Читать книгу Mehr als 0 und 1 (E-Book) - Beat Döbeli Honegger - Страница 7
ОглавлениеDie Aussage »Wir leben in einer Informationsgesellschaft« ist eine seit vierzig Jahren wiederholte Binsenwahrheit. Netzwerkgesellschaft, Mediengesellschaft, Informationsgesellschaft – zahlreich sind die Bezeichnungen für das Phänomen der Digitalisierung. In allen Variationen werden die Konsequenzen als Himmel und Hölle zugleich an die Wand gemalt. In unserem Alltag erleben wir diese Veränderungen zunehmend stärker. Erst hielt der Personal Computer (PC) Einzug in den beruflichen und privaten Alltag, dann das Internet und derzeit werden mobile Geräte wie Smartphones und Smartwatches allgegenwärtig. Trotzdem scheint es schwierig, die Bedeutung und Tragweite dieser Entwicklung abzuschätzen. Martin Lindner spricht deshalb vom digitalen Klimawandel b6003, weil er sich ähnlich wie der meteorologische Klimawandel trotz seiner Bedeutung langsam vollzieht und schwer fassbar bleibt. Dieses Kapitel erklärt in groben Zügen, warum die Entstehung der Informationsgesellschaft auch als Leitmedienwechsel w2306 vom Buch zum vernetzten Computer oder als zweite industrielle Revolution bezeichnet wird. Computer, Internet und mobile Geräte sind zwar die sichtbaren Objekte der Informationsgesellschaft. Doch dahinter steckt eine mächtige technologische Entwicklung, die weit mehr umfasst. Sie lässt sich mit den Begriffen »Digitalisierung«, »Automatisierung« und »Vernetzung« umreißen.
Digitalisierung – Automatisierung – Vernetzung
Mit dem Begriff »Digitalisierung« w1513 soll die Tatsache beschrieben werden, dass analoge Daten zunehmend in die digitale Form überführt werden oder Daten direkt digital erfasst werden. »Digital« bedeutet, dass sich alle möglichen Daten (Texte, Bilder, Töne, Videos) mit dem gleichen Alphabet, bestehend aus den beiden Zeichen 0 und 1, darstellen lassen. Diese streng genommen »binär« zu nennende Darstellung erlaubt es, alle Daten elektronisch in einem einzigen Gerät – dem Computer – zu speichern (siehe Abbildung 1.1).
Abbildung 1.1: Die Digitalisierung ermöglicht, alle Daten in einem einzigen Gerät zu speichern
So ist es beispielsweise bereits heute kein Problem mehr, das gesamte Leben eines Menschen als Video festzuhalten und dabei gleichzeitig alle seine Kommunikations-, Gesundheits- und Aufenthaltsdaten aufzuzeichnen und durchsuchbar aufzubereiten – und das wird bereits gemacht b3725. Dieses erschreckend wirkende Szenario soll als Beispiel dafür genügen, wie stark die Informationsflut w430, über die sich bereits die alten Griechen beklagt haben, aufgrund der Digitalisierung weiter zunehmen wird. Computer ermöglichen jedoch nicht nur die Erfassung und Speicherung digitaler Daten, sondern auch deren automatische, regelbasierte Verarbeitung. Daten können maschinell sortiert, gefiltert und nach gewissen Regeln verarbeitet werden. Computer erlauben die Automatisierung w973 aller Abläufe, die sich präzis, sprich formal exakt, beschreiben lassen. Digitale Daten sind platzsparend speicherbar und lassen sich über Datennetze weltweit kostengünstig übermitteln. Dank dieser Vernetzung w975 können alle erfassten, verarbeiteten und gespeicherten Daten sofort weltweit verfügbar gemacht werden (siehe Abbildung 1.2). Nicholas Negroponte, Gründer des MIT Media Labs, schuf dafür ein einprägsames Bild, als er 1995 im Buch Total digital b99 erklärte, dass wir künftig vermehrt Bits statt Atome transportieren würden.
Abbildung 1.2: Die grundlegenden Funktionen des Computers
Das mooresche Gesetz und die zweite Hälfte des Schachbretts
Treiber hinter dieser technologischen Entwicklung ist die als mooresches Gesetz w862 bekannt gewordene Tatsache, dass sich in den letzten 40 Jahren alle anderthalb Jahre doppelt so viele Transistoren auf der gleichen Chipfläche unterbringen ließen – dass sich also vereinfacht ausgedrückt die Komplexität von Computerchips alle anderthalb Jahre verdoppelt hat. Diese seit vierzig Jahren praktisch ungebrochene Leistungssteigerung ist sowohl der Grund für die enorme Entwicklung als auch ein Ausdruck für deren schwierige Erfassbarkeit durch die menschliche Vorstellungskraft. Menschen können schlecht mit exponentiellen Entwicklungen umgehen, wie bereits die Legende des Schachspielerfinders zeigt. Dieser forderte als Lohn für seine Erfindung vom König ein Reiskorn auf dem ersten Feld des Schachbretts und doppelt so viele Reiskörner auf jedem der nachfolgenden Felder. Noch in der Mitte des Schachbretts meinte der König, einen geringen Preis für das spannende Schachspiel bezahlen zu müssen, bevor er von der unvorstellbaren Entwicklung auf der zweiten Hälfte des Schachbretts überrascht wurde und den Erfinder in der Folge hinrichten ließ. In gewisser Hinsicht ist es gut denkbar, dass auch die Menschheit die weitere Entwicklung der Digitalisierung noch nicht wirklich abschätzen kann.
Abbildung 1.3: Auslöser, Konsequenzen und Herausforderungen des aktuellen Leitmedienwechsels
Ökonomische Konsequenzen: Es trifft nicht mehr nur langweilige Routinearbeiten
Es ist zwar im allgemeinen Bewusstsein angekommen, dass die Digitalisierung gewisse Wirtschaftsbereiche wie zum Beispiel die Musik- oder Fotoindustrie verändert hat. Die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verwenden unterdessen am Arbeitsplatz einen oder mehrere Computer, gewisse Berufe haben an Bedeutung verloren oder sind ganz verschwunden. Zumeist betraf die Automatisierung bisher aber vor allem monotone, standardisierte Jobs. Erst seit kurzem lassen sich zunehmend auch Tätigkeiten automatisieren, die bisher noch dem Menschen vorbehalten schienen. Dazu drei aktuelle Beispiele: selbstfahrende Autos, nachahmende Roboter und computergenerierte Texte.
Noch im Jahr 2004 wurde in einer renommierten Studie zur Zukunft der Arbeit b5382 erklärt, selbstfahrende Autos w2448 seien aufgrund der zu großen Komplexität des Verkehrsgeschehens unmöglich. Zehn Jahre später haben selbstfahrende Autos sowohl in den USA als auch in Europa erfolgreich Hunderttausende von Kilometern ohne menschliche Hilfe zurückgelegt. Sollten sich selbstfahrende Autos durchsetzen, hätte das gravierende Auswirkungen auf den Berufsstand von Taxi-, Bus- und LKW-Fahrern.
Baxter w2834 ist ein dem menschlichen Oberkörper nachempfundener Roboter mit zwei Armen und einem Bildschirm als »Kopf«. Darauf kann ein Gesicht angezeigt werden, das dorthin blickt, wo der Roboter demnächst etwas tun wird und das Traurigkeit oder Verwirrtheit ausdrückt, wenn dem Roboter etwas nicht gelingen will. Das Revolutionäre ist jedoch, dass Baxter sich programmieren lässt, indem man seine Arme greift und ihm damit vormacht, was er zu tun hat. Nach etwa einer halben Stunde Training hat er verstanden, was er zu tun hat, und kann nun beispielsweise selbstständig Objekte in Kisten verpacken oder Nägel an einer bestimmten Stelle einschlagen. Dieses programming by demonstration w2835 ermöglicht es auch Laien, den Roboter zu programmieren – teure und rare Programmierer werden damit überflüssig. Ähnlich wie der Computer ist er damit kein Werkzeug nur für einen bestimmten Zweck, sondern ein lernfähiger Universalroboter. Zusammen mit dem vergleichsweise tiefen Anschaffungspreis ist dies ein wichtiges Verkaufsargument. Die Verbreitung dieser lernfähigen Roboter dürfte zunehmen. Einerseits werden dadurch bestehende Arbeitsplätze gefährdet, andererseits könnten in der Konsequenz gewisse Produktionsstätten wieder in Industrieländer zurückwandern, da die Lohnkosten bei der Produktion von Gütern durch Robotereinsatz sinken.
Das dritte Beispiel des computational journalism w2833 dürfte am deutlichsten machen, dass Computer anfangen, kognitive Leistungen für Menschen zu übernehmen. Mehrere Firmen verkaufen bereits erfolgreich computergenerierte Sport- und Börsenberichte an Zeitungen. Je mehr Daten zu einem Ereignis digital verfügbar sind, desto einfacher ist es für einen Computer, daraus einen Artikel zu formulieren, der von Menschen nicht als vom Computer geschrieben erkannt wird. In den USA eignet sich zum Beispiel Baseball sehr, da in einem solchen Spiel viele Daten anfallen, aus denen sich der Spielverlauf ablesen lässt. Im Finanzbereich wird das Verfassen von Jahresberichten börsennotierter Unternehmen immer heikler, da falsche Formulierungen juristische Konsequenzen haben könnten. Also wird auch diese Arbeit Computern übertragen, die aus den Geschäftsdaten einen trockenen Prosatext generieren. Computer schreiben erfolgreich Texte – damit verschiebt sich unaufhaltsam die Grenze dessen, was wir für automatisierbar halten.
Autonome – Substituierbare – Unberechenbare
Bereits im Jahr 1982 hat der deutsche Informatiker Klaus Haefner im Buch Die neue Bildungskrise b127 diese ökonomischen Folgen der Digitalisierung in düsteren Farben beschrieben. Computer und die damit einhergehende Automatisierung würden die Arbeitslosigkeit fördern a833, weil nach ökonomischer Logik alles automatisiert würde, was Kosteneinsparungen verspreche a118. Haefner definiert im Buch holzschnittartig drei Gruppen von Berufen, die auch heute noch als Gedankenmodell brauchbar sind: Als »Autonome« w1448 bezeichnet er diejenigen Berufstätigen, die eine Tätigkeit ohne Computereinfluss ausüben. Haefner zählt dazu die Bauern – eine Einteilung, die heute, dreißig Jahre später, nicht mehr zutrifft, müssen Bauern doch sowohl über Internet als auch Mobiltelefon verfügen, um ihren Beruf ausüben zu können. »Substituierbare« w1449 sind gemäß Haefner diejenigen Berufe, die durch die Automatisierung überflüssig gemacht werden, also beispielsweise Ticketverkäufer oder klassische Sekretärinnen. Als »Unberechenbare« w1450 bezeichnet Haefner die Berufsgruppe, deren Tätigkeit sich der reinen Berechnung entzieht und die damit nicht durch Computer zu ersetzen ist. Als Beispiel für diese Gruppe nennt er Lehrerinnen und Lehrer.
Nicht nur beim Beruf des Bauern hat sich seit 1982 einiges geändert. Die zunehmende Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung führt dazu, dass immer mehr Berufen die Gefahr droht, substituierbar zu werden. So bezeichnet Gunter Dueck, der ehemalige Cheftechnologe von IBM, die Tätigkeit durchschnittlicher Bank- und Versicherungsberater als Flachbildschirmrückseitenberatung w2837, da diese heute oft nicht viel mehr täten, als den Kundinnen und Kunden die Empfehlungen des unternehmenseigenen Computersystems vorzulesen. Er prophezeit somit, dass Unternehmen dieses Beratungsangebot für Normalverdienende bald einstellen würden, da niemand mehr bereit sei, dafür zu bezahlen t17089. In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien erschienen, die – detaillierter als Haefner 1982 – versuchen, das Zukunftspotenzial von Berufsgruppen zu prognostizieren t15782, b5382.
Die Vernetzung fördert auch die Globalisierung w1244, da der weltweite Datenaustausch massiv schneller und kostengünstiger wird. Arbeitstätigkeiten, die keine Materialtransporte erfordern, können dank des Internets irgendwo auf der Welt ausgeführt werden. Der US-amerikanische Ökonom Thomas Friedman spricht in diesem Zusammenhang in seinem Buch Die Welt ist flach b2512 von der Globalisierung 3.0. Nach der Globalisierung 1.0, bei der Nationalstaaten Kolonien gegründet, und der Globalisierung 2.0, bei der Unternehmen weltweite Tochtergesellschaften aufgebaut hätten, sei nun in Zeiten des Internets der einzelne Arbeitnehmer dabei, seine Dienste weltweit anzubieten. Die beiden US-amerikanischen Ökonomen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee verstehen hingegen das Outsourcing als Vorstufe zur Automatisierung a1259. Wenn eine Tätigkeit ins Ausland verlagert werden könne, so sei dies der Beleg dafür, dass sie genau beschrieben werden könne – was die Voraussetzung für ihre Automatisierung sei.
Die meisten Publikationen zu den ökonomischen Auswirkungen von Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung gehen davon aus, dass alles ökonomisch Automatisierbare automatisiert werden wird a118 und dass dieser Prozess viele Berufe bedroht. Uneinig sind sich Ökonomen allerdings, ob neu entstehende Arbeitsplätze den Verlust bisheriger Arbeitsplätze aufwiegen können. Dies ist eine vergleichsweise alte Diskussion. 1930 publizierte John Maynard Keynes den vielzitierten Aufsatz Economic Possibilities for our Grandchildren t15783, in dem er den Begriff der technologischen Arbeitslosigkeit prägte. Keynes vertrat die Ansicht, dass der technische Fortschritt schneller Arbeitsplätze vernichten könnte, als neue geschaffen würden.
Erhöht die Digitalisierung das Wohlstandsgefälle?
Seither stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft die Produktivitätsgewinne verteilt. Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung könnten dabei in zweierlei Hinsicht eine Zäsur darstellen. Zum einen stellen verschiedene Studien der letzten Jahre fest, dass sich das Angebot zunehmend in hoch anspruchsvolle und anspruchslose Arbeitsplätze unterteilt, während solche mit mittleren Ansprüchen wegfallen a1268. Berufe mit mittleren Ansprüchen zeichnen sich sowohl bei kognitiven als auch bei manuellen Tätigkeiten durch einen hohen Anteil an Routinearbeiten aus, der nun zunehmend automatisiert werden kann. Übrig bleiben die kognitiv hoch anspruchsvollen Berufe und die relativ anspruchslosen manuellen Berufe, deren Aufgaben eher situativ zu lösen sind, zum Beispiel Putz- und Sicherheitspersonal. Neben dieser Spaltung in anspruchsvolle und anspruchslose Tätigkeiten führt die Automatisierung auch dazu, dass Kapital an Bedeutung gewinnt und Arbeit an Bedeutung verliert. Um eine automatisierte Lösung aufzubauen, ist anfänglich viel Kapital notwendig, der Betrieb ist danach im Vergleich zu früheren, nicht automatisierten Lösungen relativ kostengünstig. Mit dieser Entwicklung steigt die wirtschaftliche Macht vermögender Menschen, während es für weniger vermögende Menschen immer schwieriger wird, durch Arbeit reich zu werden. Erik Brynjolfsson und McAfee zeigen anhand aktueller Zahlen aus den USA t17725, dass es zwar mehr Millionäre denn je gibt, die Beschäftigungsquote und das Durchschnittseinkommen jedoch stagnieren oder gar fallen. Die Digitalisierung scheint das Wohlstandsgefälle zu fördern a1260. Die Gesellschaft muss sich hier fragen, wie sie mit dieser Entwicklung umgehen will. Garantierte Mindestlöhne w2434 als Maßnahme zum Ausgleich der Einkommensunterschiede sind nicht unproblematisch. Sie erhöhen die Attraktivität der Automatisierung a1215, da die Automatisierungslösung dadurch ebenfalls mehr kosten darf und trotzdem noch günstiger als die menschliche Arbeitskraft sein kann. Als Alternativen werden ein bedingungsloses Grundeinkommen w2232 oder negative Einkommenssteuern w2842 breiter diskutiert und durchaus auch von nicht kapitalismusfeindlichen Ökonomen verfochten.
Kontrollverlust allerorten
Der aktuelle Leitmedienwechsel führt aber nicht nur zu ökonomischen Herausforderungen.
Sowohl die Gesellschaft als Ganzes als auch jeder einzelne Mensch ist durch Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung mit einem Kontrollverlust konfrontiert. Der Soziologe Dirk Baecker spricht in der Einleitung seines Buches Studien zur nächsten Gesellschaft b4152 davon, dass »jedes neue Verbreitungsmedium die Gesellschaft mit neuen und überschüssigen Möglichkeiten der Kommunikation konfrontiert«. Für Baecker waren es immer die Kommunikationsmedien, die neue Gesellschaftsstrukturen geprägt haben a1133: »Wir haben es mit nichts Geringerem zu tun als mit der Vermutung, dass die Einführung des Computers für die Gesellschaft ebenso dramatische Folgen hat wie zuvor nur die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks. Die Einführung der Sprache konstituierte die Stammesgesellschaft, die Einführung der Schrift die antike Hochkultur, die Einführung des Buchdrucks die moderne Gesellschaft und die Einführung des Computers die nächste Gesellschaft« (siehe Abbildung 1.4).
Abbildung 1.4: Kommunikationsmedien als Auslöser von Leitmedienwechseln gemäß Baecker b4152
Baeckers Formulierungen klingen zunächst abstrakt, aber ein Blick in die Tagespresse zeigt, wie konkret und aktuell seine Aussage ist. Individuen, Unternehmen und Staaten haben aufgrund der riesigen und automatisch auswertbaren, weltweiten Datenflut alle mit Kontrollverlusten zu kämpfen und versuchen sich auf die neue Situation einzustellen. Michael Seemann fasst die Situation in einem Satz zusammen: »Daten, von denen wir nicht wussten, dass es sie gibt, finden Wege, die nicht vorgesehen waren, und offenbaren Dinge, auf die wir nie gekommen wären« t17925. Abbildung 1.5 zeigt im Überblick, wie sich die Verhältnisse zwischen Staat, Individuum und Unternehmen aufgrund der Digitalisierung verändern.
Abbildung 1.5: Die Digitalisierung verändert die Verhältnisse zwischen Staat, Individuum und Unternehmen
Individuen sind daran, ihre Privatsphäre w535 zu verlieren oder haben sie bereits verloren. Staaten sammeln zur Verbrechens- und Terrorbekämpfung oder gar -prävention auf breiter Front massenhaft Daten einzelner Menschen. So werden bei der seit längerem heiß diskutierten Vorratsdatenspeicherung w2451 alle Informationen, wer mit wem telefoniert oder sonst digital kommuniziert hat, während mehrerer Monate auf Vorrat gespeichert. Obwohl nur diese Metadaten w1425, nicht aber der Inhalt der Kommunikation gespeichert werden, lassen sich daraus sehr genaue Bewegungsprofile erstellen, wie zum Beispiel das 2014 veröffentlichte und attraktiv grafisch animierte Metadatenprofil des schweizerischen Nationalrats Balthasar Glättli gezeigt hat t16591.
Während Individuen sich dem staatlichen Datenhunger nicht entziehen können, sieht dieses Verhältnis gegenüber Unternehmen scheinbar anders aus. Wer nicht im Internet bestellt, keine Kundenkarten nutzt und nicht bei sozialen Medien aktiv ist, scheint nach dem Prinzip der Datensparsamkeit w1211 den Unternehmen keine Nahrung zu bieten. Doch bereits wer auf Webseiten surft, hinterlässt eine Datenspur, die zu personalisierter Werbung führt. Und auch Personen ohne eigenes Social-Media-Konto können durchaus in deren internen Datenbanken auftauchen. Social-Media-Unternehmen laden mit Vorliebe die digitalen Adressbücher ihrer Mitglieder auf die eigenen Server, um die sozialen Beziehungen auszuwerten und neue Mitglieder gezielt anwerben zu können. Die zunehmende Datenmenge führt unter anderem dazu, dass immer präzisere Prognosen zu den Lebensumständen einzelner Menschen möglich werden. Berühmt geworden ist das Beispiel einer Warenhauskette, welche die Schwangerschaft einer jungen Kundin prognostiziert und entsprechende Werbung zugestellt hatte, bevor diese die Schwangerschaft selbst bemerkt hatte t15708; ähnlich die Studie, welche die Homosexualität der Userinnen und User mit hoher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund der abrufbaren Freundschaftsbeziehungen auf Facebook voraussagen konnte t17939.
Angesichts solcher Entwicklungen halten verschiedene Stimmen die Privatsphäre für ein Auslaufmodell und rufen das Zeitalter der post privacy w2424 aus. Insbesondere Chefs von großen Informatikfirmen haben sich mehrfach in diese Richtung geäußert, so zum Beispiel der ehemalige CEO von Sun Microsystems, Scott McNealy. Er meinte 1999: »Sie haben ohnehin null Privatsphäre. Kommen Sie damit klar!« Zehn Jahre später erklärte der damalige CEO von Google, Eric Schmidt, lapidar: »Wenn es etwas gibt, von dem man nicht möchte, dass es die Welt erfährt, dann sollte man es nicht tun.« Wird damit George Orwells Roman 1984 b221 noch übertroffen und führt das Bewusstsein, wie in Benthams Panoptikum w2016 dauernd beobachtet zu werden, dazu, dass Menschen sich selbst im Privaten nicht mehr trauen, gewisse Dinge zu tun, zu sagen oder gar zu denken?
Anders als in 1984 beschrieben, fürchten sich Staat und Unternehmen allerdings auch vor der neuen Macht einzelner Menschen. Hatte die Aufdeckung der Watergate-Affäre noch einen Fotokopierer und viel Handarbeit benötigt, um ein 44-bändiges Geheimdokument an die Öffentlichkeit zu bringen, genügen in der heutigen Zeit fingernagelgroße USB-Sticks oder das allgegenwärtige Internet, um Dokumente aus geschützten Armee- und Staatsumgebungen zu entwenden, die früher in Papierform mehrere Lastwagen gefüllt hätten. Wikileaks w2216 und die von Edward Snowden p13594 aufgedeckten Geheimdienstaktivitäten b5666 sind dafür die bisher prominentesten Beispiele.
Auch Unternehmen fürchten sich heutzutage vor einzelnen Kundinnen und Kunden. Einerseits war es für die Kundschaft noch nie so einfach, Preisvergleiche herzustellen, andererseits können unzufriedene Kunden dank Internet und Social Media viel einfacher Aufmerksamkeit erregen und mitunter mit einem Shitstorm w2838 den Ruf eines Unternehmens beschädigen. So erreichte beispielsweise der Protestsong United breaks guitars eine solche Verbreitung, dass bei der Eingabe von »United« die Suchmaschine Google eine Zeit lang automatisch »breaks guitars« als Ergänzung vorschlug.
Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung beeinflussen auch das Verhältnis von Unternehmen und Staaten. So zeigen die von Edward Snowden veröffentlichten Dokumente, dass Geheimdienste auch handfeste Wirtschaftsspionage betreiben und damit den Unternehmen im eigenen Land auf Kosten ausländischer Unternehmen helfen. Unternehmen wiederum können sich dank der Globalisierung immer stärker staatlichen Regulierungen und insbesondere staatlichen Steuern entziehen w2839. Immaterielle Güter wie Software oder Patente lassen sich an einem beliebigen Ort auf der Welt registrieren. Weltweit operierende Unternehmen gründen somit Briefkastenfirmen an Orten, an denen die staatlichen Regelungen bezüglich Steuerbelastung oder Datenschutz für sie besonders optimal sind, und verschieben ihre Unternehmensgewinne oder ihre Daten dorthin.
Einige dieser Entwicklungen des Internets, aber auch viele seiner Potenziale, sind auf dessen offene Grundarchitektur zurückzuführen. Verschiedene Experten befürchten jedoch, dass diese Offenheit von kurzer Dauer sein könnte a1226. So weist beispielsweise Jonathan Zittrain in seinem Buch The Future of the Internet b3620 bereits im Jahr 2006 darauf hin, dass frühere Betriebssysteme das Installieren beliebiger Software erlaubt haben, aktuelle Geräte jedoch nur noch beschränkte Installationsmöglichkeiten bieten. Eine ähnliche Einschränkung findet im Internet statt, das offene World Wide Web droht, durch geschlossene soziale Netzwerke wie Facebook ersetzt zu werden. Somit könnten bald kommerzielle Unternehmen entscheiden, was im Internet wie leicht zu finden ist. Darum geht es unter anderem bei der aktuellen Diskussion um die Netzneutralität w2130. Damit wird die aktuelle, allerdings ungeschriebene Regel im Internet bezeichnet, dass alle Daten gleichberechtigt weitergeleitet werden. Derzeit kann niemand mit Geld erreichen, dass seine Daten schneller oder zuverlässiger ankommen. Tim Wu zeigt in seinem im Jahr 2010 erschienenen Buch The Master Switch b5030, dass bereits frühere Medien mit einer Phase der Offenheit begonnen haben und nach einiger Zeit durch Marktentwicklungen und staatliche Eingriffe stark reguliert und eingeschränkt wurden.
Werkzeuge prägen unser Denken
Die Digitalisierung verändert nicht nur die Arbeitswelt und führt zu einem allgemeinen Kontrollverlust. Der Leitmedienwechsel verändert auch unser Denken und Zusammenleben – das wird bereits klar, wenn man sich die Veränderungen in unserer Kommunikation und Terminplanung durch E-Mail und Mobiltelefon vor Augen führt. Unverbindlichkeit und Entscheidungen in letzter Sekunde haben stark zugenommen. Medientheoretiker wie Vilém Flusser p210, Marshall McLuhan p332 oder Neil Postman p132 haben bereits vor dem Aufkommen des Computers darauf aufmerksam gemacht, dass Werkzeuge schon immer unser Denken und Handeln beeinflusst haben a113.
Exemplarisch für die Veränderungen unseres Denkens und Handelns durch digitale Werkzeuge und Medien soll an dieser Stelle nur die These vorgestellt werden, dass der Computer den Wunsch oder die Sucht, alles zu messen und zu dokumentieren, stark erhöht hat. Bei Individuen wird dieser Trend als quantified self w2356 bezeichnet und kommt mit Fitnessarmbändern und Smartwatches vermutlich gerade erst auf – medizinische Daten dürften bald folgen. Noch stärker scheint die von Gunter Dueck Omnimetrie w1810 genannte Entwicklung bei Organisationen zu sein. Qualitätsmanagement, Zertifizierung, Akkreditierung sind die Stichworte dieser zunehmenden Bürokratisierung vieler Abläufe. Da nur gemessen und automatisiert werden kann, was formalisiert und standardisiert wurde a830, führt dies oft auch zu einer Anpassung der Messkriterien und Abläufe. Es droht die Gefahr, dass nur noch das Messbare zählt.
Es gäbe noch unzählige Veränderungen in allen Lebensbereichen zu schildern, die der Leitmedienwechsel mit sich bringt. Doch bereits mit dem bisher Aufgeführten wird deutlich, dass die Erfindung des Computers mit derjenigen des Buchdrucks vergleichbar ist. Es handelt sich um einen Leitmedienwechsel, der alle Aspekte des Lebens betrifft und für die Schule weit größere Herausforderungen mit sich bringt als die Frage, ob und wie Computer in der Schule genutzt werden sollen.
Doch wie soll die Schule auf den Leitmedienwechsel reagieren? Es fehlt diesbezüglich keineswegs an Vorschlägen und Rezepten. Das nächste Kapitel zeigt das ganze Spektrum, wie die Akteure an den Schulen auf den Leitmedienwechsel reagieren; vom Versuch, die Entwicklung zu ignorieren, bis hin zu Vorschlägen, die Schule zu revolutionieren oder in ihrer heutigen Form gar ganz abzuschaffen, sind die unterschiedlichsten Positionen zu beobachten.
Wer sich vertiefter mit dem Leitmedienwechsel beschäftigen möchte, dem sei einerseits die untenstehende Literatur empfohlen. Andererseits enthält der Anhang A »Gesetze des Digitalen« in Kurzform die wichtigsten ökonomischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge des Digitalzeitalters.