Читать книгу Der Obstpflücker - Bea Eschen - Страница 6
1 Liebe Magda
Оглавление„Sebastian, Essen ist fertig!“
Er antwortete seiner Mutter sofort, um zu vermeiden, dass sie wütend wurde. „Bin in einer Minute unten!“
Nach genau einer Minute saß er seinem Vater gegenüber, der schon auf ihn wartete.
„Wie war dein Tag?“
„Wie immer.“
Wie immer vermied Sebastian es, in die Augen seines Vaters zu sehen. Sein Vater hatte es schon lange bemerkt und ihn darauf hingewiesen, dass man die Leute, mit denen man spräche, auch ansehe. Aber Sebastian zuckte nur lässig mit den Schultern. Sie hatten Spannung, die keiner von ihnen brechen konnte. In den letzten sechs Monaten war den Eltern aufgefallen, dass sich ihr Sohn sehr veränderte. Er benahm sich zunehmend seltsam.
Seit einiger Zeit zog Sebastian es vor, in seinem Zimmer zu bleiben und sich mit Kopfhörern und Musik der Außenwelt zu entziehen. In Gesellschaft seiner Schulfreunde fühlte er sich unwohl. Er alleine wusste den Grund für sein Verhalten, aber hatte bisher mit keinem Menschen darüber gesprochen. Er war schwul und aus diesem Grund einsam. Ja, er schaute sich gerne junge sexy Männer in Zeitschriften für Schwule an. Die muskulösen Körper reizten ihn und er sehnte sich danach, sie zu berühren. Über das Internet kontaktierte er homosexuelle Männer, die sich in der gleichen Situation befanden wie er. Hier fühlte er sich verstanden und unterstützt.
Vor ein paar Wochen hatte er sich mit einem jungen Mann von außerhalb getroffen, der genauso neugierig war wie er. Sie hatten eine wunderschöne Zeit zusammen in einem winzigen Hotelzimmer verbracht. Das übergroße Bett hatte das Zimmer fast komplett ausgefüllt und ihnen war nichts anderes übrig geblieben, als sich direkt darauf zustürzen. Noch heute schickten sie sich gegenseitig sexy Meldungen per SMS. Schon wieder vibrierte das Handy in seiner Hosentasche. Sofort erinnerte sich Sebastian an den jungen Mann mit dem maskulinen Duft seines Aftershaves, seine leidenschaftlichen Küsse und starken Hände auf seiner kribbelnden Haut. Mit Herzklopfen zog er sein Handy heraus und tippte mit zitternden Fingern eine ebenso heiße Nachricht zurück. Er steckte das Handy wieder weg und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Nein, jetzt nicht, dachte er und unterdrückte den Drang, seiner Erregung nachzugehen.
Der Gedanke, wie er seinen Eltern erklären könnte, dass er schwul sei, ging ihm nicht aus dem Kopf. Es schien, als bestünde eine Mauer zwischen ihm und seinen Eltern, die sehr altmodische Ansichten hatten. Sie waren regelmäßige Kirchgänger. Der Pastor achtete sie, weil sie gottesfürchtige Katholiken waren.
Als Kind hatte Sebastian alles gemacht, was von einem katholischen Kind in der Kirche erwartet wurde. Nach dem Empfang seiner ersten heiligen Kommunion hatte ihm der Pastor gesagt, dass jetzt seine Sünden vergeben seien, er das ewige Leben hätte und der Heilige Geist als Schutz über ihm stände.
„Welche Sünde habe ich denn begangen?“, fragte Sebastian mit seinem unschuldigen Kinderblick.
„Du und Gott wissen es“, hatte der Pastor geantwortet.
Seltsam, hatte Sebastian gedacht. Ich weiß es nicht, also wie kann Gott es wissen? Wie kann Gott mir meine Sünden vergeben, wenn ich nicht weiß, was eine Sünde ist?
Beim Fernsehen bemerkte Sebastians Vater lässig, dass schwule Männer nicht in die Kirche gehörten, weil sie die Sünde der Obszönität trügen. Sein Vater wusste nicht, wie sehr er seinen Sohn mit diesen Worten verletzte. Sebastian versuchte, seine Demütigung zu unterdrücken, aber von diesem Zeitpunkt betrat er nie wieder eine Kirche.
Seine Mutter hörte nicht auf, ihm mit Magda auf die Nerven zu gehen. Magda war die Tochter des Nachbarn. Wenn es nach seinen Eltern ginge, so wären Magda und er das ideale Paar. Aber Sebastian war nicht daran interessiert. Er mochte Magda, weil sie ihm vertraut war und sie herzhaft lachen konnte. Sie waren fast wie Bruder und Schwester aufgewachsen. Als Kinder hatten sie Familie, Verstecken und Arzt und Patient gespielt. Zusammen hatten sie auf allen Bäumen in der umliegenden Gegend herumgeklettert. Sie hatten sich ihr eigenes kleines Zuhause in der Nähe des Moores aus Wellblech, Ästen und Laub gebaut. Ihre Bude hatte wie ein getarntes Soldatenversteck ausgesehen und deshalb hatten sie es auch so benutzt. Sie hatten Familie während des Krieges gespielt: Vater, Mutter und Kind. Magdas alte und schmutzige Puppe war ihr Baby gewesen, das sie über alles gehütet hatten. Sie hatten so getan, als ob sie in der Kirche getraut worden wären.
„Willst du, Magda, Sebastian zu deinem Mann nehmen und ihm in guten und schlechten Zeiten beistehen, bis dass der Tod euch scheidet?“
„Ja, das will ich“, sagte sie ernst und überzeugt.
„Willst du, Sebastian, Magda zu deiner Frau nehmen und ihr in guten und schlechten Zeiten beistehen, bis dass der Tod euch scheidet?“
„Muss ich wohl“, antwortete Sebastian schmunzelnd und etwas frech.
Danach hatten sie sich umarmt und unbekümmert weiter gespielt.
Als sie größer geworden waren, hatten sie ihre Zeit zusammen mit der Dorfjugend unter der großen Eiche verbracht. Zu Teenagern herangewachsen, hatten sie alles ausprobiert, was Teenager gerne taten. Motorrad fahren, laute Musik hören, Rauchen, Trinken, Tanzen, und auf ihren Handys spielen.
Ja, er fühlte sich sehr einsam und ausgeschlossen. Auch Magda sah ihn mit ihren eindringenden Augen an, zeigte jedoch Verständnis. Magda liebte ihn. Schon seit ihrer Kindheit war Sebastian immer ihr Held gewesen.
Es beruhigte ihn, an seine gemeinsame Kindheit mit Magda zu denken, denn Magda gab ihm bedingungslose Liebe und Vertrauen. Etwas, das er von keinem anderen Menschen bekam. Magda war die Einzige, die in seine Seele hineinschauen konnte. Diesmal aber hatte er einen Lebensmoment erreicht, über den nur er entscheiden konnte.
Es war an einem warmen regnerischen Tag im Juli, als Sebastian planlos durch die Straßen Nordhorns schlenderte. Die Kleinstadt blühte durch den saisonbedingten Tourismus im Frühling und Sommer auf. Die Touristen bewunderten die Engdener Wüste, ein vor kurzem erklärtes Naturschutzgebiet. Neben der Urlaubsstimmung brachten sie Geld, welches das Reservat instand halten sollte.
An diesem Tag war Sebastian guter Laune, weil er die Woche davor sein Abitur bestanden hatte. Jetzt konnte er zur Universität gehen. Das Problem war nur, dass er nicht wusste, was er studieren sollte. Sein Vater versuchte, ihn zu einem Theologie-Studium zu überreden. Aber Sebastian wollte nicht mehr über das Göttliche wissen, als er musste. Sein Interesse galt dem menschlichen Dasein in früheren und heutigen Gesellschaften, der Anthropologie oder anderen Naturwissenschaften, die sich mit menschlichen Kulturen befassten.
Seine Eltern hatten ihm angeboten, für sein gesamtes Studium zu zahlen – aber hatten dieses Angebot auf ein Theologie-Studium beschränkt. Er war von dem Angebot angewidert und fühlte sich in eine Ecke gedrängt. Auch war er von dem mangelnden Verstehen seiner Eltern enttäuscht. Er hatte ihnen erklärt, dass er eigene Interessen hätte, denen er gerne folgen würde. Etwas, das sie eigentlich verstehen sollten. Aber sie hatten nur mit ihren Köpfen geschüttelt. Wie so oft zuvor war er wütend aus dem Haus gerannt, um seinen dominanten Eltern zu entfliehen. Wohin diesmal? Nirgendwo. Einfach weg. Aber jedes Mal musste er wieder zurück nach Hause und dieser Weg wurde mit jedem Mal erdrückender.
Er ging aus dem Stadtpark Richtung Nordhorn Innenstadt. Es war Samstagnachmittag und die Wochenendatmosphäre lag in der Luft. Die Leute kauften noch schnell ein paar Lebensmittel für den anstehenden Sonntagsbraten ein, um dann das Wochenende mit ihren Lieben zu Hause zu verbringen. Sebastian dachte an den Sonntagsbraten in seinem Zuhause, welcher höchstwahrscheinlich aus einem Rinderbraten mit Soße, Kartoffeln und Rotkohl bestehen würde. Dann dachte er an die krankhaft erzwungene Unterhaltung mit seinen Eltern, die sicherlich wieder während des Essens enden würde. Sie hatten sich einfach nichts zu sagen. Es graute ihm davor und seine gute Laune verschwand.
Er überquerte die Straße und sah beim Reisebüro ein neues Poster im Fenster hängen. Sebastian ging regelmäßig dorthin, um sich über internationale Flüge zu informieren. Es ließ ihn von einer anderen Welt träumen.
Als er näher kam, konnte er die englischen Worte endlich entziffern.
„Experience Australia. Become a Fruit Picker.
Offers now available.“
Ohne zu zögern, ging er hinein.
„Guten Tag.“
Er ging direkt auf die Frau am Schreibtisch zu und sah ihr erwartungsvoll ins Gesicht.
„Was können sie mir über dieses Obstpflücker-Angebot in Australien erzählen?“
„Also erst mal“, sie sah ihn neugierig an, „muss man über achtzehn sein, um sich bewerben zu können.“
„Ich bin zwanzig“, sagte Sebastian aufgeregt.
„Gut“, erwiderte sie lächelnd.
Sie sah auf ihre Uhr. Dann sah sie Sebastian an. Ein sehr attraktiver junger Mann stand vor ihr. Sein fast schwarzes, lockiges Haar war ungewöhnlich für junge Männer in seinem Alter. Dunkle blinkende Augen waren von einer Reihe dicker Wimpern umgeben. Volle, rote Lippen − waren sie bemalt? Weiche Gesichtszüge, die fast weiblich waren, besonders hervorgehoben durch seine weiße und glatt rasierte Haut. Er hatte einen gut proportionierten Körperbau, muskulöse Arme und breite Schultern.
„Schauen sie, ich gebe ihnen diese Broschüre, da steht alles drin. Lesen sie es sich übers Wochenende durch und wenn sie interessiert sind, dann kommen sie einfach nächste Woche wieder.“
„Herzlichen Dank.“ Sebastian konnte seine Aufregung nicht verbergen. „Sie werden mich nächste Woche wiedersehen.“
Mit diesen Worten rannte er aus dem Büro, über die Straße und in den Stadtpark. Er setzte sich auf eine Bank und las die Broschüre so schnell, dass er ganze Sätze ausließ. Beruhige dich doch, sagte er sich und fühlte sein Herz klopfen. Seine Hände zitterten, als er die Information das zweite und dritte Mal las. Er musste sich zusammennehmen, um sich auf die englischen Worte konzentrieren zu können.
Mango Harvest, September, in Northern Territory, Katherine Seasonal Harvest Fruit Pickers
We currently have an opportunity for mango pickers to join the team near Katherine, Northern Territory, Australia.
Reporting to the picking supervisor, you will be required to
pick mangos in an efficient and productive manner, whilst maintaining excellent quality and hygiene standards.
We will require physically fit people who will be available for an induction starting on 1st September. Overseas students welcome.
Positions are limited, so please forward a current resume at your earliest convenience to:
mangoharvest@fruitpickers.com.au
Sebastian verstand nicht alles, aber er wusste, dass es um das Pflücken von Mangos ging und dass er von seinem Zuhause weg wollte. Am ersten September sollte es losgehen und das war ihm nur recht.
Als er an diesem Abend nach Hause kam, bemerkte seine Mutter, dass er sich anders verhielt. Sein Schritt war schwungvoll und leicht. Er hatte ein Lächeln, das sie lange nicht mehr an ihrem Sohn gesehen hatte. Sie fragte sich, was passiert sei, dass Sebastian plötzlich glücklich aussah. Ohne ein Wort zu sagen, ging er direkt in sein Zimmer.
Als sie ihn zum Essen rief, sagte er, dass es ihm nicht gut ginge. Seine Mutter wusste, dass das nicht der wahre Grund war, ließ ihn aber in Ruhe. Ihr Mann war zu einem monatlichen Treffen in der Kirche gegangen und kam nicht zum Essen nach Hause. Sie entschied sich, den Abend ruhig zu verbringen und las in der Bibel.
Sebastian ging gleich an seinen Computer, um einen Bewerbungsbrief zu verfassen. Zusätzlich fügte er dem Schreiben seinen Lebenslauf zu mit der Anmerkung, dass er Erfahrung im Ausland sammeln wollte, um sich für seinen zukünftigen Studiengang besser entscheiden zu können. Schon nach einigen Sekunden erhielt er eine automatisierte Rückmeldung, dass sich der Anzeiger innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden melden würde.
In dieser Nacht schlief er sehr unruhig. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere und überlegte, wie er sein geplantes Abenteuer durchführen könnte. Aber irgendwie wusste er, dass es klappen würde. Aus seiner Sicht hatte er es verdient. Im Morgengrauen hatte er seinen Plan geschmiedet. Er würde seine Ersparnisse für die Flüge, Unterkunft und andere Ausgaben verwenden.
Schon seit Jahren half er Magdas Vater in seiner Bäckerei, der ihn großzügig für diese harte Arbeit bezahlte. Dafür musste Sebastian in den Schulferien morgens um drei Uhr anfangen, um Teig anzurichten und Vorbereitungen für den Tag zu treffen. Er arbeitete durch bis Ladenschluss − drei Uhr nachmittags. Weder die harte Arbeit noch die lange Arbeitszeit machten ihm zu schaffen. Er war glücklich, dass er so lange in der Backstube der Bäckerei sein durfte, denn so bekam er Abstand von seinen Eltern und Freunden. Selbst die Hitze des Ofens störte ihn nicht. Zur gleichen Zeit war es wie eine Lehre, denn für Magdas Vater war es Ehrensache, ihm die geheimen Rezepte eines guten Brotes, Brötchen und Kuchen zu verraten.
Seine Eltern waren stolz, dass er das Backen neben seiner Schule erlernte. Was seine Eltern dachten, war ihm jedoch egal. Es war seine Entscheidung gewesen, das zu tun und im Moment entschied er sich dazu, sein Zuhause und seine Freunde für eine Zeit zu verlassen, um Abstand von seinem bisher traurigen Leben zu bekommen und in Ruhe über sich nachdenken zu können.
Am Montagabend bekam er ein E-Mail von MangoTree Orchards. Er war so nervös, dass er die Taste auf seinem Keyboard verfehlte und anstatt das E-Mail zu öffnen, seinen Computer ausschaltete. Er musste warten, bis der Computer wieder betriebsbereit war, um endlich das ersehnte E-Mail zu lesen.
MangoTree Orchards luden ihn ein, bis Ende August anzureisen, um seine Arbeit als Obstpflücker zu beginnen. Für die Arbeit in Australien benötige er ein Arbeitsvisum, welches die australische Botschaft ausstelle. Der Arbeitsvertrag werde zunächst für drei Monate ausgestellt, könne aber bei Bedarf verlängert werden. Er würde sechzehn Dollar pro Stunde verdienen, Unterkunft sei frei. Sobald er seine Zusage schicke, würde MangoTree Orchards den Vertrag zurückschicken, der seine Unterschrift benötige.
Sebastian schickte sofort eine Antwort.
„Ich freue mich, Ihnen mitzuteilen, dass ich Ihr Angebot akzeptiere. Ich werde mich morgen um ein Arbeitsvisum bei der australischen Botschaft kümmern. Bitte schicken Sie mir unverzüglich den Vertrag.“
Es war einfacher, als er es sich vorgestellt hatte. Am nächsten Tag rief er bei der australischen Botschaft an. Ihm wurde mitgeteilt, dass er das Visum online beantragen könne und dass er innerhalb der nächsten zwei Wochen eine Antwort hätte.
Während dieser Zeit arbeitete Sebastian vollzeitlich in der Backstube. Magdas Vater riet ihm, sich das Wochenende frei zu nehmen und sich auszuruhen, aber Sebastian wollte auch während des Wochenendes beschäftigt sein.
Als er sein Visum mit einer sechsmonatlichen Gültigkeit bekam, schickte er Magda sofort eine Nachricht.
„Können wir uns morgen um 19.00 Uhr bei der großen Eiche treffen?“
Ihre Antwort kam sofort.
„Ja, bis dann. Ich bringe eine Flasche Wein mit.“
Als Magda am nächsten Abend zur großen Eiche unterwegs war, wusste sie, dass Sebastian ihr etwas Besonderes zu sagen hatte. Sie fühlte, dass er weggehen würde.
Schweren Herzens kam sie an. Er saß auf dem dicken Ast, der beim letzten Sturm abgebrochen war. Niemand hatte sich bis jetzt bemüht, den Ast aus dem Weg zu räumen.
Er saß ziemlich lässig da. Ein Bein war über das andere geschlagen und er schaute vor sich hin. Seine Haltung erinnerte Magda an Buddha, wie er unter dem Feigenbaum saß und meditierte.
Es war ein idyllischer Abend. Der Himmel funkelte mit seinen Sternen. Es war mild und eine leichte Brise ließ das Korn im Getreidefeld rascheln, das sich vor der großen Eiche hinzog. Magda fand, Sebastian sah sehr gut aus − fast schön. Sie bemerkte einen ungewöhnlichen Glanz in seinem Gesicht und Schimmer in seinen Augen. Er stand auf und begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wange und einer kurzen Umarmung.
Auch er fühlte einen Kloß in seiner Kehle, als er sie kommen sah. Sie trug das lockersitzende schwarze Kleid, das ihm gut an ihr gefiel. Durch das Kleid wirkte sie größer, denn Magda war mit einer Größe von einem Meter fünfzig klein. Sie hatte sich einen farbenfrohen Schal über ihre schmalen Schultern geworfen. Das Blau spiegelte sich in ihren Augen wider. Ihre Lippen waren leicht bemalt und ihr langes blondes Haar locker in einen Pferdeschwanz gebunden. An diesem Abend sah sie besonders hübsch aus.
Er wusste, seine Neuigkeiten würde sie traurig machen, denn sie hing sehr an ihm. Sie setzten sich nebeneinander auf den Ast und lachten, als Magda eine Flasche gut gekühlten Champagner aus ihrer Tasche zog. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, eine Flasche Wein mitzubringen, aber der Anlass war es den Champagner wert. Er ließ den Korken knallen. Magda hielt ihm mit etwas unsicheren Händen zwei leere Gläser entgegen, die er langsam auffüllte. Der Schampus schäumte stark und es dauerte eine Weile, bis die Gläser voll waren.
„Du weißt es, nicht wahr?“, fragte er fast flüsternd.
„Ja.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Sie sahen sich mitfühlend an, so, wie sie es schon viele Male getan hatten.
„Auf uns!“, rief sie feierlich. Beide nahmen einen kräftigen Schluck des eiskalten Schampus, der ihnen die heiße Kehle kühlte.
„Toller Champagner.“
Stillschweigen. Das Rascheln des Korns im Hintergrund kaum hörbar. Er drehte sich zu ihr.
„Magda, ich werde für einige Monate nach Australien gehen, um Obst zu pflücken. Ich muss einfach weg, um nachdenken zu können.“
„Ich weiß, was mit dir los ist, Sebastian. Ich weiß schon seit Jahren, dass du schwul bist, aber ich wollte, dass du es mir persönlich sagst.“
Er schluckte. „Es tut mir leid Magda. Ich wollte es dir immer sagen, aber ich brachte es ganz einfach nicht über meine Lippen. Ich fühle mich schrecklich unsicher, darüber zu sprechen. Meine Eltern glauben fest daran, dass Homosexualität obszön ist.“
„Ja, so sind wir leider erzogen worden. Du musst einen Weg finden, dich geistig von deinen Eltern zu lösen.“
„Das ist leichter gesagt, als getan.“ Er ließ seinen Tränen freien Lauf.
Magda gab ihm ein Taschentuch.
„Ich liebe dich.“
Ich liebe dich auch, aber nicht wie ein Mann eine Frau liebt.“
„Das weiß ich doch“, sagte sie. Magda hatte sich schon lange damit abgefunden, dass sie Sebastian nicht als Mann haben konnte.
Sie tranken den kühlen Schampus und genossen ihr harmonisches Zusammensein in Stille.
„Sebastian, du musst dich selbst akzeptieren, ansonsten wirst du niemals glücklich werden. Erst wenn du mit dir selbst einverstanden bist in Bezug auf deine Homosexualität, kannst du glücklich sein.“
„Danke.“ Er nahm ihre Hand und hielt sie fest.
„Sebastian, ich werde immer für dich da sein. Vergiss nie, dass ich dich liebe. Denke an meine Liebe, wenn du dich einsam fühlst, oder wenn du verzweifelt bist. Du bist nie alleine, denn ich trage dich in meinem Herzen.“
Nach dem Wochenende begleitete Magda Sebastian in das Reisebüro.
„Da sind sie ja“, sagte die Kundenberaterin, als ob sie auf ihn gewartet hätte. Sie nickte Magda zu.
„Gehen sie mit ihm?“
„In meinem Herzen, ja.“
Die Kundenberaterin schaute sie an und lächelte, als wenn sie genau wüsste, was los war.
Sebastian buchte ein Flugticket für die letzte Woche im August. Er würde über Hongkong nach Darwin und von dort mit einem Kleinflugzeug der Air North weiter nach Katherine fliegen.
Als sie aus dem Reisebüro kamen, hielt Magda ihn am Arm fest.
„Sebastian, ich fahre morgen für ein paar Wochen zu meiner Tante in Hamburg. Ich kann nicht hier sein, wenn du gehst.“
„Ich bleib doch nicht für immer weg“, versuchte er sie zu trösten.
„Daran glaube ich nicht. Du bist für diese Welt hier nicht geschaffen. Folge deiner inneren Stimme, mein Lieber, und schaue nicht zurück.“
Sie drehte sich um und ging. Er sah ihr nach, bis sie hinter der nächsten Kurve verschwand. Sie schüttelte sich vor Schluchzen.
Das erste Mal, seitdem er sich mit großen Erwartungen darauf vorbereitet hatte, wegzugehen, fühlte er wieder Leere in seinem Herzen, die noch lange anhalten sollte.
Seine Eltern atmeten tief durch, als Sebastian von seinem Vorhaben erzählte. Er hatte bis drei Tage vor seinem Abflug gewartet, denn er wollte den anstehenden Stress so kurz wie möglich durchleben müssen.
„Was passiert mit deinem Theologie-Studium?“
„Wer sagt denn, dass ich Theologie studieren will?“
„Aber das steht schon seit deiner Geburt in der Planung!“
„Genau das ist ja das, was mich so anwidert. Eure Pläne für mich!“
„Aber wir wollen dir doch nur gut, Junge.“
„Jetzt hört endlich auf, mich Junge zu nennen! Verdammt noch mal, ich bin zwanzig und kein Junge mehr!“
„Ehrlich, Sebastian“, sagte seine Mutter verzweifelt, „du kennst Australien doch gar nicht. Wie willst du dort alleine zurechtkommen? Du hast keinerlei Auslandserfahrung, geschweige denn Lebenserfahrung!“
„Lass das meine Sorge sein. Auf jeden Fall werde ich glücklicher sein, wenn ich von hier weg bin, wo mich keiner versteht.“
„Gib uns bitte eine Chance, dich zu verstehen“, sagte sein Vater im Bettelton.
„Die Chance habt ihr leider verpasst. Ihr hattet ganze zwanzig Jahre Zeit, um mich zu verstehen und tut es immer noch nicht.“
„Du hättest es mit uns besprechen sollen.“ Seine Mutter gab auf, denn sie kannte die Dickköpfigkeit ihres Sohnes. Ängstlich fuhr sie fort: „Wann kommst du denn wieder?“
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, aber mein Arbeitsvisum ist für sechs Monate gültig.“
Seine Mutter entspannte sich.
„Man kann es aber verlängern lassen“, sagte er völlig gefühllos.
Schreck. Verzweiflung. Verständnislosigkeit. Die Familie stand von ihrem Sonntagsbraten auf und jeder verschwand in eine andere Richtung.
Als der Abreisetag endlich da war, überreichten die Eltern ihrem Sohn zum Abschied eine Kette aus reinem Silber mit einem Kreuz als Anhänger. Das Antlitz des Gekreuzigten drückte Leid und Schmerz aus. Blut floss aus seinen Wunden am Körper herunter. Sebastian war sehr beeindruckt von diesem besonderen Geschenk. Obwohl er sich von der Kirche losgesagt hatte, trug er die Kette unter dem Hemd.