch heute gibt es noch Phasen, in denen ich das Gefühl habe: Ich kann jetzt nicht mehr in diesem Körper sein. Ich will einfach nicht mehr. Dieses Leben mit allem, was es mit sich bringt, macht mich manchmal halb wahnsinnig. Es gibt Stunden, da habe ich das Gefühl, meinen Körper zerreißt es, er zerplatzt, ich halte es nicht mehr aus. Dann rede ich manchmal auch mit Gott und sage: „Kannst du mich nicht endlich zu dir holen?“ Immer noch, mehr als drei Jahre nach dem Unfall, gibt es Momente, in denen der Schmerz in jede Pore kriecht und mich zerfleischt. Dieser Zug hinüber ist stark, weil drei meiner allerliebsten Menschen dort sind. Wenn ich mich wieder einmal von der ganzen Welt unverstanden fühle, wird dieser Sog gleich stärker. Dann muss ich sehr streng mit mir sein. „Nein, dein Platz ist hier, du gehörst hierher!“

Was ich aus Erfahrung gelernt habe: Diese Phasen gehen meistens von selbst vorbei. Für den Rest sorgt das Leben, das immer wieder sehr lieb zu mir ist und mich oft genug reich beschenkt. Heli verkläre ich manchmal. Gerade wenn mir das Leben so, wie es ist, nicht passt, jammere ich gerne. „Heli, warum bist du nicht mehr da? Wärst du noch da, wäre jetzt alles wieder gut. Du würdest mich auf jeden Fall verstehen.“ Diese Verklärung ist tückisch. Sie macht mir das Leben nicht unbedingt einfacher und natürlich auch meinem neuen Partner nicht. Das einzige Heilmittel besteht darin, mir immer wieder bewusst zu machen, dass mit Heli und unseren Kindern auch nicht immer alles perfekt war. Wenn ich realistisch bleibe und mir vergegenwärtige, dass es früher trotz aller Liebe auch manchmal schwierig war, wird es mir wieder leichter ums Herz. Damit lasse ich Heli seine Würde als Mensch und als der Partner, der er war, und mache aus ihm keinen unantastbaren Heiligen.

Manchmal war es nicht einfach, diese menschliche Seite von Heli im Bewusstsein zu halten. Nach Helis Tod durfte ich im Freundes- und Verwandtenkreis nur über seine schönen Seiten reden. Sobald ich kritisch war, wiesen mich alle streng zurecht. Über Situationen zu sprechen, die zwischen Heli und mir schwierig gewesen waren, schien irgendwie tabu. Als mein neuer Partner Ulrich in mein Leben trat, sagte ich einmal etwas wie: „Mit Ulrich kann ich besser reden als mit Heli.“ Da bekam ich in meinem Freundeskreis ernste Probleme. „Was fällt dir ein, den Heli hinzustellen, als hätte er sich nicht gut ausdrücken können!“ Komisch, bei meinen Kindern war das Tabu genau andersherum. Wenn ich über ihre lustigen und schönen Seiten sprechen wollte, gingen die Blicke sofort zu Boden, und die Tränen begannen rundherum zu laufen.“

Statt einer Bestattung gestaltete Barbara ein Seelenfest. Ein Fest für ihren Mann, ihre Kinder und die vielen irdischen Freunde. Die Feier sollte hell und fröhlich sein. Fünfzig Clownkollegen kamen, mit Nase und Kostüm. Sie spielten laut Musik, um die Herzen aller so leicht wie möglich zu machen. Nur wer unbedingt ein Bedürfnis nach schwarzer Kleidung hatte, kam in Schwarz. Auf Barbaras Wunsch brachte jeder drei Blumen mit, um sie Heli, Timo und Fini auf den Sarg zu werfen. Dazu noch bunte Blätter mit Geschichten und Erlebnissen aus der gemeinsamen Vergangenheit. Barbara wollte die Erinnerung auf diese Weise lebendig halten.

Helis Körper sah ich im Bestattungsinstitut noch. Er sah glücklich und entspannt aus, als hätte er nicht gelitten. Ich wollte keine traurige Beerdigung, zu der alle in Schwarz gekleidet kommen. Das hätte meiner Familie nicht entsprochen. Ich wollte ein buntes Fest, ein Seelenfest. Heli war ja Clown wie ich, und so war es naheliegend, auch die Clowns einzuladen. Ich machte vieles anders als üblich, aber das heißt nicht, dass ich die Traditionen nicht wertschätze. Viele Riten und Traditionen rund um das Sterben haben ihre Berechtigung, und so manches habe ich erst später begriffen: „Ach, deshalb macht man die Totenklage“, „Ach, das ist also der Sinn des Trauerjahrs“, „Ach, darum trägt man also Schwarz...“ Leider ist von den Riten und den alten Bräuchen in unserer Gesellschaft heute nur noch so etwas wie ein Abziehbild übriggeblieben, das seine ursprüngliche Kraft weitgehend eingebüßt hat.“

Dass Barbara dem Tod anders begegnete als in schwarzer Kleidung, erfreute nicht jeden. Viele Menschen konnten ihre Art, mit dem Tod umzugehen, nicht verstehen. Missverständnisse waren vorprogrammiert.

„Es gibt Freunde, die mir vorwarfen, dass ich den Schmerz verdränge. Das beschäftigte mich eine Weile sehr. Es stimmt schon, dass ich meinen Fokus sehr stark auf das Lichte und Schöne lege, auf das, was mich der Tod meiner Familie an Wertvollem gelehrt hat. Durch ihr Sterben durchwanderte ich eine Art Reifung. Ich weiß die Dinge anders zu schätzen als vorher. Ich sehe plötzlich so viel Schönes auf der Erde, ich sehe Grashalme, wundervolle, klitzekleine Blümchen, ja: das ganze Leben mit anderen Augen.

Meine Freunde wendeten sich zum Teil ab, weil sie das Gefühl hatten, mit mir würde etwas nicht stimmen. Die weint viel zu wenig, dachten sie wohl. Für mich ist es ein relativ einsamer Weg, durch meinen Schmerz zu gehen. Ich kann ihn nicht mit jedem teilen. Manche Freunde und ich fanden die Tür zueinander plötzlich nicht mehr, weil der eine woanders stand als der andere. Viele wollten mich endlos lang umarmen und trösten, dabei hätte ich doch viel mehr konkrete, praktische Hilfe gebraucht. Vielleicht sahen manche in diesem Mit-Leid die einzige Chance, auch mit ihrem Schmerz umgehen zu können. Es überraschte mich und tat weh, dass ich nicht nur den Tod meiner Familie verkraften musste, sondern es nach und nach manchen weiteren Abschied zu betrauern gab. Abschied nicht nur von meiner Lebensform als Ehefrau und Mutter, von meinem Beruf als Clown, sondern auch von Freunden.

Anfangs war ich naiv. „Jetzt, wo mir das passiert ist, muss mich doch jeder lieb haben.“ Dass sich das nicht automatisch so ergab, musste ich irgendwann akzeptieren. Nach und nach sickerte es zu mir durch, dass mancher ein Problem mit mir und meiner Art zu trauern hatte. Dass es manche sogar schmerzte, was ich tat. Helis Familie fand es zum Beispiel ganz furchtbar, dass ich Spielzeug und Erinnerungsstücke so schnell verschenkte. Doch ich kümmerte mich anfangs einfach nicht um die anderen. Vieles von dem, was an Gefühlen in mir schlummerte, war mir unheimlich. Einiges getraute ich mich nicht zuzulassen oder gar anzusprechen. Das trug natürlich nicht gerade dazu bei, die Tiefe des Grabens zwischen mir und meinen Mitmenschen zu verringern.

Mittlerweile kann ich akzeptieren, dass ich als Trauernde, egal, wie tragisch mein Schicksal auch ist, nicht automatisch die Liebe und Sympathie aller habe. Irgendwann kam sogar ein Satz, mit dem ich nie gerechnet hätte, und zwar gleich von mehreren Seiten. „Jetzt hör aber auf mit deiner Trauer!“ Ironischerweise stammte er teilweise von den gleichen Leuten, die vorher gemeint hatten: „Du verdrängst den Schmerz und solltest ihn mehr zeigen.“ Mit dem Tod meiner Familie war ich mit einem Mal nicht mehr so wie alle anderen. Ich war eben ... trauernd.

Das gab mir eine neue Art von Identität. Dieser Status des Besonderen war wenigstens etwas, das mich stützte. Bald tauchte ich in den Medien auf, im Fernsehen, in Magazinen...

Irgendwann passte es allerdings für mich nicht mehr, immer nur „die Trauernde“, „die Frau mit dem Schicksal“ zu sein. Ich wollte lieber wieder ein ganz normaler Mensch sein. Doch das war nicht so leicht. Ich hoffte tatsächlich, dass alles eines Tages „wie früher“ sein würde, wenn ich die Trauer hinter mich gebracht hätte. Irgendwann wurde mir jedoch klar, dass das Leben „danach“ keine Rückkehr in meine vertraute Existenz bedeuten würde. In vielen Situationen wurde deutlich, dass ich anders war als früher. Einerseits war ich viel reifer und milder, andererseits überforderten mich viele lebenspraktische Dinge plötzlich. Teilweise konnte ich es nicht ertragen, wenn Kinder in meiner Nähe waren.

An dem Tag, als ich erkannte, dass ich nicht mehr wie alle anderen war, aber mich auch nicht ewig an dem Status der „Trauernden“ festhalten konnte, fiel ich buchstäblich in ein tiefes Loch.

Eine Zeit lang tat ich mir selbst unglaublich leid. Ich fühlte mich zutiefst unverstanden. Es war schrecklich, wenn jeder sagte: „Erkläre es mir einfach, ich höre zu.“ Das konnte ich beim besten Willen nicht. Es fehlten mir die Worte, und wenn welche kamen, stifteten sie nur noch mehr Verwirrung. Meinem Partner Ulrich gelingt bis heute das schwierigste Kunststück: Mich anzunehmen, auch wenn er mich einmal nicht verstehen kann. Das ist für mich die hohe Schule der Liebe. Er sagt dann oft: „Ich habe davon keine Ahnung, bin aber für dich da. Was kann ich tun?“ Meine Antwort lautet meistens: „Bleib einfach nur bei mir und ertrage mit mir mein Schweigen.“ Das ist schwer genug auszuhalten und nicht gleich eine Lösung parat zu haben.

Es ist schon seltsam. Jemand stirbt, und plötzlich ist man „in Trauer“. Aber was heißt das genau? Und wie geht das eigentlich? Alle Augen schauen auf dich. Mitleidsvoll, aber auch irgendwie voller Erwartung. „Sag uns, was du brauchst. Sag uns, wie es dir geht. Sag uns, was wir tun können.“ Ich war mit diesen Fragen völlig überfordert. Meine Familie war von einem Tag auf den anderen gestorben, ich konnte nicht sofort auch noch die perfekte Trauernde sein. Das ist wie beim Eislaufen. Man fällt anfangs ständig auf die Nase, und irgendwann kann man es plötzlich. Oder auch nicht. Beim Eislaufen zieht man die Schlittschuhe aus, wenn man keine Lust mehr hat oder die blauen Flecken schon zu wehtun. Bei der Trauer hat man diese Entscheidungsfreiheit nicht.

Doch auch das Trauern musste ich erst lernen. Es dauerte lange, bis ich begriff, dass Trauern nicht nur Weinen heißt und Taschentücher entgegennehmen. Es heißt auch: die eigene Wut aushalten, sich nicht überfordern, die eigenen Grenzen erkennen und ausdrücken. Das ist schon unter normalen Umständen schwierig. Wenn ich es zum Beispiel bei einem langen Abendessen im Freundeskreis nicht mehr aushalte und am liebsten sofort heimfahren würde, bin ich oft nicht in der Lage, es klar auszudrücken. Dann beginne ich zu leiden und rutsche sofort wieder in meinen Teufelskreis: „Heli, wenn du doch nur da wärst...“

Barbaras Trauerbewältigung hatte viele Gesichter. Immer wieder besuchte sie den Bahnübergang, an dem der Unfall geschah. Sie schrieb Briefe an ihre Kinder, über ihre Liebe, ihre Gedanken und Gefühle. Sie richtete eine eigene Email Adresse für ihre Kinder ein, Postadresse: Himmelweg 8.

„Die Trauer hält sich an kein Schema, zumindest an keins, das einfach zu entschlüsseln wäre. Wir sind es normalerweise gewohnt, linear zu denken. Alles im Leben muss möglichst direkt von A nach B führen. Ganz Hollywood gaukelt uns in seinen Filmen vor, dass schwierige Ereignisse zwangsläufig zum Happy End führen müssen, pünktlich nach neunzig Minuten. Ich selbst dachte anfangs, dass der Plot der Trauer so ähnlich verlaufen würde. Am Anfang am schmerzhaftesten, dann Schritt für Schritt in Richtung neues Glück. Und auch meine Freunde erlagen diesem Irrtum. Ihre Rechnung sah so aus: Barbara ging es gestern sehr schlecht, heute ein bisschen besser. Also wird es ihr morgen noch besser gehen und schon bald wieder ganz gut. Sie begriffen vielleicht, dass alles in kleinen Schritten geht, aber dass der Weg nicht nur bergauf geht, wollten viele nicht wahrhaben. Ich nehme mich da selbst nicht aus.

Die Trauer ist eher wie eine Wippschaukel, die mal höher und mal weniger hoch ausschlägt. Sie hält Überraschungen bereit. Auch wenn es mir noch so gut geht, kann mein Gefühlsleben rasch auf die andere Seite kippen. Das kann ziemlich wehtun, so ohne Vorbereitung. Genauso aber reicht, wenn es mir gerade schlecht geht, mitunter eine Kleinigkeit aus, um die Sonne wieder scheinen zu lassen. Ein Glas Wasser, eine süße Orange – und auf einmal ist alles anders, und ich denke mir: „Was war denn gerade, was hatte ich denn jetzt?“ Insgesamt hat es aber über die Jahre eine Entwicklung gegeben, die nicht nur beliebig ist. Am schwierigsten ist für mich die Rückkehr ins Leben. Da warten die Herausforderungen des Alltags, und es ist oft leichter, wieder den Rückzug anzutreten.

Anfangs legte ich mich oft ins Bett und verband mich mit der zarten Energie, die ich beim Gedanken an meine Familie spürte. Heli, Timo und Fini waren auch im Leben sehr zarte Seelen. Sie hatten für mich immer etwas Zerbrechliches. Nun, nach ihrem Tod, hatte ich große Angst davor, dass mir die zarte Verbindung zu ihnen verloren gehen würde, sobald ich wieder ins Leben mit seiner Lautstärke und Grobheit zurückkehrte. Ich ging in dieser Zeit etwas aus meinem Körper heraus und wollte von der Erde lieber nichts wissen. Auch heute noch habe ich Schwierigkeiten mit lauten, groben Situationen. Dann zieht es mich zu meiner Familie in ihrer Feinheit. Immer noch plagt mich manchmal die Angst, die Verbindung nach oben plötzlich zu verlieren. Der Schmerz kommt, wenn ich sie nicht mehr spüre, wenn plötzlich alles laut und durch und durch weltlich ist und ich die leisen Stimmen ihrer Seelen nicht mehr wahrnehmen kann.

In den eigenen Körper zurückzukehren war ein schwieriger Prozess. Er ging auch einher mit regelrechten Entzugserscheinungen. Plötzlich meine Familie nicht mehr umarmen zu können, keine Richtung mehr zu haben und kein Gegenüber. Das verstand mein Körper nicht sofort. Gott sei Dank gab es ein großes Stofftier meiner Kinder, einen Walfisch, den ich fest in den Arm nehmen konnte.

Auch ihre Urnen spielten eine Rolle. Die Urne von Heli ist ziemlich schwer, sie wiegt vielleicht zehn Kilo. Ich bin froh, dass ich sie zu Hause aufstellen durfte. Ich nahm sie oft in den Arm, hielt sie und ließ mich von ihrem Gewicht trösten. Als hätte er gesagt: „Schau, es ist ja noch etwas da.“ Es war für mich unvorstellbar, diese Urnen auf einen Friedhof zu bringen, wo sie hinter Glas sind und ich sie zwar noch anschauen, aber nicht mehr anfassen darf. Das ist heute noch keine Option für mich. Aber Urnen zu Hause zu haben ist auch nicht überall selbstverständlich. In Österreich ist es nur in manchen Bundesländern möglich. In der Steiermark ging das Gott sei Dank. In Wien, wo ich jetzt lebe, ist es ein bürokratischer Spießrutenlauf, wenn man darum ansuchen will. Es grenzt an Erniedrigung und ist unwürdig. Ich habe noch immer keine Lösung. Momentan warten die Urnen in der Bestattung auf meine Entscheidung. Vielleicht finden sie einen geeigneten Platz im Garten des Hauses, das Ulrich und ich gerade bauen. Auch die sterblichen Überreste fordern eben ihren Platz, unabhängig davon, dass meine Familie längst in meinem Herzen ein Heim gefunden hat.

Manchmal meine ich, dass ich heute sowohl Heli, als auch Timo und Fini ein wenig verkörpere. Je weiter ich meinen Mann und meine Kinder in mich hineinnahm, umso unschärfer wurde der Kontakt im Außen. Heli, Timo und Fini sind heute kein direktes Gegenüber mehr, eher ein Teil von mir. Wenn ich an sie denke, schaue ich nicht mehr nach außen. Diese Erkenntnis macht es mir auch leichter zu akzeptieren, dass viele meiner Erinnerungen langsam, aber sicher, verblassen. Die meisten Bilder, die ich von meinen Kindern noch im Kopf habe, gleichen den Fotos, die in meinem Album kleben. Standbilder ohne Bewegung. Die täglichen Sätze, die Rituale, die immer gleichen Dialoge verblassen und werden durch die täglichen Bausteine meines neuen Lebens ersetzt. Aber die Essenz dessen, was war, das Destillat der drei Seelen, habe ich zutiefst verinnerlicht. Das kann ich nicht mehr verlieren, nie mehr.

Heli ist für mich so etwas wie ein himmlischer großer Bruder. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass er über mich wacht. Vielleicht erkennt er größere Zusammenhänge. Ich sehe es als Ehre, meinen irdischen Teil der Aufgabe zu erfüllen, die wir gemeinsam übernommen haben; mitzuteilen, dass der Tod keinen Schrecken haben muss und Tod und Leben kein Widerspruch sind, sondern nur zwei Seiten der gleichen Medaille.

Manchmal habe ich das Gefühl, Heli und ich sind wie zwei Spieler eines Teams, die einander den Ball zuwerfen. Er ist wie mein Mentor, der mich von himmlischer Seite aus begleitet. Es ist vergleichbar mit einer guten Freundin, die weit weg wohnt, mit der man nicht einmal telefoniert, und die trotzdem sehr präsent ist.“

Was half ihr, mit diesem großen Verlust umzugehen?

„Mein gesamtes Leben brach in einem Moment unter meinen Füßen weg. Zunächst einmal passte ich auf mich auf, als wäre ich neu geboren. Ich wurde mir selbst zu der Mutter, die ich vorher für meine Kinder gewesen war. Mein Grundsatz war: „Pass auf dich auf und lass es dir möglichst gut gehen. Nur so kannst du überleben.“ Ich scannte fast analytisch ab, was ich gerade brauchte oder was mir guttat. Bewusst suchte ich nach kleinen Strohhalmen, zum Teil banale Kleinigkeiten. Wenn ich mich zudeckte, ließ ich bewusst die Empfindung zu, wie weich die Daunendecke war. „Alles ist gut, es gibt noch Daunendecken auf dieser Welt oder Wärmflaschen, und Menschen, die mir zulächeln.“ Ich lächelte oft Menschen einfach an und sagte mir: „Es ist alles gut, ich werde geliebt, auch hier auf dieser Welt.“

Auch im Schmerz war es hilfreich, ganz genau hinzusehen: Wen vermisse ich gerade am meisten? Was an ihnen fehlt mir gerade so sehr, dass es schmerzt? Wie kann ich es mir auf anderem Weg verschaffen? Ich dröselte dieses „Ich vermisse...“ immer wieder auf und schaute, welche Komponente gerade den meisten Schmerz hervorrief. Wenn ich vermisste, wie wir zusammen gesungen hatten, sagte ich mir: „Gut, dann singe ich jetzt einfach“, oder ich suchte mir irgendeine Gelegenheit, wo ich wieder singen konnte, vielleicht auch mit anderen. Wenn mir Timos kindlicher Humor fehlte, fuhr ich zu Kindern, die ich lustig fand. So lernte ich, was ich wirklich vermisste, und erkannte, dass ich mir meine Bedürfnisse auch auf andere Art erfüllen konnte.

Ein großer Wunsch ließ sich jedoch nicht so leicht erfüllen: Ich wollte unbedingt wieder Mutter sein, am besten ganz schnell. Die Sehnsucht nach einem Kind war viel früher da als der Wunsch nach einem neuen Partner. Ich dachte mir allerlei skurrile Dinge aus, wie ich möglichst schnell zu einem Kind kommen könnte. Heute bin ich froh, dass es Schranken gibt und ich nicht einfach auf die Samenbank laufen und ein Kind ohne Vater kaufen konnte.“

Schon vier Monate nach dem Tod ihrer Familie lernte sie Ulrich, einen bekannten österreichischen Schauspieler, kennen und lieben. Manche freuten sich mit ihr, andere waren entsetzt.

„Der Wunsch nach einem Kind brachte mich dazu, mich bald wieder für die Möglichkeit eines neuen Partners zu öffnen. Darüber redete ich innerlich oft mit Heli. „Sag, was hältst du davon?“ Ich war sicher, dass es auch in seinem Sinn war. Wenn er letzte Worte gehabt hätte, hätte er wahrscheinlich gesagt: „Bitte lass es dir gut gehen.“ Wenn ich ihn gefragt hätte: „Soll ich alleine bleiben?“, hätte er sicherlich gelacht: „Bist deppert?“ Prinzipiell war ich also bereit für einen Partner. Die, die richten: „Du kannst dich doch nicht gleich wieder neu verlieben!“, blenden oft diese handfesten, lebenspraktischen Aspekte aus. Der Mensch ist nicht zum Alleinsein geboren.

Eines Tages stellte meine Freundin mir einen Freund vor: Ulrich. Sie hatte schon einige Zeit das Gefühl, dass wir zueinander passen könnten. Für mich war es zum zweiten Mal in meinem Leben Liebe auf den ersten Blick. Für Ulrich war es ein wenig anders. Er war zunächst sehr vorsichtig, hatte großen Respekt vor meiner Situation und wollte nichts überstürzen, was mir vielleicht wehtun würde. Schließlich, am Abend nach unserem ersten Kuss, kam plötzlich bei mir Verwirrung auf. Ich war nachts allein zu Hause und sprach mit Heli. „Du bist ja auch noch da, auch wenn du unsichtbar bist. Wo bist du, wenn ich gerade mit Ulrich zusammen bin und ihn küsse? Bist du dann bei uns? Störst du, oder stören wir dich? Und wo ist Ulrichs Platz, wenn ich mit dir, Heli, wie jetzt alleine zu Hause bin und rede?“

Ich kritzelte diese Fragen in mein Tagebuch und begann, vor mich hin zu malen. Ein Dreieck – unten Barbara, oben Heli und Ulrich, jeweils mit mir verbunden. „Was kann ich nur tun, damit es mich nicht in dieser Liebe zu beiden zerreißt?“ Die Lösung fand ich auf dem Papier. Ich musste auch Heli und Ulrich durch eine Linie verbinden. „Wenn Ulrich Heli lieben kann und ich das Gefühl habe, dass auch Heli Ulrich liebt, könnte es funktionieren. Nur dann.“ Ich habe das große Glück, dass Ulrich viel für Heli empfindet. Er sagt oft, dass er Heli wie einen Bruder liebt.

Dass unsere Beziehung so kurze Zeit nach Helis Tod überhaupt eine Chance hatte, lag wahrscheinlich weniger an mir als an Ulrich. Er sperrte Heli, meine Kinder und selbst den Tod nicht aus. Ich rechnete immer damit, dass mir Ulrich irgendwann im Streit an den Kopf werfen würde: „Ich bin nicht der Heli!“ Bis heute warte ich auf diesen Satz. Was ich immer wieder höre ist: „Jetzt geht es mir mit dir genauso, wie es Heli gegangen sein muss.“ In dieser Aussage steckt viel Liebe zu Heli und zu mir. Ich habe bemerkt, dass mit Ulrich ähnliche Beziehungsthemen auf dem Tisch liegen wie mit Heli.

Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre mir Ulrich von Heli geschickt worden, damit ich da weiterüben kann, wo wir stehengeblieben waren. Gleichzeitig merke ich, dass ich durch den Tod von Heli reifer geworden bin. Ich muss nicht mehr um jeden Preis recht behalten, vor allem nicht um den Preis des liebevollen Umgangs miteinander.

Die beiden sind sich in vielen Bereichen sehr ähnlich, auch wenn die Art des Zugangs ein wenig anders ist. Heli war Clown, Ulrich ist melancholischer. Es ist mir trotzdem wichtig, die beiden nicht zu sehr in einen Topf zu werfen.“

Der Tod ihrer Familie veränderte ihr ganzes Leben. Nichts ist mehr wie früher.

„Ich vergleiche das, was mir passiert ist und was es aus mir gemacht hat, manchmal mit einer Art Behinderung, die ich immer noch mit mir herumtrage, die aber für andere nicht sichtbar ist. Meine Behinderung ist der Tod meiner Familie. Es fühlte sich zunächst wirklich fast so an, als seien mir drei Gliedmaßen amputiert worden. Nur saß ich eben nicht im Rollstuhl, sondern wirkte nach außen ganz unversehrt. Das war manchmal ein Problem (und vielleicht ist das der Grund, warum Trauernde Schwarz tragen – als äußeres Erkennungsmerkmal für das, was innen schmerzt). Ich habe neulich einen Mann kennengelernt, der einen Schlaganfall hatte und nun halbseitig gelähmt ist. Vieles kann er aufgrund seiner Behinderung nicht mehr machen. Und doch hat er mit dem, was geschehen ist, Frieden geschlossen. Er machte eine große persönliche Wandlung durch und sagt heute sogar: „Ich bin so froh, dass mir das passiert ist.“

Er darf das sagen, denn er muss auch die Folgen selbst tragen. Wenn ich sagte: „Ich bin so froh, dass mir das passiert ist“, wäre das makaber und schrecklich missverständlich. Ich bin natürlich nicht froh darüber, dass Heli, Timo und Fini tot sind. Aber ich bin tatsächlich sehr dankbar für alles, was ich seither lernen und erfahren durfte. Ich glaube außerdem, dass es für meine Familie nichts Schlechtes war zu sterben, sondern es ihnen gut geht. Von dieser Ebene betrachtet, darf ich es vielleicht doch sagen: „Ich bin froh, dass ich das erleben durfte – dass ich erleben durfte, wie sich die Liebe über den Tod hinaus spannt, dass ich erleben durfte, wie das mein Leben verändert hat. Ich bin glücklich darüber, dass mir diese Dankbarkeit, die ich heute spüre, geschenkt wurde, diese umfassendere Sicht auf das Leben, die nicht mehr wie früher auf Wertungen ausgelegt ist.

Vielleicht ist es sogar für meine drei Liebsten richtig, dass sie die Ebene gewechselt haben. Zum Beispiel für meinen Sohn Timo. Er war schon fast sieben und immer noch im Kindergarten, weil ich ihn zurückstellen habe lassen. Ich ahnte, dass er es in der Schule ziemlich schwer haben würde. Vielleicht war es für ihn richtig, dies nicht erleben zu müssen. Für Heli war es vielleicht auch richtig, dass er sich jetzt auf einer anderen Ebene mit seiner feinen Seele verwirklichen kann. Möglicherweise kann er seine Aufgaben dort drüben noch besser erfüllen als hier auf der Erde. Ich maße mir nicht an, den Sinn des Ganzen in seiner Gesamtheit zu erfassen. Ich kann nur sagen: Was bisher geschehen ist, macht in meinen Augen Sinn. Nicht nur ich, auch viele andere Menschen haben durch das, was meiner Familie zugestoßen ist, etwas Sinnvolles erfahren.

Was ich gelernt habe? Ich habe zum Beispiel die Unschuld verloren, in der ich glaubte, dass der Tod immer nur den anderen passiert und sicher nicht mir oder meinen Nächsten. Weil ich das selbst erlebt habe, ist der Tod nun eine Realität, die immer im Raum steht und von der ich weiß, dass sie jeden Moment eintreten kann. Ich habe heute weniger Angst, dass ich den Tod meines Partners nicht verkraften würde. Natürlich wünsche ich mir, dass ich mein ganzes Leben nicht noch einmal ganz von vorne anfangen muss. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das rein kräftemäßig durchstehen würde. Meine physische Kraft ist ziemlich aufgebraucht, meine psychische hingegen gewachsen.

Für mich ist nichts mehr selbstverständlich, nichts, wirklich nichts. Es ist nicht selbstverständlich, dass, wenn ich am Abend einschlafe, Ulrich am nächsten Morgen wieder die Augen aufschlägt und mir einen „Guten Morgen“ wünscht. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass er, wenn er aus dem Zimmer geht, auch wieder zurückkommt. Ich habe mit dem Tod meiner Familie auch erfahren, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Freundschaften halten. Es ist nicht selbstverständlich, dass es mir morgen noch gut geht, weil es mir heute gut geht. Ich hatte mit Ulrich einmal eine ziemlich heftige Diskussion und fragte ihn mittendrin: „Wenn du jetzt wüsstest, dass ich morgen tot bin, würdest du dann genauso mit mir reden?“ Er hielt inne und dachte nach. „Nein, vermutlich nicht. Dann wäre das alles ja nicht mehr wichtig.“ Ich wollte verstanden sein. „Genau, siehst du, so geht mir.“ Aber Ulrich hatte noch ein Ass im Ärmel: „Ja, aber du bist morgen nicht tot, und deshalb müssen wir das jetzt ausdiskutieren!“ Irgendwie hatte er damit auch Recht.

Und doch:

Wenn alles nicht mehr wichtig wäre,

wäre der einzige letzte Satz,

der mir einfallen würde: „Ich liebe dich!“

Die Liebe spielt in Barbaras Leben eine große Rolle. Die Liebe zu ihrer unsichtbaren Familie, zu ihrem Partner Ulrich, die Liebe zum Leben. Das Leben lieben heißt für sie, nicht mit ihrem Schicksal zu hadern, sondern es anzunehmen. Was bedeutet für Barbara, die so viele Facetten von Liebe erlebt hat, Liebe heute?

„Bei einem Streit ist Liebe nicht mehr und nicht weniger als diese winzige Bewegung, die es braucht, um dem anderen die Hand entgegenzustrecken. Ich glaube, das ist die mutigste Bewegung, die wir riskieren können, weil wir damit auch riskieren, dass der andere unsere Hand nicht ergreift. Wie viel Angst wir davor haben!

Mein Sohn Timo nahm mir zum Beispiel, wenn ich wütend auf ihn war, immer den Wind aus den Segeln und sagte ganz friedlich: „Na gut, dann mache ich das nicht mehr.“ Für mich sind diese kleinen Bewegungen der Liebe gleichzeitig die größten.

Liebe bedeutet für mich auch, die Menschen so anzunehmen, wie sie sind. Veränderung beim anderen nicht zu erwarten, aber sie gleichzeitig in jedem Moment zu erlauben. Für mich wirkt die Magie der Liebe, wenn ich spüre: „Ich liebe dich genauso, wie du bist“. Das ist für mich der pure Akt der Liebe.

Früher unterschied ich immer, wer mich liebt und wer nicht. Wenn jemand sich auf eine bestimmte Art und Weise verhielt, fühlte ich mich geliebt. Wenn er meinen Kriterien nicht entsprach, schloss ich daraus, dass er mich nicht liebte. Ich hatte die Vorstellung: „Wenn du das tust und sagst, dann liebst du mich bestimmt nicht.“ Ich dachte vor dem Tod meiner Familie viel öfter in Kategorien von Richtig und Falsch. Doch dann passierte das Falscheste, was überhaupt auf dieser Welt passieren kann: Meine Kinder und mein Mann kamen ums Leben. Und ich lernte: Es gibt Ebenen, auf denen auch das seine Richtigkeit hat. Dadurch ist mir dieses Konzept von Richtig und Falsch abhandengekommen, auch in der Liebe.

Manchmal kann ein großer Liebesdienst im ersten und auch im zweiten Moment sehr wehtun. Enttäuschung befreit von Täuschung, das ist schmerzhaft und zugleich heilsam. Andererseits kommt es vor, dass Menschen sehr lieb zu mir sind und ich plötzlich feststellen muss, dass der Grat, auf dem sich diese Liebe bewegt, sehr schmal ist. Ich selbst meine, dass ich durch den Tod meiner Familie anders zu lieben gelernt habe. Umfassender, auf mehreren Ebenen. Ich kann in Konflikten immer noch Liebe spüren, selbst wenn mein Gegenüber noch so grantig ist. Das, was übrig bleibt, ist letztlich die Liebe. Wer einmal gespürt hat, wie wundervoll es ist, bedingungslos zu lieben, in dem strebt alles zurück zu diesem Gefühl. Ich glaube, dass die Liebe die Welt durchdringt, in jedem Moment, und wir uns nur hineinbegeben müssen. Die Tür steht uns in jeder Sekunde offen. Ich weiß, dass Liebe uns tiefgreifend verändern kann. Sie könnte uns von vielen Dummheiten, die wir achtlos begehen, bewahren. Ich glaube aber auch, dass es keinen Sinn macht, einfach nur auf die Liebe zu warten. Die Liebe ist immer da, und ich kann mich wie bei einem Radio auf diesen Sender einstellen. Doch den Sendeknopf drehen muss ich selbst. Dann mache ich die Augen auf, und mit einem Schlag ist die Welt ganz anders als zuvor: voller Liebe.“

Barbara wollte gerne mit dem Lokführer des Zuges sprechen, der an dem tödlichen Unfall ihrer Familie beteiligt war, nicht um ihm Vorwürfe zu machen, sondern um ihn zu trösten. Die Bahngesellschaft lehnte ihre Kontaktanfrage ab. Der Lokführer ist aufgrund des Unfalls in therapeutischer Behandlung. Aus Sicht des zuständigen Therapeuten ist die Kontaktaufnahme mit Angehörigen der Unfallopfer nicht zumutbar. Daraufhin schrieb sie ihm einen Brief, den sie in ihrem Buch „Vier minus drei“, veröffentlichte. Ob er ihn je gelesen hat, weiß sie nicht.

„Das Gefühl, das meiner Meinung nach den freien Zugang zur Liebe am meisten verhindert, ist das Empfinden von Schuld, egal, ob ich mich selbst oder den anderen schuldig spreche. Der Brief an den Lokführer des Zuges, der unseren Clownbus erfasst hatte, war mir wichtig. Ich wusste nicht, wie er das Geschehene verkraftete, und fragte mich, ob er sich mit Vorwürfen quälte. Faktisch trug er natürlich keine Schuld. Doch ich selbst würde mir, glaube ich, Vorwürfe machen, wenn ich bei einem Verkehrsunfall jemanden töten würde, auch wenn ich nichts dafür könnte. Ich wollte sicher gehen. Falls es etwas gab, das er sich nicht verzeihen konnte, dann wollte ich es eben für ihn tun. Ich wollte ihm sagen, dass er in meinen Augen keine Schuld hatte. Und noch mehr: Ich wollte ihn erleichtern, indem ich ihm mitteilte: „Ich glaube, das hatte alles einen Sinn.“

Gerne hätte ich ihm all das persönlich gesagt, am liebsten in Gegenwart seiner Therapeutin. Doch die Bahngesellschaft lehnte meinen Vorschlag ab, was mich zunächst sehr enttäuschte. Es war nicht leicht für mich zu akzeptieren, dass das, was ich für gut hielt, nicht unbedingt und jederzeit für alle das Beste sein musste. Mit dem Brief, den ich geschrieben habe, ist es nun von meiner Seite aus getan.

Ich machte noch weitere Erfahrungen mit dem Verzeihen. Es gibt Menschen, die sind wirklich böse auf mich, weil sie nicht verstehen, wie ich um Heli trauere. Ich wollte lange eine Versöhnung herbeiführen, stieß jedoch nur auf Ablehnung. Eines Tages erkannte ich, dass Versöhnung nicht in jedem Fall wechselseitig sein muss. Es braucht nicht einmal unbedingt die persönliche Begegnung. Ich konnte den Frieden in mir finden, völlig unabhängig davon, ob mein Gegenüber auch mit mir Frieden schließen wollte.

Wir sind so ins Gespräch vertieft, dass wir die Zeit vergessen. Ihren Zug nach Hause, nach Wien, muss sie noch bekommen und eilt von dannen.

Als ich später Freunden von der Begegnung mit Barbara erzähle, geht ihnen ihre Geschichte unter die Haut. Denn innerhalb von Sekunden wird jedem bewusst, wie fragil unser Leben ist, wie wir von einer Minute auf die andere alles, was uns wichtig ist, verlieren können und wie wenig selbstverständlich das ist, was wir für selbstverständlich halten. Wir fragen uns, was wäre, wenn wir selbst unsere Familie aus heiterem Himmel verlieren würden.

Einer Freundin geht es zu nahe, und es ist, als hätte sie Angst, dass allein die Beschäftigung mit dem Tod ansteckend wirken und ihr den Boden unter den Füßen wegziehen könnte. Die anderen sind dankbar, daran erinnert zu werden, jeden Moment mit denen, die sie lieben, zu genießen, anstatt sich in Unwesentlichkeiten und Streitereien zu verstricken.

Ich spüre einmal mehr, wie kostbar jeder Atemzug, jeder Moment unseres Lebens ist. Ich mache mir seit meiner Kindheit Gedanken über den Tod und war mir schon früh der Vergänglichkeit bewusst. Das half mir immer, mein Leben und das Gefühl des Glücklichseins nicht auf morgen zu verschieben, sondern das zu tun, was mir wirklich am Herzen liegt. Vieles, was wir unnötigerweise für bedeutend halten, wird bedeutungslos, wenn sich der Blick fürs Wesentliche schärft.

Alle Macht der Liebe

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