Читать книгу Fürstenkrone Staffel 13 – Adelsroman - Beate Helm - Страница 9
ОглавлениеBaron von Bernhausen lehnte lässig an einer der dicken Säulen, die die Decke des großen Festsaales von Lichtenfelde trugen. Nachdenklich zog er an seiner Zigarette und sah den tanzenden Paaren zu. Sein ganz besonderes Augenmerk galt der schönen jungen Komtesse von Hugendorff. Wie ihr goldblondes Haar in dem Licht der kostbaren Kristalleuchter schimmerte. Wie leicht sie im Arm ihres Tänzers über das Parkett glitt! Wie betont einfach und doch so wirkungsvoll ihr Kleid war, dessen zarte Fliederfarbe so wunderbar gegen ihr blondes Haar abstach.
Der nächste Tanz muß mir gehören! dachte Bernhausen und drückte den Rest seiner Zigarette in einen der kleinen vergoldeten Aschenbecher. Unauffällig begab er sich in die Nähe der Komtesse, und kaum hatte die Kapelle die ersten Takte zum nächsten Tanz begonnen, als er sich auch schon vor ihr verneigte.
»Komtesse, Sie sehen bezaubernd aus. Ja, ich möchte sagen, Sie sind die Königin dieses Festes«, erklärte er in seiner schmeichelnden Art, in der er den Damen Komplimente zu machen pflegte.
Verenas Wangen überzogen sich mit einem rosigen Hauch. Konnte sie ihren Ohren noch trauen? Königin dieses Festes hatte er sie genannt! Er, der elegante und von vielen heimlich verehrte Baron von Bernhausen machte ausgerechnet ihr solch ein Kompliment! Sie lächelte glücklich, ihr Herz schlug schneller, und ihre Augen verrieten nur zu deutlich, daß es dem Mann entgegenschlug, der ihr diese Worte gesagt hatte.
Bernhausen hatte mit einiger Verwunderung die Veränderung bemerkt, die mit der Komtesse vorgegangen war. Sprachen ihre Augen nicht eine deutliche Sprache? Konnte er nicht darin lesen, daß dieses hübsche Mädchen in ihn verliebt war? Bernhausen richtete sich unwillkürlich gerade auf. Warum sollte sie nicht in ihn verliebt sein? dachte er selbstbewußt. Er war zwar nur ein Baron, hatte dafür aber eine ausgezeichnete Figur und ein ansprechendes Gesicht. Warum also sollte er sein Glück nicht versuchen bei der Komtesse? Eine Heirat mit der reichen Tochter des Grafen von Hugendorff war doch nicht zu verachten.
Bernhausen war kein Mann, der einen Entschluß auf die lange Bank schob, so begann er gleich damit, das kleine Herz der Komtesse noch mehr in Verwirrung zu bringen. Er zog sie mit sanfter Gewalt näher zu sich heran, so daß ihr Haar dicht vor seinem Gesicht schimmerte. Er streifte mit den Lippen ganz behutsam über die kleinen Locken.
»Verzeihen Sie mir, Komtesse, ich war unbeherrscht«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr, so daß sie seinen warmen Atem wahrnahm.
Verena hielt die Augen geschlossen und hatte den Kopf beinahe wie unbeabsichtigt an Bernhausens Schulter gelehnt. Für sie war die Umwelt versunken. Sie erlebte ein Märchen, das sie schon so oft geträumt hatte und das nun so plötzlich Wirklichkeit geworden war.
Die letzten Töne der Tanzmelodie verklangen. Verena sah zu ihrem Partner auf. Was sollte nun kommen? Würde er sie zurück an ihren Platz bringen und sich verabschieden? Oder…?
Bernhausen war ein Frauenkenner. Er las in Verenas Augen wie in einem offenen Buch.
»Es ist sehr schwül hier im Saal, Komtesse. Wollen wir ein bißchen frische Luft schöpfen?«
Verena nickte nur. Sie wagte nicht, jetzt in Bernhausens Augen zu sehen. Sie fürchtete, unter seinen Blicken erneut zu erröten.
Clemens bot ihr den Arm und führte sie hinaus auf die Terrasse. Sie stiegen die breite Treppe hinab zum Park und gingen langsam die gepflegten Wege entlang.
Vor dem kleinen Schloßteich, der mitten im Park lag, machte Clemens halt.
»Sehen Sie, Komtesse, wie klar das Wasser ist! Die Sterne spiegeln sich in ihm wider.«
Er wandte den Kopf und sah sie an. Wie ein Rausch kam es über ihn. Sie ist schön! dachte er, unsagbar schön! Ich muß sie besitzen! Sie muß mein werden! Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich heran. Mit der Linken hob er ihr das Kinn leicht hoch, um ihr besser in die Augen sehen zu können. Und diese Augen verrieten ihm ihre Liebe.
Da beugte er sich über ihr Gesicht und küßte sie auf den Mund. Ihre Lippen fühlten sich kühl und rein an. Verena wehrte sich nicht. Sie lag ganz still in seinen Armen.
Vielleicht hat sie niemals einen Mann vor mir geküßt? Nein, bestimmt hat es noch keinen Mann gegeben, der dieses herrliche Mädchen lieben durfte, wußte Clemens plötzlich ganz genau, und die Freude darüber machte ihn schier trunken. Immer fester preßte er die schlanke Gestalt an sich, und immer heißer wurden seine Küsse, bis Verena sich mit sanftem Nachdruck aus seinen Armen befreite.
»Wir müssen zurück«, mahnte sie leise. »Mama könnte mich sonst vermissen.«
»Ja, verzeih, du hast recht, Verena.«
Clemens legte den Arm um sie.
»Bald hat diese Heimlichkeit ja ein Ende, Verena. Am liebsten möchte ich noch heute mit deinem Vater sprechen.«
»Nein, nein, Clemens. Bitte, warte noch ein paar Tage. Ich möchte meine Eltern erst vorbereiten.«
»Ganz, wie du es bestimmst, Liebste«, fügte sich Clemens. Ihm war diese Verzögerung recht, denn so konnte er sich auf das zu erwartende Kreuzfeuer, das der Graf bei seiner Werbung sicherlich mit ihm anstellen würde, genügend vorbereiten.
*
Graf von Hugendorff sah von seiner Arbeit auf.
»Ach, Sie sind es, Johann. Nun, was gibt es?« fragte er ohne jede Neugier.
Johann reichte dem Graf ein silbernes Tablett über den Schreibtisch.
»Der Herr bittet um eine Unterredung. Es sei sehr dringend, sagte er.«
Graf Hugendorff blickte ein wenig ärgerlich auf die Visitenkarte. Wer wagte es, ihn schon so früh am Morgen mit einem Besuch zu belästigen?
Doch als er den Namen des Besuchers las, verfärbte er sich. Er schluckte, hüstelte verlegen, um vor Johann Zeit zu gewinnen.
Was sollte er tun? Er hatte diesen unbequemen Besucher heute noch nicht erwartet, er konnte seinen Forderungen nicht nachkommen.
»Ich bin nicht zu sprechen, Johann«, sagte er dann entschlossen.
Hugendorff erhob sich, zog eine Zigarette aus seinem vergoldeten Etui und zündete sie an.
Wie lange wird er sich noch abweisen lassen? dachte er hoffnungslos. Vielleicht kommt er schon morgen zurück? Was soll dann werden?
Hugendorff war zum Fenster gegangen, um zu sehen, wie der unangenehme Besucher abfuhr.
Noch war nichts zu sehen. Er schien sich Zeit zu lassen.
Hugendorff wandte den Kopf zur Tür. Hatte es nicht soeben geklopft?
»Herein!« rief er ungehalten.
Johann kam zurück. Sein Gesicht war eine Mischung zwischen Schuldbewußtsein und Angst vor dem, was nun kommen würde.
»Was gibt es denn nun schon wieder, Johann?« fragte er ärgerlich.
»Der Besucher…«
Weiter kam Johann nicht, denn schon erschien eine zweite Gestalt hinter dem bejahrten Diener, klein und untersetzt, die listigen winzigen Augen bewegten sich unruhig und schienen dauernd auf der Suche nach etwas Neuem zu sein, das zu besitzen es sich lohnte.
»Sie müssen schon entschuldigen, mein lieber Hugendorff. Mich können Sie natürlich nicht einfach durch den Diener abweisen«, begrüßte er den Grafen und gab Johann ein deutliches Zeichen, den Raum zu verlassen.
Johann blieb unschlüssig dort stehen, wo er stand.
»Für Sie bin ich nicht mein lieber Hugendorff, sondern nach wie vor Graf von Hugendorff! Merken Sie sich das! Außerdem ist es eine Frechheit, daß Sie einfach hier bei mir eindringen! Johann, lassen Sie mich jetzt allein.«
Adam Hirsch beachtete den Diener nicht weiter, sondern ging zu dem großen Schreibtisch und legte seine Aktenmappe darauf.
»Nobel geht die Welt zugrunde, Herr Graf von Hugendorff«, spottete er, wobei er die Anrede besonders betonte.
Hugendorff kochte vor ohnmächtiger Wut. Mußte er, ein Graf von Hugendorff, sich von dieser Kreatur so beleidigen lassen?
Adam Hirsch kümmerte sich nicht weiter um den Grafen. Er schob seine massige Fülle auf den Besuchersessel und legte seine Tasche auf den Schoß, um sogleich darin herumzukramen. Er zog ein Bündel länglicher Scheine hervor, die Hugendorff nur allzugut kannte.
»Können wir jetzt mit unserer Besprechung beginnen?« Hirsch wandte den Kopf zum Fenster. »Es wäre mir lieb, wenn Sie sich dorthin setzten. Es spricht sich gemütlicher. Angenehm wird es für Sie aller Voraussicht nach doch nicht werden.«
»Sagen Sie schon, was Sie von mir wollen! Spannen Sie mich nicht unnötig auf die Folter!«
»Herr Hirsch, bitte«, verbesserte Hirsch. »Es hört sich viel besser an und ist höflicher. Vielleicht ist es sogar angebracht, ein wenig höflicher zu mir zu sein.«
Die Stimme des Geldverleihers war voller Ironie. Er feuchtete mit der Zunge Daumen und Zeigefinger an und blätterte die Wechsel durch.
»Diese Papierchen sind fällig. Ich hoffe, Sie können zahlen? Ich bin nämlich selbst in Schwierigkeiten geraten und kann unmöglich länger auf die Einlösung warten. Notfalls müßte ich mir einen Gegenwert verschaffen«, fügte er lauernd hinzu.
Hugendorff ließ sich in seinen Sessel fallen. Die Hände krampften sich um die Holzlehne.
»Ich habe das Geld noch nicht.«
Beinahe trotzig sagte er das.
»Wieviel können Sie zahlen?« erkundigte sich Hirsch sachlich.
Hugendorff preßte für einen Augenblick die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Wieviel konnte er schon zahlen?
»Zehntausend«, sagte er dann, als sei das die Summe, die Hirsch verlangte.
Hirsch lachte kurz und spöttisch auf.
»Zehntausend? Wirklich ganze zehntausend Mark können Sie zahlen? Es ist zum Lachen! Daß Sie es überhaupt wagen, mir zehntausend Mark anzubieten, wo Sie genau wissen, daß Ihnen kein Grashalm mehr gehören wird, wenn ich diese Zettelchen hier hochgehen lasse.«
Hugendorff sprang auf und stürzte sich auf die Schreibtischplatte.
»Was erwarten Sie von mir?« schrie er Hirsch an. »Sie wissen ja genau, daß ich nicht zahlen kann! Warum also kommen Sie erst hierher?«
Hirsch zog verächtlich die Mundwinkel nach unten.
»Ich habe es eben satt, auf mein Geld noch länger zu warten! Ich will jetzt mein Geld, oder Sie sind die längste Zeit auf Gut Hugendorff gewesen!«
Hugendorff sank in sich zusammen. Jeder Blutstropfen war ihm aus dem Gesicht gewichen. So deutlich hatte Hirsch sich noch nie ausgedrückt.
Nun war der Zeitpunkt also gekommen, vor dem er sich stets gefürchtet hatte. Bisher hatte Hirsch sich immer wieder mit neuen Wechseln zufriedengegeben, wenn er nicht zahlen konnte oder mehr Geld brauchte, nun war es aus!
Endgültig aus!
»Ich habe wenig Zeit, Graf Hugendorff. Darf ich wissen, wie Sie Ihre Angelegenheit zu regeln wünschen? Zahlen Sie?«
»Zahlen Sie? Zahlen Sie?« brauste Hugendorff auf. »Wovon soll ich denn zahlen, wenn ich kein Geld habe? Ihre Wucherzinsen schlucken ja den ganzen Ertrag! Hätte ich nur früher gewußt, was Sie für ein Halsabschneider sind! Nie hätte ich mich auf Ihre Forderungen eingelassen!«
Hirsch lachte auf.
»Sie waren ja froh, daß Sie überhaupt mein Geld bekamen! Im übrigen möchte ich Ihnen raten, sich zu mäßigen. Ich könnte sonst doch unangenehm werden.«
Er packte die Wechsel sorgfältig wieder zusammen und verstaute sie in seiner Aktentasche.
»Also, Sie zahlen nicht? Vielleicht treffen Sie inzwischen schon Vorbereitungen für Ihren Umzug, Herr Graf von Hugendorff.« Wieder betonte er die Anrede mit besonderer Ironie. »Ich möchte Sie dabei nicht länger stören. Sollten Sie wider Erwarten bis morgen früh noch zahlen können, so wissen Sie mich ja zu finden.«
Er machte eine spöttische Verbeugung.
»Habe die Ehre.«
Als die Tür ein wenig unsanft ins Schloß gezogen wurde, zuckte Hugendorff zusammen.
Hugendorff richtete sich langsam auf. Ganz bedächtig, als müsse er mit besonderer Vorsicht handeln, öffnete er die Schublade zu seinem Schreibtisch mit einem Spezialschlüssel und zog sie auf. Ohne in die Schublade zu sehen, tastete er mit der Rechten zu seinem Revolver.
»Leb’ wohl, Hermine! Leb’ wohl, Verena! Verzeiht mir! Ich kann nicht anders! Gott behüte euch!«
Ein kurzer, peitschender Knall folgte, dann herrschte wieder unheimliche Stille.
*
Komtesse Verena war an diesem Morgen, wie schon so oft, gleich nach dem ersten Frühstück ausgeritten, um die Morgenstunden in der freien Natur zu genießen. Sie hatte sich heute etwas verspätet, denn sie war fest eingeschlafen, als sie sich wie üblich hinter den Felsen an den hohen Tannen ein wenig ins Gras gesetzt hatte, um von ihrem Glück zu träumen.
Vom Turm der Schloßkapelle schlug es gerade zwölfmal, als Verena durch den Schloßpark ritt.
Mama wird mich schon vermißt haben, dachte sie und überließ das Pferd einem Stallburschen, der gerade über den Hof eilte.
Sie selbst aber stieg schnell die breite Steintreppe zum Eingang empor.
Verwundert blickte sie sich in der Halle um. Wo war denn Johann? Er pflegte doch sonst um diese Zeit hier zu sein, um Besucher in Empfang zu nehmen. Ob vielleicht sogar Besuch gekommen war?
Verena streifte die Handschuhe ab und nahm sie in die Linke. Sie überlegte noch, ob sie sich zuerst umkleiden oder die Mama begrüßen sollte, damit sie sich nicht unnötige Sorgen um sie machte, als sie Johann entdeckte, der offensichtlich von oben zu kommen schien.
»Haben wir Besuch, Johann?« erkundigte sie sich neugierig.
Im gleichen Augenblick war Johann so weit näher gekommen, daß sie erkennen konnte, wie verweint seine alten Augen waren.
»Sie machen einen so bekümmerten Eindruck, Johann. Haben Sie Ärger gehabt?« fragte sie mitfühlend, denn an Johann hing sie mit ganz besonderer Liebe.
Johann setzte zum Sprechen an, doch er bekam die Unglücksbotschaft nicht über die Lippen.
»Vielleicht kleiden Sie sich erst um und begeben sich dann in den Salon der Frau Gräfin. Dr. Scharper ist dort.«
Schnell wandte er sich nach diesen Worten ab und ging ins Dienerzimmer.
Verena blickte ihm kopfschüttelnd nach. Der alte Herr schien ein wenig wunderlich zu werden. Vielleicht wollte er auch nur von seinem Kummer ablenken.
Als Verena die Treppe hinaufstieg, fiel ihr plötzlich mit besonderer Deutlichkeit wieder ein, daß Johann die Anwesenheit Dr. Scharpers im Salon der Mama erwähnt hatte.
Was hatte das zu bedeuten?
Verenas Herz begann laut und ängstlich zu pochen. Sie dachte gar nicht daran, ihre nicht mehr ganz einwandfreie Reitkleidung abzulegen, sondern klopfte sofort an den Salon der Mama.
Niemand bat sie, einzutreten.
Vielleicht ist Dr. Scharper längst gegangen und Mama hat den Salon verlassen.
Sie öffnete die Tür, um sich zu vergewissern, daß es so war.
»Mama?« rief sie, als sie den Raum tatsächlich leer vorfand.
Die Tür zum angrenzenden Schlafzimmer war nur angelehnt, und Verena glaubte das leise Knarren von Lederschuhen zu vernehmen.
Also war doch jemand hier!
Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür, und im Rahmen erschien Dr. Scharper. Johann hatte den Arzt rufen lassen. Die Gräfin hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten, als die entsetzliche Nachricht sie ereilte, daß ihr Gatte seinem Leben ein Ende gesetzt hatte.
Verena sah den Arzt sekundenlang fassungslos an. Dann schien sie zu begreifen.
»Mama?«
Dr. Scharper ging schnell auf sie zu und führte sie zu einem Sessel.
»Fassen Sie sich, Komtesse. Die Frau Gräfin ist erkrankt. Sie bedarf der größten Schonung. Ich mag Ihnen nicht direkt verwehren, zu ihr zu gehen, doch Sie müssen sehr gefaßt sein, denn jede Aufregung kann der Gräfin schaden.«
Verenas Augen hingen wie gebannt am Mund des Arztes.
»Ist es… so schlimm?« fragte sie leise.
Dr. Scharper nickte.
»Ich mache mir große Sorgen.« Verena erhob sich. Sie fühlte, daß ihr die Knie zitterten, doch sie zwang sich, stark zu sein.
»Ich verspreche Ihnen, daß ich gefaßt bin. Darf ich jetzt zu meiner Mutter?«
Scharper machte zwar noch immer ein bedenkliches Gesicht, doch dann nickte er und folgte Verena ins Schlafzimmer der Gräfin.
Verena blieb am Fußende des Bettes stehen. Die Mutter schien sie gar nicht bemerkt zu haben. Sie lag da ganz still und friedlich, als schlafe sie. Nur ihr Gesicht hatte solch einen eigenartigen, wächsernen Ausdruck, aber vielleicht machten das die zugezogenen Vorhänge.
Verena schlich auf Zehenspitzen um das Bett herum und beugte sich über die Mutter.
Als habe die Gräfin gefühlt, daß ihr Kind da war, öffnete sie die Augen.
»Verena?« Kaum vernehmbar sprach sie den Namen der Tochter aus.
»Ja, Mama, ich bin bei dir. Möchtest du etwas?«
»Ich bin so froh, daß du noch früh genug gekommen bist, Verena.«
Die Gräfin sprach schleppend und kaum verständlich. Verena merkte, daß ihr das Sprechen sehr schwer fiel, aber sie wagte nicht die Mutter zu unterbrechen, obwohl sie den Sinn ihrer Worte nicht ganz verstand.
»Trag es deinem Vater nicht nach. Er hat wohl keinen anderen Ausweg mehr gewußt.«
Ihre Hand tastete suchend über die Bettdecke.
Verena legte ihre darauf. Sie glaubte, die Mutter spreche im Fieber, anders konnte sie sich deren Worte nicht erklären, doch die Hände fühlten sich kalt an.
»Bleib gut, Verena. Ich gehe jetzt zu Papa.«
Das letzte Wort war nur noch ein Hauch. Der Mund schloß sich nicht wieder, und die Hand in Verenas Hand wurde schwer. Die Lider schlossen sich halb über den gebrochenen Augen.
Da erst wurde Verena bewußt, was geschehen war.
»Mama!«
Klagend und zitternd stand das Wort in dem halbdunklen Raum.
Dr. Scharper legte den Arm um die Schultern der Komtesse, weil er befürchtete, sie würde zusammenbrechen.
»Kommen Sie, Komtesse. Die Frau Gräfin hat den Frieden gefunden.«
Er führte sie hinüber in den Salon und schloß behutsam die Tür hinter sich.
»Ich muß sofort nach Papa schicken!«
Verena griff zur Klingel. In der Aufregung der letzten Minuten hatte sie an ihn gar nicht gedacht.
Dr. Scharper zog ihren Arm zurück, noch bevor die Klingel betätigt worden war.
»Bitte, warten Sie noch einen Augenblick, Komtesse. Ich möchte Ihnen noch etwas sagen.«
Scharper zog Verena zu einem Sessel.
Verena gehorchte nur widerwillig.
Scharper selbst setzte sich nicht, sondern ging ein paarmal unruhig im Zimmer auf und ab und blieb dann am Fenster stehen.
»Komtesse Verena, ich habe eine schwere Aufgabe übernommen, das heißt, ich bin nicht gefragt worden, ob ich es tun wollte. Dieser Tag wird einer der schwersten in Ihrem Leben werden.«
Verena hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Ihre Gedanken weilten noch immer bei der Mutter.
»Sagen Sie, Doktor Scharper, wissen Sie, was meine Mutter meinte, als sie vorhin sagte, ich sollte es meinem Vater nicht nachtragen? Er hätte wohl keinen anderen Ausweg mehr gesehen?«
Sie sann selbst noch einmal über diese Worte nach.
»Und warum hat sie gesagt, ich gehe jetzt zu Papa.«
Plötzlich, als habe die Wiederholung dieser Worte die Erleuchtung über sie gebracht, fuhr sie hoch aus ihrem Sessel. Sie lief auf das Fenster zu und faßte Dr. Scharper bei dem Revers seines dunklen Anzuges.
»Sagen Sie mir, was ist mit meinem Vater geschehen? Sie wissen es, Doktor! Wo ist mein Vater?«
Ihre Augen hingen bang an seinen Lippen.
»So sagen Sie doch schon etwas, Doktor!«
Dr. Scharper legte seine Hände über die Verenas und umspannte sie mit festem Druck.
»Komtesse, seien Sie stark. Ich muß Ihnen jetzt sehr weh tun. Aber einmal müssen Sie es doch erfahren. Der Graf von Hugendorff hat heute morgen seinem Leben ein Ende bereitet.«
Scharper fühlte, daß Verena wie unter einem heftigen Schlag zusammenzuckte, der Griff ihrer Hände wurde locker. Sie befreite sich aus seinen Händen. Ein trockenes Schluchzen würgte ihre Kehle. Sie schien Dr. Scharpers Anwesenheit vollkommen vergessen zu haben.
Verena schluchzte still in ihr Taschentuch, während Scharper mit seiner ruhigen Stimme auf sie einsprach.
Plötzlich hob sie den Kopf.
»Sie glauben doch nicht etwa, daß mein Vater etwas Unehrenhaftes getan hat?«
Scharper schüttelte überzeugt den Kopf.
»Der Graf war ein Ehrenmann, soweit ich ihn kannte. Vielleicht ist er in die Hand eines Betrügers geraten und hat viel Geld verloren?«
»Oh, wie furchtbar ist das alles!« stöhnte Verena.
*
Verena hockte in einem tiefen Sessel vor dem offenen Kaminfeuer, das Johann für sie angelegt hatte. Sie fror trotz der wärmenden Flammen. Unverwandt starrte sie in die rote Glut. Sie dachte nichts, konnte einfach nichts denken. Sie fühlte sich wie ausgehöhlt.
Verena legte die Hände über die Augen. Sie schmerzten von den ungezählten Tränen der vergangenen Nacht.
Verena änderte ihre Haltung auch nicht, als sie hörte, daß die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet wurde. Wer anders als Johann kam heute zu ihr? Und vor Johann brauchte sie sich nicht zu verstellen. Er litt mit ihr um den Verlust der geliebten Eltern.
Johann hüstelte verlegen.
»Es ist ein Besucher gekommen, der Sie gern sprechen möchte.«
Verena blickte gequält auf.
»Bitte, Johann, führen Sie den Besucher hierher. Aber weitere Besuche aus der Nachbarschaft möchte ich nicht empfangen.«
»Sehr wohl.«
Verena erhob sich, als der Baron das Zimmer betrat.
Clemens stockte unwillkürlich für den Bruchteil einer Sekunde. War das noch das hübsche, strahlende Persönchen, in das er sich vor wenigen Tagen verliebt hatte?
Ihr Blick war erloschen. Hart und schmal preßten sich die Lippen aufeinander und hatten einen müden Zug bekommen. Die Schultern waren leicht nach vorn gebeugt, als würde ihnen die Last des Kummers zu schwer.
Fürwahr, keine Frau, in die man sich Hals über Kopf verlieben konnte, stellte Clemens fest. Doch was macht es schon? Einmal wird dieses Gesicht wieder fröhlich aussehen, der Mund wird wieder lachen und die Augen strahlen. Dann wird Verena wieder schön, beneidenswert schön sein.
Vorläufig hieß es natürlich, geschickt seine Gedanken hinter einer traurigen Maske zu verbergen und tiefstes Mitempfinden vorzutäuschen.
Mit einer impulsiven Bewegung ergriff er Verenas Hände und zog sie an die Lippen.
»Komtesse, ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr mich die traurige Nachricht erschüttert hat. Ich versichere Ihnen mein aufrichtiges Beileid.«
»Ich danke Ihnen.«
Verenas Stimme klang sehr unsicher, als zwinge sie die aufsteigenden Tränen nieder.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Baron.«
Einen Augenblick lag ein drückendes Schweigen im Zimmer. Verena tupfte das Spitzentuch verstohlen an die Augen und räusperte sich verlegen.
Clemens sah nachdenklich auf die Spitzen seiner schwarzen Schuhe.
Plötzlich verneigte er sich leicht vor.
»Verena, bitte, verzeih, wenn ich jetzt davon beginne, doch es liegt mir so sehr auf der Seele. Wird sich durch dieses Unglück etwas zwischen uns ändern? Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du dich von mir abwenden würdest!«
Verena sah ihn erstaunt an.
»Bitte, sprich jetzt nicht mehr davon, Clemens. Du weißt, daß ich dich sehr lieb habe. Ich bin so dankbar, daß ich in meiner Not noch einen Menschen auf dieser Welt habe, der zu mir gehört.«
Clemens frohlockte. Wenn es so stand, brauchte er sich keine Sorgen um seine Zukunft zu machen. Er wußte, Verena war nicht leicht veranlagt, sie würde zu ihrer Liebe stehen, selbst wenn sie erfuhr, daß Bernhausen nicht mehr zu retten war.
Vielleicht konnte man sogar aus Hugendorff Mittel flüssig machen, um sein Gut noch zu halten?
Clemens unterbrach sich. Das zu bedenken hatte es noch gute Weile.
*
Clemens von Bernhausen hatte nicht sehen können, wer in dem bescheidenen Auto saß, das ihm entgegenkam, als er soeben den Park verlassen hatte, doch die Baronin von Woltersheim hatte scharfe Augen und entdeckte, daß im Fond des eleganten Wagens ein junger Mann saß. Hatte es nicht beinahe so ausgesehen, als sei es Bernhausen? Und dann noch allein? Wie konnte er bei ihrer verwaisten Nichte einen Besuch machen?
Sie kräuselte die Oberlippe und setzte sich in Positur. Am liebsten hätte sie ihre Mißbilligung sofort laut werden lassen, doch ihre beiden Töchter waren zugegen und wohl nicht geeignet, solch eine Neuigkeit zu hören.
Arme Verena! dachte Johann, als er der mageren Baronin aus dem Mantel half.
Roberta Baronin von Woltersheim war die Zwillingsschwester des verstorbenen Grafen und die Patentante Verenas. Sie würde aller Voraussicht nach jetzt auch die Vormundschaft übernehmen.
Ob Verena ahnte, daß die Baronin kam? Vielleicht. Sie war ja die einzige Verwandte, noch dazu bewohnte sie ein Nachbargut.
Warum sie nur die beiden Töchter mitgebracht hatte? Auf diese albernen Gänse hätte man in Hugendorff gut und gern verzichten können.
»Bitte, Frau Baronin, möchten Sie sich einen Augenblick gedulden? Ich werde Sie Komtesse Verena melden.«
Die Baronin tupfte aufgeregt ihr Spitzentüchlein an die Nase. Es duftete so aufdringlich nach Parfüm, daß sich der Duft bald unangenehm bemerkbar machte.
»Das ist nicht nötig, Johann«, widersprach sie spitz. »Ich gehöre schließlich zur Familie. Außerdem werden wir noch einige Zeit hierbleiben, um alles zu regeln, bevor wir endgültig zurück nach Woltersheim gehen. Wo kann ich Komtesse Verena treffen?«
»Komtesse Verena war vorhin noch im Roten Salon!« gab Johann Auskunft.
Die Baronin winkte ihren beiden Zöglingen, die wie Lämmlein hinter ihr her liefen.
»Entsetzlich! Wie kann Verena sich nur während der Trauer in den Roten Salon setzen!« ereiferte sie sich.
»Sie kann ihn doch nicht schwarz streichen lassen«, meinte Geraldine und kicherte in ihr Taschentuch.
Ein vernichtender Blick traf sie aus den mütterlichen Augen.
»Ich bereue schon, euch mitgenommen zu haben«, sagte sie grimmig. »Ich dachte, ihr wäret inzwischen vollendete Damen geworden. Leider muß ich feststellen, daß ihr euch noch immer nicht benehmen könnt.«
Augenblicklich verstummte das Kichern. Wie gut, daß wir nicht zu Hause sind, dachte Geraldine erleichtert, sonst würde sie wieder eine endlose Strafpredigt vom Stapel lassen.
Der Rote Salon war leer, nur durch die angelehnte Flügeltür, die zum Saal führte, drang ein herzzerreißendes Schluchzen.
Die Baronin verzog spöttisch den Mund. Wie konnte man sich so gehenlassen! Die Komtesse schien ihre Erziehung vergessen zu haben!
»Setzt euch hierher!« befahl sie ihren Töchtern und wies auf eine Sesselgruppe.
Sie selbst ging mit hastigen Schritten zur Tür und öffnete sie. Doch angesichts der Särge, die in dem flackernden Licht der brennenden Kerzen zu großen Schatten wurden, vergaß sie ihre rügenden Worte. Sie schien sich plötzlich zu besinnen, daß dort in den Särgen ihr leiblicher Bruder und ihre Schwägerin lagen.
Verena hockte zwischen den beiden Särgen auf dem Teppich. Sie hatte den Kopf auf den Sarg der Mutter gelegt und weinte, weil sie sich hier ganz allein glaubte.
Erst als Roberta sich durch ein Räuspern bemerkbar machte, hob sie erschrocken den Kopf.
»Du bist es, Tante Roberta?«
Obgleich Verena die Tante sonst nicht besonders schätzte, weil sie kalt und herzlos war, freute sie sich nun doch, daß sie zu ihr gekommen war
»Mein liebes Kind, es ist sehr traurig, daß wir uns aus Anlaß des Todes deiner Eltern wiedersehen.«
Roberta schnurrte die Worte herunter, als habe sie sie vorher auswendig gelernt. Nicht eine Spur von Mitgefühl war daraus zu entnehmen.
Verena war einen Augenblick lang versucht gewesen, die Tante zu umarmen, um sich von ihr trösten zu lassen. Bei diesen Worten jedoch erstickte die aufkeimende Sympathie für die Tante.
»Ja, es ist sehr traurig«, sagte sie nur und versuchte, die erneut aufsteigenden Tränen hinunterzuschlucken.
»Wir wollen uns nebenan in den Salon setzen, Verena. Dies hier ist keine Umgebung für mich.«
Verena taten die Worte weh, doch sie wagte den bestimmten Worten der Tante nicht zu widersprechen.
Geraldine und Gertraude blickten der Kusine mit großen, neugierigen Augen entgegen, als wollten sie deren Gedanken und Gefühle erforschen
Verena bemühte sich, die beiden jungen Mädchen freundlich zu begrüßen.
»Liebe Verena, es wird dir gewiß nicht angenehm sein, wenn wir für einige Zeit hier in Hugendorff bleiben. Ich hoffe, du siehst ein, welches Opfer ich dir damit bringe, wenn ich meinen eigenen Haushalt im Stich lasse, um hier bei dir zu wohnen. Aber schließlich geht es nicht an, daß du hier allein bleibst.«
Verena hatte gar nicht recht beachtet, was die Tante gesagt hatte und den versteckten Vorwurf nicht herausgehört. Es berührte sie alles so wenig, was in Zukunft aus ihr wurde. Noch war ihr Herz viel zu wund, als daß sie an das Weiterleben auf Hugendorff gedacht hätte.
»Du bist Vaters Schwester und auf Hugendorff jederzeit willkommen gewesen, Tante Roberta. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern«, erwiderte sie.
»Das will ich meinen. Übrigens, wer war der junge Mann, der dich heute morgen besucht hat?«
Obgleich die Baronin Clemens von Bernhausen erkannt hatte, stellte sie sich dumm. Sie wollte sehen, ob Verena ihr die Wahrheit verschweigen würde.
Mit Genugtuung bemerkte sie, daß sich Verenas Wangen ein wenig röteten.
»Baron von Bernhausen war hier, um seine Teilnahme auszusprechen und Abschied von den Eltern zu nehmen. Leider kam er zu spät.«
Roberta ärgerte sich, weil Verena so gar nicht einsah, worauf sie hinaus wollte
»Ich hoffe, ihr wart nicht allein hier?« wurde sie nun deutlicher.
Verena stieg das Blut in den Kopf. Welche ungeheure Beleidigung lag in den Worten der Tante!
»Ich denke, die besonderen Umstände lassen keine Verdächtigungen aufkommen«, entgegnete sie scharf.
»Also wart ihr allein!« trumpfte Roberta auf. »Unerhört!« Ihre Stimme schwoll an.
»Liebe Tante, dies ist wohl nicht der rechte Ort für solch eine Auseinandersetzung. Bedenke, daß meine Eltern im Nebenraum liegen.«
Die letzten Worte gingen in einem verhaltenen Schluchzen unter.
»Bitte, nimm dich ein wenig zusammen, Verena«, rügte Roberta. »Wohin sollte es führen, wenn wir uns alle gehenlassen wollten. Im übrigen darf ich dich wohl sehr darum bitten, mir gegenüber diesen ungezogenen Ton zu unterlassen. Vergiß nicht, wer ich bin! Ich als deine Patentante werde die Vormundschaft über dich bekommen, und du mußt dir darüber klar sein, daß du mir zu gehorchen hast! Ich werde keine Ungezogenheiten und keinen Widerspruch dulden! Ich bin das von meinen Kinder nicht gewohnt!«
Das war deutlich genug!
Verena war über den Ton der Tante so entsetzt, daß sie nur leise sagte:
»Ich werde dir natürlich gehorchen, Tante Roberta, und ich wollte dich vorhin nicht kränken.«
Roberta fühlte, daß sie die Herrschaft bereits an sich gerissen hatte, und das machte sie noch stärker.
»Das ist recht, mein Kind. Und nun wird es gut sein, wenn wir eine Erfrischung zu uns nehmen. Wir haben immerhin schon die Fahrt von Woltersheim hierher gemacht und hier manche Aufregung gehabt.«
Verena blickte die Tante schuldbewußt an.
»Verzeih, Tante, ich habe in der Aufregung meine Pflichten arg vernachlässigt. Es wird gewiß nicht wieder vorkommen.«
Verena wollte zur Klingel greifen.
Doch noch bevor sie das kleine Glöckchen zur Hand genommen hatte, hatte Roberta es schon betätigt.
Verena ließ sie stillschweigend gewähren.
Als das junge Mädchen eintrat, das bisher die Zofe der Gräfin gewesen war, wollte Verena einen Auftrag erteilen, doch Roberta kam ihr abermals zuvor.
»Bringen Sie Tee und einen kalten Imbiß«, ordnete sie an.
Das Mädchen blieb unschlüssig stehen.
Verena war so sprachlos über diese erneute Eigenmächtigkeit der Tante, daß sie dem Mädchen nur zunicken konnte.
»Die Dienstboten scheinen hier reichlich störrisch zu sein, Verena. Es wird gewiß Zeit, daß sie einer eingehenden Prüfung unterzogen werden. Ich werde es auf keinen Fall dulden, daß meine Anordnungen nicht sofort ausgeführt werden!«
Verena preßte die Lippen fest aufeinander, um kein unbedachtes Wort entschlüpfen zu lassen. Sie begann sich über die Tante zu ärgern.
»Verzeih, Tante Roberta, unsere Angestellten sind es nicht gewohnt, von Besuchern derartige Aufträge entgegenzunehmen«, klärte sie Roberta möglichst ruhig auf.
»Ich hoffe, sie werden bald eingesehen haben, daß ich hier nicht zu Besuch bin, sondern das Gut verwalte! Aber ich werde kurzen Prozeß mit diesen Leuten machen, wenn sie nicht parieren! Deine Mutter scheint sie zu zart angefaßt zu haben.«
Plötzlich schien ihr etwas sehr Wichtiges einzufallen. Ohne Luft zu holen, fuhr sie fort:
»Sag mal, Verena, was ich dich schon gleich zu Anfang gefragt haben wollte, wie sind deine Eltern eigentlich zu Tode gekommen? Du schriebst in der Anzeige, ein tragisches Geschick hätte sie dir genommen.«
Verena meinte, das Herz müßte ihr bei diesen rohen Worten zerspringen. Man sollte es kaum glauben, daß der Vater und diese Frau Geschwister waren! Wie brachte Tante Roberta es nur fertig, so kalt und sachlich über den Tod der geliebten Eltern zu reden?
»Ich denke, es ist schon ein tragisches Geschick, wenn einem Vater und Mutter an einem Tag genommen werden«, antwortete Verena bitter. Sie erhob sich und ging zum Fenster. Sie konnte den Anblick der hageren gefühlskalten Tante nicht länger ertragen.
»Du willst mir doch nicht etwa einreden, deine Eltern seien eines natürlichen Todes gestorben? Warum hast du die Särge schließen lassen, noch bevor ich von meinem Bruder Abschied genommen hatte? Schließlich habe ich wohl ein Recht darauf, zu erfahren, wie mein Bruder gestorben ist.«
Roberta konnte nicht sehen, daß Verena vor Schmerz die Zähne in die Unterlippe preßte. Sie drehte ihr den Rücken zu und blickte auf die Regentropfen, die immer noch unaufhörlich ans Fenster schlugen.
Nein, sie würde ihr Geheimnis nicht preisgeben! Sie würde dieser Frau nicht sagen, daß der Vater seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte!
»Mein Vater hat einen Herzschlag erlitten, und meiner Mutter ist vor Kummer und Gram darüber das Herz stehengeblieben«, sagte sie leise.
»Deine Mutter war schon immer ein wenig überspannt«, spottete die Baronin kalt.
Verena wandte sich mit einem Ruck um.
»Ich verbiete dir, in diesem Ton von meiner toten Mutter zu sprechen. Sie und der Vater waren für mich das Liebste hier auf Erden. Ich werde nicht dulden, daß auch nur einer, selbst du nicht, ein Wort über sie sagt!«
Verena konnte ihren Schmerz nicht mehr bezwingen. Die Tränen machten sich endgültig Luft, und weil sie befürchtete, daß die Tante noch häßlicher werden könnte, lief sie zurück in den Saal und verschloß von innen die Tür.
Aufschluchzend sank sie in die Knie. Sie legte ihre Arme auf den Sarg der Mutter und bettete den Kopf darauf.
»Warum habt ihr mich nicht mitgenommen. Ach, könnte ich doch so friedlich hier liegen wie ihr! Nichts mehr hören! Nichts mehr sehen!« schluchzte sie.
*
Als Verena den Roten Salon verlassen hatte, wandte sich die Baronin verärgert an ihre beiden Töchter.
»Sitzt nicht so da und haltet Maulaffen feil. Euch steht die Dummheit im Gesicht geschrieben! Kommt, wir werden uns einen anderen Raum aussuchen. Hier würde mir das Frühstück nur sehr schlecht bekommen.« Sie erhob sich und ging hinaus auf den Flur.
In einer anderen Umgebung und angesichts der herrlichen Leckerbissen, die man auf Woltersheim nur zu sehen bekam, wenn erlauchter Besuch erschien, hatte die Baronin ihren Ärger mit Verena bald vergessen und ließ es sich vortrefflich schmecken.
Ungehalten blickte sie zur Tür, als es klopfte.
»Hier scheint man nirgendwo zur Ruhe zu kommen«, sagte sie ärgerlich zu ihren Töchtern.
Johann trat ein.
»Verzeihung, ich suche Komtesse Verena.«
»Hier ist sie nicht, das sehen Sie ja! Ich wünsche nicht dauernd gestört zu werden!« fuhr die Baronin ihn an.
»Aber der Besucher hatte es doch sehr eilig«, versuchte Johann sich zu entschuldigen.
»Besucher?«
Die Baronin zog die Augenbrauen hoch. Sollte da etwa schon wieder ein Verehrer ihrer Nichte auftauchen?
Sie würde ihn sich schon kaufen!
»Führen Sie den Besucher ins Nebenzimmer, Johann. Ich werde mit ihm sprechen. Meine Nichte ist nicht empfangsfähig«, befahl sie.
Johann war diese Wendung sichtlich peinlich. Er schätzte die Baronin nicht sonderlich. Durfte er ihr einen Besucher zuführen, der die Komtesse zu sprechen wünschte? Wenn er doch Verena nur hätte finden können!
Da er Verena aber im Augenblick nicht erreichen konnte, blieb ihm nichts weiter übrig, als den Auftrag der Baronin auszuführen, sie war immerhin Gast des Hauses.
Die Baronin rauschte ins Nebenzimmer. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und ein kleiner, dicker und unsympathischer Mann schlenderte herein.
Der Besucher verneigte sich.
»Hirsch, Adam Hirsch«, stellte er sich vor.
Die Baronin hielt es nicht für nötig, ihren Namen zu sagen. Aber Johann hatte ihn wohl schon aufgeklärt über ihre Person, denn er schien Bescheid zu wissen.
Mit einer herablassenden Bewegung deutete sie auf einen Sessel.
Adam Hirsch schien nervös. Seine Hände tasteten unruhig über die schweinslederne Aktentasche.
»Mein Besuch galt eigentlich dem Grafen von Hugendorff. Ich hatte eine geschäftliche Angelegenheit mit ihm zu besprechen.«
Die Baronin zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Was mochte das sein?
»Ich hörte von dem Diener, daß Graf Hugendorff gestern plötzlich verstorben ist.«
»Ich bin die Schwester des verstorbenen Grafen. Sie können mit mir verhandeln«, gab die Baronin reserviert Auskunft.
Hirsch hüstelte verlegen. Sollte er der Baronin sagen, weshalb er kam? Er hätte lieber mit der Komtesse gesprochen.
»Nun?« drängte die Baronin, die ihre Neugier befriedigen wollte.
Hirsch kramte die fälligen Wechsel aus seiner Aktentasche.
»Diese Wechsel sind überfällig. Ich gab dem Grafen eine letzte Frist bis heute morgen.«
Die Baronin zog abermals die Augenbrauen hoch. Ihr Bruder hatte Wechsel unterschrieben? Davon hatte sie keine Ahnung gehabt.
»Wie hoch ist die Summe dieser Papiere? Sie werden selbstverständlich eingelöst«, sagte sie selbstsicher.
Hirsch sah sie ungläubig an. Die Baronin schien über die finanzielle Lage ihres Bruders nicht unterrichtet zu sein, sonst hätte sie nicht solche Versprechungen machen können.
»Es sind insgesamt dreihundertfünfzigtausend Mark. Außerdem laufen noch Wechsel
über weitere vierhunderttausend Mark.«
Die Baronin verfärbte sich. Das war ja eine ungeheure Summe. Ihre Hände spannten sich fest um die Lehnen des Sessels. Ratlos blickte sie den Agenten an.
Hirsch hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Er wußte nur zu gut, auch die Baronin von Woltersheim würde nicht zahlen können.
»Ich glaube, ich gehe nicht fehl, wenn ich annehme, daß Sie das nötige Geld nicht zur Verfügung haben. Tja, es tut mir leid, ich kann nicht länger auf die Einlösung der Wechsel warten. Ich werde selbstverständlich abwarten, bis die Beerdigung vorüber ist, doch dann muß ich die Versteigerung des Gutes verlangen.«
»Das... Es ist doch... Nein, das darf nicht sein!« stammelte die Baronin erschrocken. Sie war vollkommen aus der Fassung geraten.
Hirsch erhob sich.
»Es bleibt mir leider keine andere Wahl. Ich kann nicht auf das Geld verzichten. Gestatten Sie, daß ich mich empfehle.«
Die Baronin war nicht in der Lage, auch nur ein Wort herauszubringen. Minutenlang starrte sie auf die Tür, die sich hinter Adam Hirsch geschlossen hatte.
»Allmächtiger!« stöhnte sie und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Das war ein Reinfall!«
Verena hatte sich, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, auf ihre Zimmer zurückgezogen. Sie mochte nicht mehr mit der Tante zusammentreffen. Diese häßlichen Worte würde sie ihr nie vergessen können! Wie konnte nur eine Frau so herzlos, so brutal sein wie Tante Roberta? Wie liebevoll und sanftmütig war doch ihre Mutter stets gewesen! Nie hatte sie auch nur ein böses Wort von ihr gehört. Selbst der Vater war immer gut und lieb zu ihr gewesen.
»Verena?«
Es klopfte an der Tür.
»Verena?« rief es noch einmal, und das Klopfen wurde stärker.
Was mag Geraldine nur wollen? dachte sie und seufzte.
Verena erhob sich, ging zur Tür und schloß auf.
»Verena, du sollst sofort zu Mama kommen. Es ist etwas passiert. Sie will mit dir sprechen. Sie ist sehr böse.«
»Ja, es war jemand da, der dich sprechen wollte, seitdem ist sie so verärgert«, fügte Gertraude wichtig hinzu.
Je länger die Baronin auf die Nichte warten mußte, desto größer wurde ihr Zorn auf das Mädchen.
»Na, endlich kommst du! Es ist unerhört, mich so lange warten zu lassen«, fauchte sie böse, als Verena eintrat. »Geht hinaus, ihr braucht nicht alles anzuhören. Es taugt nicht für eure Ohren«, fuhr sie ihre Töchter an.
Geraldine und Gertraude fügten sich stumm. Sie wußten, daß sie am Schlüsselloch jedes Wort der Mutter verstehen konnten, denn wenn sie wütend war wie jetzt, dämpfte sie niemals ihre Stimme.
Verena versuchte ruhig zu bleiben.
»Du wünschtest mich zu sprechen, Tante Roberta?« fragte sie, als sie die Tür hinter den beiden Mädchen geschlossen hatte.
»Jawohl, ich wünsche dich zu sprechen, denn es ist vieles hier auf Hugendorff geschehen, seit ich es verlassen mußte. Leider hat es deine Mutter verstanden, meinen Bruder so zu beeinflussen, daß er zu mir, seiner leiblichen Schwester, kein Vertrauen mehr hatte, so daß ich erst durch fremde Leute erfahren mußte, daß Hugendorff über und über verschuldet ist.«
»Das ist doch nicht möglich!« stammelte Verena fassungslos.
»Das habe ich auch gedacht. Es kann doch nicht möglich sein, daß man einen Besitz wie das Gut Hugendorff verschleudern kann. Aber ich habe deinen Vater ja stets vor deiner Mutter gewarnt. Sie war eine falsche Schlange.
Sie hatte es nur auf sein Geld abgesehen, und sie hat es fertiggebracht, ihn zu einem Bettler und zu einem Selbstmörder zu machen!«
Verena sprang auf.
»Halt ein! Du versündigst dich an meiner toten Mutter! Es ist nicht so gewesen!«
»Es ist so gewesen! Dort drüben die beiden Särge sind Beweise genug. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich dir das Märchen von dem Herzschlag glaube? Deinem Vater blieb keine andere Wahl mehr, nachdem dieser Hirsch ihm die Pistole auf die Brust gesetzt hat. Graf von Hugendorff ist ein Selbstmörder! Deine Mutter hat ihn in den Tod getrieben!«
Wie eine Rachegöttin stand Roberta vor dem jungen Mädchen und schrie ihr die Schmähworte und die furchtbaren Anklagen ins Gesicht.
Verena preßte die Hände auf die Ohren, um nicht mehr hören zu müssen.
Die Baronin riß ihr die Hände herunter.
»Du kannst dich vor meiner Anklage nicht verkriechen. Ich werde dir immer und immer wieder vorhalten, was deine Eltern getan haben! Doch höre.« Sie drückte Verena in den Sessel zurück. »In zwei Tagen wird Hugendorff unter den Hammer kommen.«
Es freute sie ungemein, daß Verena abermals unter ihren Worten zusammenzuckte.
»Du wirst nach der Beerdigung mit nach Woltersheim gehen. Dein Gnadenbrot sollst du haben. Allerdings wirst du es dir verdienen müssen, denn wir haben nichts zu verschenken. Ich werde sehen, daß ich dich möglichst bald verheirate, damit du uns nicht zu lange zur Last fällst.«
Sie richtete sich noch gerader auf, als sie so schon saß.
»So, nun kannst du gehen«, sagte sie ungerührt. Nicht einen Augenblick kam ihr zum Bewußtsein, wie niederträchtig sie gehandelt hatte. Sie hielt es für recht so, daß sie ihren Unmut und ihre grenzenlose Enttäuschung an dem jungen Mädchen gerächt hatte.
*
Verena ritt einen scharfen Galopp. Sie achtete nicht auf den Regen, der ihr ins Gesicht peitschte und ihre Kleider durchnäßte.
Clemens muß helfen! Clemens muß helfen! redete sie sich unterwegs immer wieder vor. Sie war so voller Zuversicht, daß sie es gar nicht abwarten konnte, bis sie endlich das Herrenhaus von Bernhausen erblickte.
Und dann saß sie dem Baron gegenüber.
Der Diener Alfons servierte Kognak, und Verena fühlte, daß das Getränk sie wohlig durchrieselte.
Als Alfons den Raum wieder verlassen hatte, konnte Clemens seine innere Unruhe nicht mehr verbergen. Er ahnte, daß etwas geschehen sein mußte, das Verena aus der Fassung gebracht hatte, etwas, das sie bewog, bei diesem abscheulichen Wetter hierher zu reiten, um es ihm anzuvertrauen.
»Verena, du hast Kummer? Du bist zu mir gekommen, um meine Hilfe und meinen Rat zu erbitten?« forschte er.
Verena atmete erleichtert auf. Sie war Clemens sehr dankbar, daß er ihr einen Anfang gegeben hatte.
»Ja, Clemens. Ich bin zu dir gekommen, um dich um Hilfe zu bitten. Ich weiß mir keinen Rat mehr. Es kam alles so plötzlich, so unvorbereitet. Und zu wem sollte ich sonst gehen als zu dir?«
Eigentlich rührend, dieses Vertrauen, dachte Clemens und kam sich nicht sehr edel in seiner Rolle vor.
Verena blickte einen Moment auf ihre schlanken weißen Hände. Es fiel ihr so schwer, ihr Geständnis abzulegen. Doch dann gab sie sich einen Ruck. Es mußte ja sein! In Kürze hätte es Clemens doch erfahren. Warum also sollte sie es ihm nicht lieber selbst sagen?
»Hugendorff wird versteigert!«
Schnell und abgehackt kamen die wenigen Worte über ihre Lippen. Verenas Augen blickten scheu bittend und forschend zugleich auf den Mann, der bei ihren Worten die Farbe gewechselt hatte. Sie sah, wie es in seinem Gesicht arbeitete, sah, daß er versuchte, jetzt die Fassung nicht zu verlieren, aber es gelang ihm nicht, seine Gedanken zu verbergen. Seine Augen sprachen eine allzu deutliche Sprache.
»Clemens?«
Erschrocken und ängstlich rief sie leise seinen Namen, als er so lange schweigsam blieb.
Clemens kräuselte die Lippen, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
»Tja, meine liebe Verena, wenn die Verhältnisse so liegen, ist es wohl besser, wir spielen mit offenen Karten.«
Ein spöttisches Lächeln lag um seinen Mund.
»Ich kann es mir nicht leisten, eine arme Frau zu heiraten, denn ich brauche Geld, um Bernhausen zu retten. Es freut mich für dich, daß wir unsere Verlobung noch nicht veröffentlicht haben. Es wäre immerhin peinlich, wenn sie gelöst werden müßte. So aber bleibt es uns überlassen, jetzt
vernünftig genug zu sein.«
Ungläubig und fassungslos sah Verena zu Clemens hin, der es vermied, sie anzusehen.
»Clemens!« Zitternd, hilflos und flehend rang sich sein Name von ihren Lippen. »Ist das deine Liebe, Clemens?«
Bernhausen zuckte gleichmäßig die Schultern.
»Vielleicht habe ich dich geliebt, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Du bist sehr schön, das weißt du selbst, und man braucht wirklich nicht viel Selbstüberwindung, um nett zu dir zu sein. Außerdem war deine Zuneigung so offensichtlich, daß ich ein Esel gewesen wäre, wäre ich an die vorübergegangen. Immerhin warst du die einzige Erbin von Hugendorff!«
Verena war bei diesen Worten in sich zusammengesunken. Flammendes Rot schlug ihr ins Gesicht. Wie demütigend, wie schmähend waren seine Worte!
Und diesen Mann hatte sie mit heißem Herzen geliebt.
Nein, sie wollte ihm kein Schauspiel geben!
Er sollte sich nicht auch noch an ihrem Schmerz erfreuen! Verstohlen trocknete sie die Tränen. Sie erhob sich und ging hinaus, ohne Clemens noch eines Wortes zu würdigen.
*
Die Beerdigung war vorüber.
Für wenige Minuten hatte Verena am Morgen aufgeatmet, als kurz vor der Trauerfeier für die Eltern Onkel Michael angekommen war. Er hatte in sehr herzlichen Worten versucht, Verena Trost zuzusprechen, doch schon war Tante Roberta dazwischengefahren und hatte Onkel Michael ob seiner Sentimentalität gerügt.
Und Onkel Michael hatte geschwiegen!
Verena fuhr herum, als sich die Tür zu ihrem Salon öffnete. Sollte sie so in ihre Gedanken versunken gewesen sein, daß sie das Klopfen überhört hatte.
»Ach, hier steckst du also, Verena!« schnaufte Tante Roberta. »Ich muß schon sagen, Verena, dein Benehmen mir gegenüber ist einfach rücksichtslos! Unten sitzen noch Trauergäste, und du ziehst dich einfach zurück, weil du keine Lust hast, sie zu unterhalten. Ob ich mich wohl fühle, ist dir ganz gleich! Mir bürdest du einfach die ganze Arbeit auf! Unerhört!«
Sie ließ sich in einen Sessel fallen, um sich auszuruhen.
»Verzeih, Tante, ich glaubte, ich wurde unten nicht vermißt. Ich wollte die letzte Stunde gern benutzen, um Abschied von der Heimat zu nehmen. Vielleicht werde ich ja niemals wieder hierher kommen. Und wenn, dann darf ich nur unten in den Empfangsräumen sein.«
Ärgerlich fuhr die Baronin dazwischen.
»Nun hör sich einer diese wehleidigen Worte an! Du tust ja gerade so, als ob du in eine einsame Kate ziehen müßtest. Schließlich ist Woltersheim ein ansehnlicher Besitz und bestimmt mehr wert als dieses heruntergewirtschaftete Hugendorff.«
»Tante Roberta, bitte, sprich nicht so von Hugendorff! Ich bin dir ja sehr dankbar dafür, daß ich zu euch nach Woltersheim kommen darf, aber versteh’ doch, hier bin ich aufgewachsen! Hier haben meine Eltern und Großeltern gewohnt und alle die Hugendorffs vor ihnen!«
»Da hätte ich wohl mehr Grund, Theater zu machen. Vergiß bitte nicht, daß ich auch eine geborene Hugendorff bin! Mir wurde die Heimat damals von deiner Mutter genommen!«
Gehässig und boshaft sagte sie es, weil sie wußte, daß es Verena traf.
»Aber Tante Roberta! Mama war so lieb und gut. Ich kann doch nicht glauben, daß sie dich aus deiner Heimat vertrieben hat.«
Die Baronin erhob sich, um sich nach ihren beiden Töchtern umzusehen. Sie war stets in Unruhe und Sorge, wenn sie Geraldine und Gertraude allein wußte. Obgleich die beiden Mädchen nur ein oder zwei Jahre jünger waren als Verena, waren sie noch sehr albern und unfertig. Auch darüber ärgerte sich die Baronin nicht wenig, und insgeheim hatte sie sich schon oft gewünscht, daß wenigstens eine ihrer beiden Töchter so werden möchte wie Verena.
Noch bevor Roberta die Tür zu Verenas Salon erreicht hatte, ertönte plötzlich vom Kamin her ein eigenartig jaulender Ton.
Fox, ein kleiner, kraushaariger Terrier, hatte seinen Schlaf beendet. Er dehnte und streckte sich und lief dann zu Verena. Sein Kopf strich zärtlich an ihrer Wade vorbei, als wollte er tröstend sagen: Mich hast du doch auch noch. So ganz allein bist du doch nicht.
Verena bückte sich und kraulte ihn.
Vielleicht hätte sie es in diesem Augenblick besser unterlassen. Kaum hatte Roberta das gesehen, kam sie auch wieder zurück.
»Natürlich geht dieses abscheuliche Tier nicht mit nach Woltersheim!« zischte sie wütend. »Ich habe keine Lust, mich über diese Kreatur zu ärgern, merke dir das!«
Dann rauschte sie endgültig hinaus.
Verena blickte ihr verständnislos nach. Seufzend zog sie Fox zu sich auf den Schoß.
»Nun muß ich von dir auch noch Abschied nehmen, Fox«, klagte sie leise und streichelte dabei das lockige Fell des Hundes.
Fox schien zu fühlen, daß seine Herrin sehr traurig war. Er versuchte immer wieder, ihre Hände zu lecken.
»Was fang ich nur mit dir an, du kleiner Kerl? Ob Johann dich behalten kann?«
Verena läutete.
»Johann, ich darf Fox nicht mit nach Woltersheim nehmen«, gestand sie unglücklich. »Was soll nur aus ihm werden? Wissen Sie Rat?«
Johann schüttelte den Kopf. Die Baronin war doch ein Biest!
»Wenn Sie mir den Hund anvertrauen würden, Komtesse«, sagte er dann, »er würde bei
mir bestimmt in guten Händen sein.«
»Würden Sie das wirklich tun, Johann? Es wäre für mich sehr beruhigend, wenn ich wüßte, daß Fox bei Ihnen ist. Er war das letzte Geschenk meines Vaters«, fügte sie traurig hinzu.
»Wir alle haben Fox sehr gern«, beteuerte Johann. »Und vielleicht bietet sich später doch noch eine Gelegenheit, daß Sie ihn wieder zu sich nehmen können.«
»Ich danke Ihnen, Johann. Gott vergelte Ihnen Ihre Treue. Ich habe nichts, womit ich Sie belohnen könnte.« Sie streckte dem alten Diener die Hand hin. »Leben Sie wohl, Johann.«
Johann faßte ergriffen nach der zarten Hand der Komtesse. Tränen standen ihm in den Augen.
»Nehmen Sie meine besten Wünsche mit auf Ihren schweren Weg, Komtesse.«
Johann hätte gern noch mehr gesagt, doch seine Stimme wurde unsicher und zitterte so sehr, daß er sich nur noch einmal verneigte und dann schnell hinausging.
*
Monate waren inzwischen ins Land gezogen.
Freudlos und liebeleer verlief für Komtesse Verena das Leben auf Woltersheim. Roberta wußte jede Minute des Tages mit einer Arbeit auszufüllen. Sie sorgte stets dafür, daß Verena nicht unbeschäftigt blieb.
Der Weg nach Hugendorff war weit, und sie getraute sich nicht, den Onkel oder die Tante um den Wagen zu bitten, weil sie wußte, daß sie ihn nicht bekommen würde. Außerdem wagte sie nicht, Hugendorff zu betreten, ohne die Erlaubnis des neuen Besitzers zu haben.
Seit Wochen schon ging das Gerücht um, Hugendorff hätte einen Käufer gefunden, aber er ließ sich nirgends blicken. Er hatte bisher noch keinen Besuch in der Nachbarschaft gemacht, und soweit die Baronin informiert war, auch noch niemanden zu sich auf das Schloß gebeten.
Er schien ein rechter Einsiedler zu sein.
Als man später am Frühstückstisch versammelt war, brachte Lore einen Brief herein, den der Postbote soeben abgegeben hatte.
Die Baronin nahm das Schreiben in Empfang und blickte neugierig auf den Absender.
»Von Ludwig!« sagte sie aufgeregt. »Ich würde mich sehr freuen, wenn er uns zu Weihnachten besuchen könnte«, wandte sie sich an ihren Mann.
Der Baron nickte nur. Er war nicht so sehr begeistert von diesem Besuch, denn er wußte, wenn Ludwig kam, gab es immer besonders viele Aufregungen.
Dagegen gebärdeten sich Geraldine und Gertraude wie wild vor lauter Freude. Der um einige Jahre ältere Bruder war für sie das Objekt ihrer schwärmerischen Anbetung.
Verena hielt sich sehr zurück. Sie wußte, daß ihr der Besuch des Vetters keine Veränderung bringen würde. Ludwig war oberflächlich und vergnügungssüchtig. Auch er würde sich beschweren, daß man ihretwegen nicht ausgelassener feiern konnte.
Roberta las den Brief im Murmelton, so daß niemand etwas verstehen konnte. Doch dann hob sie ihre Stimme plötzlich:
»… werde ich über Weihnachten Urlaub bekommen und bis zum vierten Januar bei Euch bleiben!« las sie laut und verständlich vor und blickte triumphierend
in die Runde. »Ludwig wird den Urlaub gewiß dringend nötig
haben«, fügte sie mitleidig hinzu. –
Aber der liebe Ludwig ließ noch auf sich warten. Entweder hatte er seinen Urlaub nicht pünktlich nehmen können, oder er hatte eine kurzweiligere Beschäftigung gefunden, die ihn noch aufhielt.
Doch eines Nachmittags, als man gerade den Tee einnahm, öffnete sich die Tür des Salons, und herein kam der vermißte Sohn des Hauses. Groß und schlaksig, sehr eingebildet und von sich selbst überzeugt, blieb er an der Tür stehen.
»Das ist eine Überraschung, nicht wahr?« fragte er und sah sich stolz um.
Geraldine und Gertraude hatten sich zuerst gefaßt. Mit einem fast einstimmigen »Ludwig!« sprangen sie auf und eilten auf den Bruder zu.
Die Gräfin hatte schon wieder einen Grund, mißbilligend den Kopf zu schütteln.
»Ihr werdet wohl nie wohlerzogene Damen werden«, seufzte sie.
Ludwig lachte.
»Heute ist ein Ausnahmetag, Mama. Da mußt du ihnen schon einmal was durchgehen lassen.«
Er küßte die beiden Schwestern mit gönnerhafter Miene auf die Stirn und befreite sich aus ihrer Umarmung.
Inzwischen hatte sich auch die Baronin erhoben, und Ludwig beeilte sich, seine Mutter zu begrüßen, natürlich sehr steif und sehr zeremoniell, so wie sie es liebte.
»Herzlich willkommen daheim«, sagte die Baronin theatralisch.
»Danke, Mama.«
Verena stand noch abseits.
Ludwig hatte sie in dem ersten Durcheinander der Begrüßung gar nicht bemerkt.
»Ach, wir haben ja noch Besuch. Guten Tag, liebe Kusine. Na, wie gefällt es dir auf Woltersheim? Mir scheint fast, du bist noch hübscher geworden«, sprudelte er in einem Atemzug heraus, und ohne eine Antwort von Verena abzuwarten, wandte Ludwig sich an seine Mutter: »Hat Hugendorff schon einen neuen Besitzer?«
»Ja, aber wir kennen ihn noch nicht. Er scheint ein ganz ungehobelter Geselle zu sein. Er hat noch nicht einen Besuch in der Nachbarschaft gemacht.«
»Das ist fürwahr schrecklich. Ihr müßt ja beinahe vor Neugier platzen«, erwiderte er spöttisch.
»Ludwig, du sprichst mit deiner Mutter!« mahnte die Baronin mit Nachdruck und bemühte sich, ein beleidigtes Gesicht zu machen.
»Schon gut, Mama. Es würde mich auch interessieren, wer Hugendorff bekommen hat. Aber reden wir von etwas anderem.«
Als Verena an diesem Abend ihr Stübchen unter dem Dach aufsuchte, war sie froh, den Blicken ihres Vetters endlich entronnen zu sein. Sie hatte zuerst nicht weiter darauf geachtet, daß Ludwig, während er mit seinen Eltern und Schwestern sprach, zuweilen seine Blicke auf ihr ruhen ließ, doch je weiter der Abend fortschritt, um so mehr beunruhigte es sie, denn das Benehmen des Vetters wurde immer auffälliger. Ob es die anderen wohl auch bemerkt haben? Dann würde es gewiß wieder eine Szene mit Tante Roberta geben.
Als Verena am nächsten Morgen den Frühstückstisch deckte, was ebenfalls zu ihren Aufgaben gehörte, kam Ludwig herein, der schon einen Ritt durch den Schnee hinter sich hatte.
»Ah, schon so früh am Morgen munter, schöne Kusine?« begrüßte er sie, und seine Blicke glitten bewundernd über ihre ebenmäßige Gestalt.
War es ein Wunder, daß er sich gestern gleich beim ersten Sehen in dieses herrliche Mädchen verliebt hatte?
Verena streckte ihm zurückhaltend die Hand entgegen und erwiderte seinen Gruß.
»Es wäre mir lieb, Ludwig, wenn du mich nicht dauernd so verspotten wolltest«, sagte sie ernst.
Ludwig machte das Spiel Spaß. Hier war doch mal eine, die ihm nicht gleich mit beiden Amen um den Hals fiel! Das reizte ihn besonders.
Die eine Hand in der Hosentasche vergraben, folgte er ihr um den Tisch herum und legte die andere auf ihre Schulter.
»Verena, so sieh mich doch einmal an. Kannst du denn nicht ein bißchen nett zu mir sein?«
Dabei beugte er seinen Kopf ein wenig zu ihr hinab, so daß sie seinen warmen Atem auf dem Haar spürte.
Unangenehm berührt wandte sie sich mit einer raschen Bewegung ab.
Da sich im gleichen Augenblick die Tür öffnete und die Baronin eintrat, gewahrte sie nur noch, wie Verena zur Seite wich. Machte sie nicht ein ganz schuldbewußtes Gesicht? Gewiß fühlte sie sich überrascht. Da stimmte doch etwas nicht! Die beiden jungen Leute hatten gerade nicht wie Vetter und Kusine zusammengestanden!
*
Während des nächsten Tages nahm Ludwig sich sehr zusammen. Er beachtete Verena kaum, und sie glaubte schon, sich seine Annäherungsversuche nur eingebildet zu haben.
Doch Ludwig war kalt berechnend. Er hatte längst eingesehen, daß Verena ihm freiwillig niemals angehören würde. Er mußte sie schon mit List und Tücke dazu zwingen. Und aus diesem Grund wollte er sie erst in Sicherheit wiegen. Sie durfte ihm nicht mehr mißtrauen.
Allerdings hatte er auch nicht allzulange Zeit, denn erstens war sein Urlaub nur knapp bemessen und zweitens war er nicht gewohnt, lange auf die Erfüllung seiner Wünsche zu warten.
Schon am nächsten Morgen eröffnete er nach dem Frühstück:
»Ich habe heute meinen Ritt bis nach dem Frühstück aufgehoben. Es macht doch keine Freude, allein durch die Felder zu reiten. Schade, daß Papa nicht mehr mithält.«
»So nimm doch uns mit«, bettelte Geraldine.
»Ach ja, Ludwig, können wir nicht mit dir ausreiten?« Gertraude legte ihm bittend die Hand auf den Arm.
»Ach, ihr beiden seid ja froh, wenn ihr ordentlich auf einem Stuhl sitzen könnt. Nein, ich habe keine Lust, auch noch Kindermädchen zu spielen. Bei euch muß ich dauernd Angst haben, ihr fallt aus dem Sattel.«
»Na, erlaube mal«, wandte Geraldine entrüstet ein. »Wir sind ja schließlich auch inzwischen erwachsen. Außerdem reiten wir
gar nicht so schlecht, wie du meinst.«
»Ich habe noch genug vom letztenmal«, lehnte Ludwig ab.
»Dann mußt du eben allein reiten.« Geraldine war beleidigt.
»Oh, ich muß nicht allein reiten, das heißt, wenn Verena so liebenswürdig sein will, mich zu begleiten?«
Ludwig wandte sich an seine Kusine, vermied aber geflissentlich, mit seinen Augen etwas von seinen Gedanken zu verraten.
»Ich möchte Geraldine und Gertraude nicht zuvorkommen«, entgegnete Verena.
»Du nimmst ihnen nichts weg, Verena.«
»Glaubst du, daß du mit mir weniger Last hättest als mit deinen Schwestern?« fragte sie, um ihn von seinem Vorsatz abzubringen.
»O ja, davon bin ich fest überzeugt. Ich sah dich während meines letzten Urlaubs im vergangenen Winter reiten. Ich war begeistert. Es sitzt selten eine Frau so gut im Sattel wie du, Verena.«
Verena begab sich hinauf auf ihr Zimmer. Unschlüssig stand sie vor dem schmalen Kleiderschrank und überlegte noch einmal, ob sie auch recht handelte.
Gewiß, die Eltern würden es ihr nicht verübeln, wenn sie eine Stunde mit Vetter und Kusinen ausritt. Sie hatte auch ganz im geheimen schon öfter einmal das Verlangen gehabt, sich ordentlich auszureiten, aber der Wunsch war nie laut geworden.
Doch trotz dieser geheimen Sehnsucht trieb sie heute morgen alles, hierzubleiben und nicht mit den anderen auszureiten.
Dennoch zog sie ihr Trauerkleid aus und stand wenig später im Reitanzug unten in der Halle bei den anderen.
Die Pferde waren bereits gesattelt und warteten ungeduldig draußen auf dem Hof auf ihre Reiter.
Ludwig half den Damen in die Sättel und bestieg dann sein Pferd. Er führte die Gruppe an, während Verena den Schluß bildete, damit sie die beiden Kusinen betreuen konnte.
Zuerst ging es im leichten Trab durch den Park, dann setzte Ludwig zum Galopp an.
Verena sah, daß die Kusinen nicht besonders gut im Sattel saßen, doch sie hielten durch.
Plötzlich brachte Ludwig sein Pferd zum Stehen.
»Wir wollen um die Wette reiten. Wer zuerst am Weidenbach ist, hat gewonnen.«
»Glaubst du, Geraldine und Gertraude werden durchhalten können?« fragte Verena ungläubig.
»Natürlich schaffen wir es«, verteidigte sich Geraldine.
Ludwig lachte.
»Jetzt dürft ihr einmal zeigen, wie gut ihr reiten könnt! Also los!«
Und wie der Blitz stob er mit seinem Pferd davon.
Geraldine und Gertraude ließen sich das nicht zweimal sagen.
Da packte auch Verena die Lust. Sie gab ihrem Pferd die Sporen und beugte sich weit nach vorn, um möglichst wenig Widerstand zu bieten. Nach kurzer Zeit zog sie schon an den beiden Kusinen vorbei, die ungefähr auf gleicher Höhe lagen, und auch der Abstand zwischen Ludwig und Verena verringerte sich zusehends.
Ludwig aber ließ sich nicht einholen. Sobald er merkte, daß Verena ihm auf den Fersen war, verschärfte er sein Tempo noch mehr. Als erster hatte er den Bach erreicht und sprang vom Pferd, doch nur Sekunden später stand auch Verena neben dem ihren. Sie war ein wenig außer Atem von dem scharfen Ritt. Sie streifte die Handschuhe ab, um die Locken wieder unter die Kappe zu schieben, die sich bei dem wilden Ritt selbständig gemacht hatten.
Diesen Augenblick nutzte Ludwig aus.
»Als Sieger steht mir ja wohl ein Kuß zu, Kusinchen, nicht wahr?«
Ehe Verena noch recht begriffen hatte, was geschehen war, hatte Ludwig sie umfaßt, bog ihren Oberkörper nach hinten und küßte sie auf den Mund.
»Oh, du bist gemein, Ludwig! Wie kannst du mich nur so überrumpeln! Laß mich sofort los!« herrschte sie ihn an, nachdem sie sich von dem ersten Schrecken erholt hatte.
Ludwig lachte höhnisch auf.
»Dafür bin ich nicht hierher geritten.«
Er versuchte, sie noch einmal zu küssen.
Verena bog den Kopf zur Seite und versuchte verzweifelt, sich aus seiner Umklammerung zu befreien.
Dieser Widerstand machte Ludwig nur noch wilder. Seine Hände preßten sich wie Schraubstöcke um Verenas Gelenke, so daß sie unwillkürlich vor Schmerzen aufschrie.
Der Reiter, der vor wenigen Sekunden den nahen Waldrand erreicht hatte, preßte die Lippen wütend aufeinander.
Das ging zu weit!
Er gab seinem Pferd die Sporen und sprang wenig später dicht neben Verena und Ludwig von seinem Pferd.
»Sofort lassen Sie von der Dame ab. Sie benehmen sich schlimmer als ein gemeiner Flegel.«
Wie ein Rachegott, groß und breit, stand der Fremde drohend vor Ludwig, der erschrocken von Verena abgelassen hatte.
Aber schon im nächsten Augenblick kam seine angeborene Frechheit wieder zum Durchbruch.
»Was geht Sie mein Tun an? Machen Sie, daß Sie weiterkommen!«
Der Fremde reckte sich, und seine hünenhafte Gestalt schien noch größer zu werden.
»Die Dame steht unter meinem Schutz«, sagte er drohend.
Ludwig hatte längst eingesehen, daß der andere ihm überlegen war, doch noch gab er nicht auf.
»Die Dame«, er betonte das Wort mit zweifelndem Nachdruck, »ist meine Geliebte und wird auf Ihren Schutz gern verzichten«, sagte er gehässig, wobei er mit Genugtuung feststellte, daß Verena das Blut ins Gesicht schoß.
Schon zweifelte der andere, ob er sich zu Recht eingemischt hatte. War diese junge Dame wirklich die Geliebte dieses unangenehmen Zeitgenossen, war ihr seine Einmischung gewiß ebenfalls unerwünscht.
Musternd betrachtete er sie.
Doch da traf ihn ein so ängstlicher, gequälter und zugleich bittender Blick aus den schönen blauen Augen, daß er wußte, er hatte recht gehandelt.
»Darf ich Sie bitten, Ihr Pferd zu besteigen? Ich werde mir gestatten, Sie nach Hause zu begleiten, damit Ihnen nichts mehr geschehen kann.«
Verena trat ohne zu zögern auf die Hand, die ihr der Fremde hinhielt, und schwang sich in den Sattel. Nicht einen Augenblick kam ihr der Gedanke, daß sie sich jetzt einem Mann anvertrauen wollte, von dem sie nicht einmal den Namen wußte.
Doch er machte einen so ritterlichen und gutmütigen Eindruck auf sie, daß sie vergaß, daß er ihr fremd war.
Verena ritt eine Weile schweigend neben dem Fremden her. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, weil sie sich vor ihm schämte. Hatte er nicht beobachtet, daß Ludwig sie am Bach geküßt hatte? Glaubte er nicht vielleicht doch, daß sie Ludwigs Geliebte war?
Erneut stieg ihr die Schamröte ins Gesicht.
Wenn sie doch nur ihre Unschuld hätte beweisen können! Doch der Schein war ja gegen
sie!
Sie erinnerte sich an die feixenden Gesichter ihrer Kusinen. Gewiß würden sie der Mutter haarklein berichten, was sich zugetragen hatte und die Geschichte wie gewöhnlich nach ihrem Gutdünken ausschmücken.
Und die Baronin würde ihnen jedes Wort glauben.
Verena seufzte. Wie lange würde dieses kaum noch erträgliche Leben dauern? Würde es sich ändern?
Ihr Begleiter hatte sie kaum aus den Augen gelassen. Immer wieder sah er ihr von der Seite prüfend ins Gesicht.
An wen erinnerte ihn dieses feine, schmale Gesicht mit den großen strahlenden Augen nur?
Plötzlich fiel ihm ein, daß er es bisher ganz versäumt hatte, sich vorzustellen.
»Gnädiges Fräulein, verzeihen Sie mir, daß ich bisher vergaß, mich Ihnen vorzustellen. Weidenau«, sagte er und deutete eine Verbeugung an.
»Hugendorff«, entgegnete Verena knapp.
»Hugendorff! Natürlich, Komtesse, wie konnte ich nur so blind sein? Sie sahen ja der Gräfin zum Verwechseln ähnlich!«
Nun wußte Weidenau auch, warum ihm das Gesicht seiner Begleiterin so bekannt vorgekommen war, obgleich er sie selbst nie gesehen hatte.
»Sie kannten meine Mutter?« erkundigte Verena sich, und Tränen traten in ihre Augen.
Weidenau wurde ein wenig unsicher. Er wollte nicht zuviel verraten.
»Leider nur sehr flüchtig«, versuchte er sich herauszureden. »Es tut mir sehr leid, daß Sie Ihre lieben Eltern schon so früh verlieren mußten«, fügte er leise hinzu.
Verena nickte nur. Sie kämpfte tapfer gegen die aufsteigenden Tränen an.
»Sie leben jetzt bei Verwandten?« fragte er weiter, um sie ein wenig abzulenken von ihrem Schmerz. Es tat ihm leid, daß er Erinnerungen geweckt hatte.
»Ja, die Baronin und der Baron von Woltersheim haben mich aufgenommen.«
»Gewiß werden Sie dort gut aufgehoben sein?« forschte Weidenau weiter.
Er sah, daß es um Verenas Mund zuckte.
»Danke, es geht mir gut, den Umständen entsprechend. Es dauert eine Zeit, bis man sich eingelebt hat.«
Sie sah ihn zum erstenmal an, seit sie vom Bach fortgeritten waren, und Weidenau stellte fest, daß ihre Augen ihre Worte Lügen straften.
War es nicht sonderbar, daß sie ihn nicht aufforderte, einen Besuch auf Woltersheim zu machen? An sich wäre es doch wohl zu erwarten gewesen.
Der Herrensitz Woltersheim war schon zu sehen. Verena hätte Weidenau gern entlassen, es war ihr peinlich, von der Tante an seiner Seite gesehen zu werden, doch Weidenau machte keine Anstalten, sich zu verabschieden. Er ritt neben ihr her bis vor die Treppe, sprang ab und half ihr ritterlich aus dem Sattel.
Wieder begegneten sich ihre Augen für den Bruchteil einer Sekunde. Doch trotz ihrer inneren Erregung empfand Verena, daß Weidenaus Blicke mit liebevoller Sorge auf ihr ruhten, und es freute sie ein wenig.
Weidenau schien offensichtlich darauf zu warten, daß er von Verena ins Haus gebeten wurde, doch Verena streckte ihm verabschiedend die Hand entgegen.
»Haben Sie Dank für Ihre Begleitung, Herr Weidenau. Bitte, verstehen Sie, wenn ich Sie nicht mit hineinbitte. Der junge Mann, den Sie am Bach zurechtwiesen, ist nämlich der Sohn des Barons von Woltersheim, und ich fürchte, es könnte zu Komplikationen kommen. Es würde mir um Ihretwillen sehr leid tun.«
»So war der Offizier Ihr Herr Vetter, und ich hatte gar nicht das Recht, mich einzumischen?« fragte Weidenau bestürzt.
Verena schüttelte den Kopf.
»Es war gut, daß Sie kamen«, sagte sie leise.
Weidenau sah, daß sie errötete. Offenbar war es ihr peinlich, an die Szene am Bach erinnert zu werden.
Weidenau hatte es plötzlich sehr eilig. Er beugte sich über Verenas Hand.
»Es ist mir eine Beruhigung, daß ich Sie bei der Baronin von Woltersheim in Sicherheit weiß. Bitte, entschuldigen Sie mich jetzt. Ich werde erwartet.«
»Es tut mir leid, daß ich Sie so lange aufgehalten habe«, entschuldigte sich Verena, und ein Schatten glitt über ihr Gesicht, bis er den freien Platz vor dem Haus verlassen hatte und durch den Park ritt.
Verena übergab dem Stallburschen das Pferd und stieg langsam die Treppe empor. Noch vor wenigen Minuten hatte die Welt für sie ein versöhnliches Gesicht gezeigt. Nun war wieder alles grau und öde.
Warum?
Hing das etwa mit diesem Herrn Weidenau zusammen?
*
Heute ist Weihnachtsabend! dachte Verena bitter, als sie an das kleine Fensterchen trat.
Dort hinten, fast am Horizont, lag Hugendorff. Dort lagen ihre Eltern.
Was würde der Vater wohl sagen, wenn er wüßte, wie seine Schwester mit seinem einzigen Kind umging?
Die Landschaft verschwamm vor ihren Augen. Verena fühlte, daß es ihr heiß in die Augen stieg.
Verena sah auf ihre kleine Armbanduhr.
Fünf Uhr war es jetzt.
Wenn sie sich beeilte, konnte sie in zwei Stunden in Hugendorff sein. Um zehn Uhr war sie spätestens zurück, und niemand würde sie hier vermissen.
Verena nahm einen dicken Pelzmantel aus dem Schrank und zog ihn über. Er würde sie vor dem kalten Wind schützen. Um den Kopf band sie ein wollenes Tuch.
Verena wagte nicht, die Haupttreppe zu benutzen. Sie befürchtete, jemandem zu begegnen. Durch den Dienstboteneingang schlich sie sich hinaus auf den Hof und gelangte unbemerkt bis vor das Herrenhaus.
Verena schlug den Kragen ihres Mantels hoch und schritt tapfer aus.
Endlich hatte sie den Park von Hugendorff erreicht.
An dem großen kunstgeschmiedeten Eisentor blieb sie stehen. Zaghaft, als könnte sie aus einem schönen Traum erwachen, berührte sie einen der Stäbe. Ihre kleine Hand in dem dicken Fellhandschuh preßte sich fest um das Eisen.
»Heimat! Meine Heimat!«
Minutenlang stand sie so still da und versuchte das, was ihre Augen in der Dunkelheit sehen konnten, in sich aufzunehmen.
Endlich riß sie sich los und wagte es, die schwere Klinke des Tores herunterzudrücken. Es war nicht leicht für sie, das Tor zu öffnen. Verena erschrak heftig, als es in den Angeln quietschte.
Wenn das nun jemand gehört hätte?
Sie blieb einen Augenblick stehen und lauschte. Aber nichts rührte sich.
Da nahm sie sich ein Herz und trat ein.
Verena bog nach kurzer Zeit nach rechts ein und folgte dem Hauptweg, der direkt zur Schloßkapelle führte, um zu den Gräbern ihrer Eltern zu gelangen.
Die Schloßkapelle von Hugendorff war ein kleines Kirchlein, an dessen Mauern geschmiegt die Gräber der Grafen von Hugendorff und ihrer Gemahlinnen lagen.
Ehrfurchtsvoll betrat Verena den kleinen Friedhof. An jedem der Gräber verweilte sie einen Augenblick.
Nun war es nur noch ein Schritt bis zu den beiden Hügeln, die noch immer keinen Grabstein trugen. Verlassen und kahl lagen sie da. Niemand war hier, der sie pflegte.
Verena wurde ein bißchen ruhiger. Sie trocknete die Tränen ab. Dann bückte sie sich und streichelte liebkosend über die glitzernde Schneedecke, als wollte sie den Eltern noch einmal danken für all das Liebe und Schöne, das sie ihr gegeben hatten.
Mit einem letzten, wehmütigen Blick trennte sie sich schließlich von den Gräbern ihrer Eltern und wandte sich langsam zum Gehen.
Verena schloß mit einem Seufzer das Gitter des kleinen Familienfriedhofs. Gern wäre sie ja noch in die Kirche gegangen, doch sie getraute sich nicht. So ging sie den Hauptweg zurück.
Plötzlich blieb sie stehen. Sie preßte die Hände auf das wild klopfende Herz.
Waren da nicht deutlich Schritte zu vernehmen? Konnte man nicht hören, daß der Schnee unter festen Schritten knirschte? Wenn nun jemand kam? Was sollte sie tun? Wohin konnte sie fliehen?
Verena sah sich ängstlich um, doch es bot sich keine Möglichkeit eines Verstecks.
Da war es auch schon zu spät, denn durch die Schatten der Baumstämme hindurch konnte sie bereits deutlich die Gestalt eines großen Mannes erkennen.
»Komtesse Hugendorff! Welch eine Überraschung, Sie hier zu sehen!« sagte er, und Verena glaubte, seiner Stimme entnehmen zu können, daß er sich freute, sie zu treffen.
»Herr Weidenau? Sie sind hier in Hugendorff?« fragte Verena erstaunt und fügte schnell besorgt hinzu: »Bitte, Herr Weidenau, Sie dürfen mich bei dem Besitzer nicht verraten. Es ist mir peinlich, daß ich bei meinem heimlichen Besuch erwischt worden bin. Ich wollte so gern heute am Weihnachtsabend zu den Gräbern meiner Eltern.«
Weidenau drückte gerührt die kleine Hand der Komtesse, die er noch immer in der seinen hielt.
»Sie dürfen sich auf mich verlassen, Komtesse. Ich bin verschwiegen wie ein Grab.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Verena sichtlich erleichtert.
»Aber wo haben Sie denn Ihr Pferd abgestellt? Oder sind Sie mit dem Wagen gekommen, Komtesse?« erkundigte sich Weidenau.
Verena blickte verlegen zu Boden. Konnte sie die Wahrheit sagen? Mußte sie Tante Roberta nicht ungeheuer komprimittieren?
Aber was sollte werden, wenn er begehrte, sie zu ihrem Pferd oder zum Auto zu bringen?
Nein, sie durfte diesen Mann nicht belügen. Er hatte ohnedies heute morgen nicht den besten Eindruck von ihr bekommen.
»Ich bin zu Fuß gegangen«, sagte sie leise, als schäme sie sich der Tatsache.
»Von Woltersheim bis hierher zu Fuß?« fragte Weidenau ungläubig. »Und ganz allein?«
Verena nickte. Sie wagte nicht, ihn anzusehen.
»Das ist ja sträflicher Leichtsinn!« schalt Weidenau. »Und was sagt die Frau Baronin dazu?«
»Sie weiß es nicht, und sie darf es auch niemals erfahren«, antwortete Verena hastig.
»Aber man wird Sie doch längst vermißt haben, gerade heute am Weihnachtsabend!« gab Weidenau zu bedenken.
Verena schüttelte traurig den Kopf.
»Man wird mich nicht vermissen«, sagte sie leise, und dabei sahen ihre Augen ihn so traurig an, daß Weidenau verstummte und nicht weiter fragte.
Ob sie wohl nicht glücklich ist bei der Baronin von Woltersheim? überlegte er.
Verena versuchte sich zu verabschieden.
»Nun halte ich Sie schon zum zweitenmal auf heute, Herr Weidenau«, klagte sie sich schuldbewußt an. »Und ich muß mich sputen, damit ich noch rechtzeitig zurückkomme. Wenn der Dienstboteneingang erst verschlossen ist, kann ich nicht mehr ins Haus.«
Weidenau schüttelte den Kopf.
»Sie glauben doch nicht im Ernst, Komtesse, daß ich Sie den Weg noch einmal zu Fuß gehen lasse? Verzeihen Sie, wenn ich mich dauernd in Ihre Privatangelegenheit einmische, doch das könnte ich wirklich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Darf ich Sie bitten, mit mir ins Schloß zu kommen?«
Verena machte ein erschrecktes Gesicht.
»Um Gottes willen, nein! Wenn mich jemand sehen würde! Es wäre mir sehr peinlich, wenn der Besitzer erführe, daß ich ohne seine Einladung hierhergekommen bin.«
Weidenau lächelte.
»Haben Sie keine Angst, Komtesse. Niemand wird etwas erfahren. Der gnädige Herr ist verreist, und ansonsten ist heute abend nur Johann im Schloß. Die anderen sind alle beurlaubt. Für Johann lege ich die Hand ins Feuer.«
»So durfte Johann bleiben? Das freut mich besonders für ihn. Es hätte mir so leid getan, wenn der alte Mann Hugendorff hätte verlassen müssen.«
»Das Personal ist restlos geblieben. Warum sollte ich auch wechseln? Die alten Kräfte waren bestens eingearbeitet.«
»Bitte, entschuldigen Sie die neugierige Frage, aber vielleicht können Sie verstehen, daß ich an alldem hier noch ein wenig hänge. Sind Sie hier Inspektor, Herr Weidenau?«
Weidenau lächelte.
»Man könnte es so nennen«, sagte er ausweichend.
Verena warf alle ihre Bedenken über Bord. War dies nicht eine einmalige Gelegenheit, das Schloß noch einmal aufzusuchen? Nein, sie brachte es einfach nicht übers Herz, das Angebot Weidenaus abzulehnen.
»Ich nehme Ihre freundliche Einladung gern an, Herr Weidenau, wenn ich Sie nicht aufhalte?«
Weidenau führte das junge Mädchen durch den winterlichen Park zum Schloß. Verena fühlte, daß ihr Herz heftig schlug vor Aufregung und Erwartung.
Wie würde sie das Schloß vorfinden? War alles noch so, wie sie es verlassen hatte? Oder war es nach den Wünschen des neuen Besitzers geändert worden?
Mit einem schnellen Blick hatte Verena festgestellt, daß sich in der Halle nichts geändert hatte. Ein alter Herr mit gebeugten Schultern näherte sich.
»Johann!«
Wie ein Jubelruf erklang der Name des alten Dieners. Verena streckte ihm impulsiv die Hand hin.
»Komtesse? Nein, ist es denn möglich? Sie sind hier in Hugendorff?«
Die Stimme des Greises zitterte, und es wurde bedenklich feucht in seinen Augen.
Weidenau stand ein wenig abseits und beobachtete das Bild gerührt.
Plötzlich jedoch wurde Johann sich bewußt, daß die Komtesse nicht allein gekommen war, doch noch bevor er irgend etwas zu seiner Entschuldigung vorbringen konnte, sagte Weidenau:
»Ich hatte die Komtesse Hugendorff eingeladen, das Schloß zu besichtigen. Es ist heute eine günstige Gelegenheit, da der gnädige Herr verreist ist. Ich hoffe, Johann, Sie können Ihren Mund halten?«
Johann machte ein nicht gerade geistreiches Gesicht, doch beeilte er sich, zu versichern, daß man sich auf ihn verlassen könne.
»Bringen sie bitte einen Imbiß und Glühwein ins Herrenzimmer«, befahl Weidenau noch.
Johann hatte Verena inzwischen aus dem Mantel geholfen.
»Ich bin nicht einmal salonfähig, Herr Weidenau«, entschuldigte Verena sich. »Ich hätte mit dieser Einladung doch auch nicht rechnen können.«
Weidenau lachte ihre Bedenken fort.
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Komtesse. Wir werden ganz unter uns sein. Außerdem sehen Sie doch entzückend aus in dem Reitanzug.«
Verena errötete bei seinem Kompliment.
Weidenau führte seine Besucherin in das Arbeitszimmer. Er tat es mit besonderem Vorbedacht.
Doch als Verena erkannte, vor welcher Tür sie standen, glaubte sie, der Boden müsse ihr unter den Füßen weichen. Ausgerechnet in dieses Zimmer führte man sie? Wie grausam war doch das Schicksal!
Sie warf Weidenau einen scheuen Blick zu, als er ihr die Tür öffnete. Ahnte er nicht, was dieser Anblick für sie bedeuten mußte?
Weidenau schien nicht zu wissen, was in diesem Zimmer geschehen war, denn er war genauso freundlich und zuvorkommend wie vorher. Nichts ließ darauf schließen, daß dieses Zimmer für ihn eine besondere Bedeutung hatte.
Verena beherrschte sich, so gut es ging. Sie hätte es nicht übers Herz gebracht, Weidenau zu bitten, sie in ein anderes Zimmer zu geleiten, aus Angst, er hätte sie nach dem Grund ihres für ihn so sonderbaren Wunsches gefragt.
Sollte das Schicksal ihres Vaters wirklich ein Geheimnis geblieben sein?
Weidenau führte Verena zu der Sesselgruppe am Fenster und schob ihr ihren Sessel zurecht.
»Ich hoffe, Sie werden sich hier noch ein wenig wohl fühlen, Komtesse. Das Arbeitszimmer des Hausherrn ist zwar nicht der rechte Ort, eine junge Dame zu empfangen, doch hier ist mein Lieblingsplatz.«
Verena versuchte zu lächeln. Nein, Weidenau konnte wirklich nicht ahnen, was hier geschehen war, sonst hätte er sich nicht gerade dieses Zimmer zu seinem Lieblingsplatz ausgesucht.
Mit Erleichterung stellte Verena fest, daß man den Teppich gewechselt hatte.
Weidenau war wohl ihrem Blick gefolgt.
»Der Teppich mußte leider ausgetauscht werden. Er war verdorben. Jemand hatte ein Tintenfaß umgeworfen«, erklärte er so ruhig, daß Verena nicht einen Augenblick an der Aufrichtigkeit seiner Erklärung zweifelte.
Johann trat mit einem Tablett ein.
Weidenau erhob sich sofort, ging ihm entgegen und nahm ihm das Tablett ab. Dabei flüsterte er ihm etwas zu, was Verena nicht verstehen konnte. Sie sah nur, daß Johann nickte und sich schnellstens wieder zurückzog.
Verena konnte das aufkeimende Mißtrauen gegen Weidenau nicht unterdrücken. Warum mußte er mit Johann flüstern? War es nicht offensichtlich, daß er ihm das Tablett nur an der Tür abgenommen hatte, um sie nicht wissen zu lassen, was er dem Diener zu sagen hatte?
Erst jetzt wurde Verena sich mit einemmal bewußt, in welcher Gefahr sie sich begeben hatte. Wie konnte sie nur mit einem fremden Mann hierher gehen? Was machte es schon aus, daß dieses Schloß ihre Heimat gewesen war? Seit heute morgen kannte sie diesen Mann, der ihr jetzt mit größter Selbstverständlichkeit den heißen Wein ins Glas goß. War er ihr nicht ein Fremder?
»Trinken wir auf das Wohl dieses schönen Abends«, bat Weidenau und hielt sein Glas hoch.
Verena tat ihm Bescheid. Sie fühlte, daß der erhitzte Wein sie wohlig durchrieselte und sie erwärmte. Aber sie würde nicht viel davon trinken dürfen. Sie mußte ja einen klaren Kopf behalten.
Verena bemerkte nun schon zum wiederholten Male, daß Weidenau, nachdem er sie angeblickt hatte, seine Augen ein wenig abwandte und hochsah. Sie konnte sich nicht bezähmen. Sie mußte ergründen, was es dort zu sehen gab. Und als sie sich umwandte, sah sie gerade in die Augen ihrer Mutter. Ohne auf Weidenau noch zu achten, erhob sie sich und ging näher an das lebensgroße Porträt der jungen Gräfin von Hugendorff heran.
War es nicht, als müßte diese schöne Frau ihr zunicken? Als müßte sie aus dem Rahmen steigen, um sich zu ihnen zu gesellen?
»Mama!« Bittend, hilflos, verzagt flüsterte sie das Wort und hob die Hände halb hoch, als wollte sie nach der jungen Frau greifen.
Weidenau erhob sich schnell und trat hinter Verena. In seinem Gesicht zuckte es schmerzlich. Er legte ihr mit einer zärtlichen Geste die Hand auf die Schulter.
»Verzeihen Sie, Komtesse. Ich hätte Sie nicht hierherführen dürfen. Ich hätte mir denken müssen, daß dieses Wiedersehen…«
Verena wandte sich zu ihm um und sah ihn voll an.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Weidenau, daß Sie mich hierher brachten. Sie wissen nicht, was diese Minuten für mich bedeuten! Ich werde sehr lange davon zehren.«
Weidenau nahm ihre Hand und führte sie an die Lippen.
»Der Dank gebührt Ihnen, denn Sie haben mir diesen einsamen Weihnachtsabend verschönt. Ich hoffe, Sie sind noch recht oft mein Gast hier auf Schloß Hugendorff.«
Verena sah ihn erschrocken an.
»Das wird nicht gehen. Zumindest nicht, solange der Besitzer mich nicht selbst einlädt. Sie könnten sonst durch mich Unannehmlichkeiten haben, und das wäre mir peinlich.«
»Wir werden schon Gelegenheit finden, den alten Herrn zu hintergehen«, meinte Weidenau und kniff vielsagend ein Auge zu.
Doch Verena wollte davon nichts wissen.
Sie setzte sich auch nicht erst wieder in ihren Sessel.
»Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Weidenau, wenn ich mich jetzt von Ihnen verabschiede, doch ich muß mich wirklich sputen, wenn ich noch rechtzeitig in Woltersheim sein will.«
»Ich möchte Sie nicht überreden, noch zu bleiben, Komtesse, denn ich kann mir vorstellen, daß Ihr Fernsein eine Panik ausgelöst hat auf Woltersheim, doch ich werde es auf keinen Fall dulden, daß Sie den Weg zu Fuß zurückgehen. Bitte, warten Sie hier einen Augenblick, ich werde den Wagen aus der Garage holen.« Er lachte. »Den Chauffeur habe ich für die Weihnachtstage beurlaubt, weil ich glaubte, ich brauchte ihn nicht.«
»Aber machen Sie sich doch meinetwegen nicht solche Umstände«, versuchte Verena noch einmal einzuwenden.
»Kein Wort mehr!« schnitt ihr Weidenau alle Einwände ab. »Und inzwischen essen Sie von den Broten. Sie haben bestimmt seit dem Mittagessen nichts genossen und müssen doch hungrig sein von dem Fußmarsch.«
Bald darauf brachen sie auf.
*
Wie schicksalsschwere Tropfen der Zeit verging ein Tag nach dem anderen, ohne daß sich für Verena eine Aussicht auf Besserung gezeigt hätte.
Auch in Woltersheim mußte der harte Winter eines Tages weichen und dem Frühling das Regiment überlassen.
Verena saß am Fenster des Salons und stichelte an einer Handarbeit für die Tante. Sie grübelte über ihr Schicksal nach. Sie wagte kaum an die Zukunft zu denken, und was sollte aus ihr werden, wenn Onkel Michael eines Tages die Augen für immer schloß und Ludwig hier als Herr einzog?
Man hatte Onkel Michael vor ein paar Tagen in ein Sanatorium schicken müssen. Der strenge Winter hatte seine nicht mehr allzu feste Gesundheit stark angegriffen. Sein Zustand war nicht bedenklich, und die Ärzte hofften, daß er in einigen Wochen wieder zu Hause sein durfte, doch zwang nicht die Verschlechterung seines Zustandes dazu, einmal daran zu denken, was nach seinem Tode sein würde?
Ein Motorengeräusch schreckte Verena aus ihren Gedanken auf. Kam Besuch nach Woltersheim? Wer konnte es sein? Erwartungsvoll blickte sie die Auffahrt entlang.
Da konnte sie auch schon den dunklen Wagen sehen. Ihr Herz begann heftig zu klopfen. Sie erkannte den Wagen sofort wieder. Niemand in der ganzen Umgebung fuhr solch einen Wagen, außer dem Besitzer von Hugendorff! Ob Herr Weidenau kam, um ihr einen Besuch abzustatten?
Mühsam zwang sie sich, ihre Erregung zu verbergen.
»Wir bekommen Besuch, Tante Roberta«, sagte sie und versuchte, möglichst gleichgültig dabei auszusehen.
Roberta hob den Kopf. Das war ja mal eine Abwechslung. Dennoch rügte sie:
»Du bist sehr anmaßend, Verena. Nicht wir, sondern ich bekomme Besuch!«
Wenig später öffnete sich die Tür, und Lore trat ein, in der einen Hand einen herrlichen Strauß blaßrosa Nelken und in der anderen ein silbernes Tablett mit einer Visitenkarte.
Die Baronin griff neugierig nach der Karte und befahl, die Blumen in eine Vase zu setzen.
»Axel Graf von Birk auf Hugendorff«, las sie vor. »Das ist ja allerhand, der neue Besitzer von Hugendorff macht endlich Besuche!« bemerkte sie dann. »Ich lasse bitten«, wandte sie sich an Lore.
Als Lore das Zimmer verlassen hatte, sagte die Baronin zu Verena:
»Es ist am besten, wenn du den Salon jetzt verläßt, Verena. Gewiß wird es dem Grafen peinlich sein, dich, eine Hugendorff, hier zu finden.«
Die Baronin verstummte, denn im gleichen Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Lore ließ den Grafen eintreten.
Die Baronin erhob sich sofort und ging dem Besucher bis zur Zimmermitte entgegen.
Birk beugte sich über die entgegengestreckte Hand, ließ sich den beiden Baronessen vorstellen und setzte sich in den angebotenen Sessel. Unauffällig ließ er seine Blicke durch den Raum schweifen, als suchte er etwas. Doch dann unterhielt er sich sehr aufmerksam mit der Baronin, bestätigte noch einmal, daß er das Gut erworben habe und hoffe, in den gesellschaftlichen Kreis der Umgegend aufgenommen zu werden.
Mit einigen höflichen Worten wandte er sich auch an die jungen Baronessen, schien jedoch nicht bezaubert von den beiden Mädchen zu sein und verabschiedete sich schon nach sehr kurzer Zeit wieder.
»Ich beabsichtige in Kürze ein Fest auf Hugendorff zu geben. Darf ich hoffen, daß Sie, verehrte Baronin und die Baronessen, daran teilnehmen werden? Es tut mir sehr leid, daß Baron Woltersheim erkrankt ist, und ich hoffe, daß ich auch ihn recht bald einmal in Hugendorff willkommen heißen darf.«
Die Baronin bedauerte sehr, daß Birk sich schon erhoben hatte und zu gehen begehrte. Sie hätte sich gern noch ein wenig mit ihm unterhalten, denn sie fand ihn äußerst charmant und liebenswürdig.
»Der Todestag des Grafen Hugendorff und seiner Gemahlin jährt sich in der kommenden Woche. Sollte Ihr Fest danach stattfinden, so werden wir es uns zur Ehre anrechnen, daran teilnehmen zu können«, säuselte sie, ängstlich darauf bedacht, dem Grafen zu zeigen, wieviel ihr an einer Einladung nach Hugendorff lag.
*
In den nächsten Tagen drehte sich im Salon der Baronin von Woltersheim das Gespräch ausschließlich um Graf Birk und das bevorstehende Fest.
Selbst Roberta wurde allmählich von diesem Taumel erfaßt und malte sich insgeheim aus, wie es sein würde, wenn sie als Schwiegermutter in Hugendorff ihren Einzug halten würde. Natürlich würde sie nicht hier auf dem kleinen Woltersheim bleiben, wenn eine ihrer beiden Töchter den reichen Grafen heiratete!
Dann endlich kam eines Morgens eine Einladung aus Hugendorff für die Baronin und die Baronessen, das heißt, eigentlich waren es zwei Einladungen, und die zweite war an Verena Komtesse von Hugendorff gerichtet. Da die Baronin jedoch gerade allein im Zimmer war, als Lore ihr die Post brachte, steckte sie die zweite Einladung schnell in die tiefe Tasche ihres Morgenkleides.
Die werde ich später verbrennen, nahm sie sich vor.
Beim Mittagessen verkündete sie dann:
»Es ist eine Einladung aus Hugendorff gekommen. In der nächsten Woche findet ein Fest dort statt. Leider bist du nicht mit eingeladen worden, Verena«, wandte sie sich an die Nichte und wurde nicht einmal verlegen bei dieser Lüge. »Graf von Birk konnte ja auch nicht wissen, daß du bei uns untergekommen bist.« Sie hüstelte. »Vielleicht war es ihm auch peinlich, dich einzuladen, weil du und dein Name schließlich unlöslich verbunden sind mit den peinlichen Vorkommnissen auf Hugendorff.«
Verena fühlte, daß ihre Hand zitterte, die soeben den Löffel zum Mund heben wollte. Sie versuchte, sich zu beherrschen.
»Graf Birk ist mir in keiner Weise verpflichtet. Außerdem liegt mir nichts daran, Feste zu feiern. Ich freue mich für euch, daß ihr einmal wieder Abwechslung haben werdet.«
»Wir haben auch lange genug Rücksicht auf dich nehmen müssen, Verena«, maulte Geraldine.
»Es tut mir leid«, sagte Verena leise. Sie fühlte, daß sich bei diesen herzlosen Worten der Tante und der Kusine Tränen in die Augen drängten.
Als dann endlich der langersehnte Abend näherrückte, kannte die Aufregung bei den Kusinen keine Grenzen. Roberta überschüttete sie mit Anweisungen und Verhaltensmaßregeln. Sie teilte die letzten Ratschläge aus und sparte auch nicht mit Drohungen für den Fall, daß die Baronessen nicht genau das taten, was sie von ihnen erwartete.
Verena wurde hin und her gejagt an diesem Abend. Sie mußte die Baronessen frisieren und ihnen beim Ankleiden behilflich sein, bevor Roberta selbst ihre Dienste in Anspruch nahm.
Aber dann waren die drei Grazien doch noch pünktlich fertig.
Verena ging hinauf ins Badezimmer und erfrischte sich, ja, sie zog sogar noch ein anderes Kleid über. Sie wollte alles abstreifen, was sie mit diesem Tag verband. Dann ließ sie sich im Speisezimmer einen kleinen Imbiß servieren und danach eine Tasse Kaffee in den Salon bringen. Aus der Bibliothek des Onkels holte sie sich ein gutes Buch und setzte sich damit unter die Leselampe.
Sie versuchte, diesen Abend voll auszukosten.
Graf von Birk, in tadellosem Abendanzug, empfing seine Gäste im Prunksaal.
Als dann die Baronin von Woltersheim mit ihren beiden Töchtern hereinrauschte, konnte Birk seine Enttäuschung nicht verbergen. Also war die Komtesse nicht mitgekommen. Ob sie vielleicht sogar krank war?
Birk begann sich ernsthafte Sorgen zu machen.
Er begrüßte die Baronin und die Baronessen mit vollendeter Höflichkeit.
»Komtesse Hugendorff läßt sich entschuldigen. Sie fühlte sich nicht wohl«, brachte die Baronin vor, aber von den durchdringenden Augen des Gastgebers kam die Lüge nicht sehr überzeugend über ihre Lippen, und Birk, der sowieso schon mißtrauisch gegen die Baronin war, zweifelte an ihren Worten.
»Aber Verena hat doch gar keine Einladung erhalten, Mama«, flüsterte Gertraude der Mutter zu. Natürlich hatte sie gewartet, bis sie außer Hörweite zu sein glaubte, doch Birk hatte scharfe Ohren.
Sollte die Baronin es etwa gewagt haben, die Einladung zu unterschlagen?
Er sah, daß sie im nächsten Augenblick heftig auf die Tochter einredete.
Roberta war in der Tat wütend auf ihre unbeholfene Tochter.
»Wirst du sofort deinen vorlauten Mund halten, du mißratenes Kind!« zischte sie. »Es wird. wohl der letzte Ball gewesen sein, zu dem ich dich mitgenommen habe. Wie kannst du nur so etwas sagen?«
Graf Birk ließ das Gedeck, das neben dem seinen lag, von der Tafel räumen. Er würde niemanden zu Tisch führen, denn die Frau, die an diesem Abend an seiner Seite sitzen sollte, war nicht gekommen.
*
Verena sah erstaunt von ihrem Buch auf, als Lore eintrat.
»Was bringen Sie mir denn noch so spät am Abend?« fragte sie freundlich, als sie sah, daß Lore ein Tablett in der Hand hielt.
»Ein Besucher wartet draußen«, gab Lore Auskunft.
»Ein Besucher?«
Verena sah auf die Uhr. Es war doch viel zu spät, um Besuche zu machen. Es mußte sich schon um etwas Außergewöhnliches handeln. Sie nahm den Umschlag und zog die Visitenkarte heraus.
»Axel Graf von Birk auf Hugendorff«, las sie halblaut.
Was wollte denn er ausgerechnet heute abend bei ihr? Er hatte doch das Schloß voller Gäste!
»Bitte, führen Sie den Besucher hierher, Lore«, bat sie.
Als sich die Tür öffnete und der Besucher eintrat, erhob Verena sich, um ihn zu begrüßen. Einen Augenblick stutzte sie, als sie den großen schlanken Mann erkannte, doch dann ging sie erfreut auf ihn zu.
»Guten Abend, Herr Weidenau! Es freut mich sehr, daß Sie nach Woltersheim gekommen sind.« Sie reichte ihm herzlich die Hand. »Aber warum benutzen Sie die Karte des Grafen? Ich freue mich genauso sehr, wenn Sie mir unter Ihrem Namen einen Besuch machen.«
Weidenau beugte sich tief über die Hand der Komtesse, um seine innere Erregung zu verbergen, die ihn beim Anblick der Komtesse befallen hatte. Wie sehr hatte er sich nach diesem Wiedersehen mit Verena gesehnt in all den langen Wochen und Monaten.
»Komtesse, verzeihen Sie, daß ich Sie noch so spät am Abend überfalle, aber mein Besuch duldete keinen Aufschub mehr.«
»Bitte, setzen wir uns, Herr Weidenau«, bat Verena. »Es spricht sich dann leichter. Rauchen Sie?«
Verena bot dem Grafen Zigaretten an.
Weidenau bediente sich.
»Eigentlich bin ich nicht hierhergekommen, um gemütlich eine Zigarette bei Ihnen zu rauchen, sondern um Sie zum Fest zu bitten«, sagte er. »Ich vermißte Sie in Hugendorff.«
Verenas Gesicht wurde unwillkürlich ein wenig abweisend.
»Es tut mir leid, Herr Weidenau, daß ich Ihnen gleich die erste Bitte nicht erfüllen kann, doch ich bin nicht nach Hugendorff geladen und kann deshalb nicht mit Ihnen gehen.«
Weidenau sprang wütend auf.
»Also doch! Dann habe ich mich also nicht verhört! So eine Niederträchtigkeit!«
Im gleichen Moment besann er sich darauf, daß er nicht allein war.
»Bitte, verzeihen Sie mir, Komtesse, doch ich bin so außer mir!«
Er setzte sich wieder in seinen Sessel.
»Bitte, Komtesse, glauben Sie mir, daß ich persönlich die Einladung für Sie geschrieben habe. Die Baronin von Woltersheim muß sie unterschlagen haben!«
»Der Verdacht ist ja ganz ungeheuerlich, Herr Weidenau.«
Verena wußte nicht, ob sie der Tante so viel Schlechtigkeit zutrauen durfte.
»Meinen Sie wirklich, ich sollte jetzt noch nach Hugendorff fahren?«
Weidenau ergriff ihre Hand.
»Ich würde mich sehr darüber freuen, Komtesse, den Rest des Abends in Ihrer Gesellschaft verbringen zu dürfen.«
»Dann werde ich gern mitkommen«, sagte Verena erfreut zu. »Bitte, entschuldigen Sie mich. Es wird ein wenig dauern, bis ich umgekleidet bin. Ich war ja nicht auf diese plötzliche Einladung vorbereitet.«
Es war noch keine halbe Stunde vergangen, als Verena wieder eintrat. Sie hatte die langen Locken aufgesteckt, was ihr Gesicht noch zarter erscheinen ließ.
Weidenau sah ihr bewundernd entgegen. Fürwahr, dachte er, jeder Zoll eine Dame. Nun Verena die Trauerkleidung abgelegt hatte, schien sie ihm noch viel schöner zu sein.
»Komtesse, Sie sehen bezaubernd aus«, sagte er entzückt, und in seinen Augen stand so viel ehrliche Bewunderung und Verehrung, daß Verena errötend die Augen niederschlug.
»Wir können gehen«, meinte sie leise.
Weidenau hielt sie noch einen Augenblick fest.
»Bevor wir gehen, Komtesse, muß ich Ihnen noch etwas beichten. Ich habe die Karte des Grafen Birk nicht zu Unrecht benutzt. Ich bin es selbst.«
Verena sah ihn ungläubig an.
»Sie sind Graf Birk?«
»Selbst auf die Gefahr hin, daß ich Ihnen als Graf Birk unsympathischer bin, muß ich es eingestehen. Bitte, verzeihen Sie mir diese kleine Komödie. Ich habe sie eigentlich ganz unfreiwillig gespielt«, beteuerte er.
»Da habe ich mich ja schön in die Nessel gesetzt, als ich Ihnen am Heiligen Abend begegnete«, sagte Verena verlegen, als sie daran dachte, daß sie gebeten hatte, sie dem Besitzer nicht zu verraten.
»Ganz im Gegenteil, Komtesse. Sie glauben nicht, wie sehr ich mich über diese überraschende Begegnung mit Ihnen gefreut habe!« betonte er mit Nachdruck, und seine Augen hatten wieder jenen eigentümlichen Glanz, der Verenas kleines Herz schneller schlagen ließ. »Aber kommen Sie, ich werde Ihnen unterwegs alles erzählen. Ich müßte sonst zu lange von meinen Gästen fortbleiben.«
Er legte ihr fürsorglich den Abendmantel um die schmalen Schultern und reichte ihr seinen Arm.
Birk half Verena in den Wagen. Diesmal setzte er sich neben sie, denn am Lenkrad saß ein Chauffeur.
Eine Weile saßen Birk und Verena stumm nebeneinander.
Verena fühlte, daß die Nähe des Grafen sie unsicher und unruhig machte. Etwas ganz Neues, nie Erlebtes war zwischen sie und diesen Mann getreten, das sie bisher noch nicht empfunden hatte.
Sie kannte sich selbst nicht mehr aus in ihren Gefühlen. War es Liebe, was sie für diesen Mann empfand?
Diese plötzliche Erkenntnis verwirrte Verena so sehr, daß sie ängstlich bemüht war, das Schweigen zu brechen.
»Wollten Sie mir nicht etwas erzählen, Graf Birk?« fragte sie, doch vermied sie es, ihn dabei anzusehen.
»Ja, Komtesse, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.«
Er machte eine kleine Pause, um nach dem rechten Anfang zu suchen.
»Es gab einmal eine Zeit, da war ich in einer ähnlichen Lage wie Sie, Komtesse«, begann er. »Es liegt zwar schon fast zehn Jahre zurück, doch ich habe den Schmerz um den Verlust meiner Heimat noch immer nicht ganz verwunden. Ich wurde damals von einem zum anderen Tag heimatlos wie Sie, Komtesse, als das Gut meines Vaters ohne mein Verschulden versteigert werden mußte. Mit dem wenigen Geld, das mir verblieb, wanderte ich aus. Ich hätte es nicht ertragen können, in der Nähe meiner verlorengegangenen Heimat weiterzuleben.«
Er seufzte heimlich auf, weil ihm die Erinnerung an die Heimat das Herz so schwer machte.
»Es war nicht immer leicht, sich in der Fremde durchzuschlagen. Bitte, ersparen Sie mir, davon zu berichten, denn es würde zuviel Unerquickliches ans Tageslicht kommen. Doch eines Tages schien sich Fortuna zu besinnen und wandte sich mir wieder zu. Ich kam sehr schnell zu Geld und wurde ein reicher Mann. Da hielt es mich nicht länger in der Fremde. Ich mußte zurück nach Deutschland! Ich wollte versuchen, unser Gut zurückzukaufen. Leider war der neue Besitzer nicht zum Verkauf zu bewegen. Ich war zuerst sehr mutlos und glaubte alles verloren. Ich fuhr kreuz und quer durch das Land und suchte nach einem Fleckchen Erde, auf dem ich mich wirklich heimisch fühlen konnte. So kam ich eines Tages auch nach Hugendorff in Ihre Heimat. Es erinnerte mich in allem sehr an meine eigene Heimat, und als ich hörte, daß es zu kaufen war, zog es mich mit aller Macht, hier ein neues Leben zu beginnen. Ich wußte damals noch nicht, warum ich ausgerechnet hier in Hugendorff das Gefühl hatte, eine zweite Heimat finden zu können, doch inzwischen habe ich erfahren, daß es nicht nur die Ähnlichkeit der beiden Schlösser war, die mich hierherzog. Es gibt etwas, Komtesse, das stärker ist als die Bindung der Heimat!«
Für Sekunden lagen ihre Blicke ineinander, und Graf Birk wußte, daß Verena ihn verstanden hatte. Er zog ihre Hand an die Lippen und küßte sie heiß und innig.
Verenas Wangen überzogen sich mit einer sanften Röte. Sie fühlte, was Birk ihr mit diesem Handkuß sagen wollte. Verwirrt schlug sie die Augen nieder.
»Und warum nannten Sie sich Weidenau, als wir uns zum erstenmal begegneten?« fragte sie leise, um von sich abzulenken.
»Ich hatte diesen Namen damals angenommen, als ich Deutschland verließ. Ich nannte mich auch noch so, als ich zurückkam und hatte mich an diesen Namen so sehr gewöhnt, daß er sich über meine Lippen drängte, noch bevor ich Ihnen meinen wahren Namen sagen konnte. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen?«
»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, Graf Birk. Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir entgegengebracht haben, denn gewiß wird hier niemand um Ihr tragisches Schicksal wissen.«
»Nein, niemand, doch ich weiß, daß mein Geheimnis bei Ihnen gut aufgehoben ist.«
»Darauf dürfen Sie sich verlassen«, bestätigte Verena.
Der Wagen hielt vor dem Schloß Hugendorff. Graf Birk half seiner Begleiterin aus dem Wagen und reichte ihr seinen Arm.
In der Halle ließ sie sich ihren Mantel abnehmen.
War es nicht Ironie des Schicksals, daß sie gleich, als sie den ersten Salon betraten, Tante Roberta gegenüberstanden?
Roberta wurde abwechselnd blaß und rot.
Graf Birk weidete sich an ihrer Verlegenheit, während Verena schon beinahe Mitleid mit der Tante hatte.
»Liebste Baronin, entschuldigen Sie, daß ich so eigenmächtig gehandelt habe«, wandte Birk sich mit einem liebenswürdigen Lächeln an die Baronin. »Ich war der Ansicht, daß Komtesse Hugendorff an diesem Abend hier nicht fehlen sollte, und nachdem ich meine Einladung persönlich wiederholte, konnte sich Komtesse Hugendorff nicht entsinnen, krank gewesen zu sein, so daß sie meiner Einladung gern folgte.«
Er hatte diese Worte mit so viel Nachdruck vorgebracht, daß die Baronin genau wußte, daß er ihr falsches Spiel durchschaut hatte. Sie wußte nicht, sollte sie nun ihr Vergehen eingestehen und sich dafür entschuldigen, oder sollte sie sich dumm stellen.
Sie fand das letztere am bequemsten.
»Es tut mir aufrichtig leid, lieber Graf Birk, daß Sie so viel Mühe mit meiner Nichte gehabt haben«, sagte sie und versuchte ein möglichst unschuldiges Gesicht dabei zu machen. »Es wäre nicht nötig gewesen, wenn meine Nichte nicht so unentschlossen gewesen wäre, als wir vorhin abfuhren.«
Verena und Graf Birk sahen sich entsetzt an. Das war doch wirklich allerhand!
»Liebste Baronin, es ist vielleicht angebracht, wenn Sie die Schuld in diesem Falle nicht bei Ihrer Nichte, sondern bei sich selbst suchen«, erwiderte er scharf.
Im gleichen Augenblick bereute er es schon, so deutlich gewesen zu sein. Die Baronin war rot vor Scham und Zorn geworden, während Verena sehr blaß neben ihm stand. Gewiß würde das arme Kind später seine Worte büßen müssen. Nein, es war jetzt noch nicht der rechte Zeitpunkt, die Baronin zurechtzuweisen. Sie konnte Verena noch zu viel schaden.
Er nickte der Baronin leicht zu, als wollte er sagen, natürlich werde ich mir heute abend nichts mehr anmerken lassen, und ging mit Verena weiter.
Graf Birk war an diesem Abend nicht der einzige Mann, der Verena bewunderte. Versteckt, an eine Säule gelehnt, stand Clemens von Bernhausen, nervös an seiner Zigarette ziehend, und folgte mit brennenden Augen dem jungen Mädchen. War er nicht dumm gewesen, dieses herrliche Mädchen von sich zu stoßen. Sie könnte heute schon seine Frau sein, wenn er damals nicht so überaus kurzsichtig gewesen wäre!
Aber wer hätte auch ahnen können, daß er schon kurz nach Verenas Bittgang eine Erbschaft machte, mit der er gar nicht gerechnet hatte? Bernhausen war beinahe schuldenfrei jetzt. Er brauchte keine Geldheirat mehr und konnte sich den Luxus einer armen schönen Frau leisten.
Bernhausen drückte seine Zigarette aus.
Was hatte es für einen Sinn, jetzt noch über das Wenn und Aber nachzudenken? Es war ja nun zu spät! Verena war für ihn verloren!
Oder war doch noch nicht alles verloren? Gab es vielleicht eine Möglichkeit, Verena zurückzugewinnen? Mußte sie nicht froh sein, wenn er ihr jetzt einen Heiratsantrag machte? Sie war doch arm und bei ihrer Tante gewiß nur geduldet, denn die alte Woltersheim machte durchaus nicht den Eindruck einer liebevollen Tante.
Der Tanz ging gerade zu Ende. Verena und ihr Partner blieben nicht weit von Bernhausen stehen. Sie sprachen noch ein wenig zusammen, und dann zog Verena sich zurück.
Bernhausen ging ihr nach.
»Guten Abend, Verena«, sagte er leise und legte seine Hand auf ihren Arm.
Als Verena die Stimme erkannte, schoß ihr das Blut ins Gesicht. Sie schüttelte seine Hand wie etwas Ekelhaftes von ihrem Arm und sah den jungen Mann nicht gerade freundlich an.
»Für Sie bin ich Komtesse Hugendorff, Baron«, erwiderte sie ebenso leise wie eindringlich.
»Verzeihung, Komtesse, ich konnte nicht wissen…«
»Ich dachte, Sie selbst hätten sich klar genug ausgedrückt, Baron«, unterbrach Verena ihn scharf.
»Bitte, verzeihen Sie mir, Komtesse, ich war verwirrt von der schlechten Nachricht, die Sie mir damals brachten. Bitte, glauben Sie mir, es ging mir nicht um Hugendorff, doch ich wußte damals nicht, wie ich Ihnen ein Heim bieten konnte, weil ich nicht glaubte, daß ich Bernhausen halten konnte. Ich habe inzwischen eine Erbschaft gemacht, die mich in eine viel glücklichere Lage versetzt. Komtesse, ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie vergessen könnten, was zwischen uns vorgefallen ist.«
»Ich freue mich, daß es Ihnen bessergeht als damals«, erwiderte sie kalt. »Was mich anbelangt, so dürfen Sie fest davon überzeugt sein, daß ich alles, aber auch restlos alles vergessen habe, was mit Ihnen, Baron, zu tun hat!« Damit ließ sie ihn stehen und wandte sich ab.
Bernhausen biß sich auf die Lippen.
Abgeblitzt!
Unerhört!
Was mochte sich diese stolze Pute nur einbilden? Vergaß sie ganz, daß sie nicht mehr die Tochter des reichen Grafen von Hugendorff war?
Oh, er würde sich rächen! Er würde diese Schmach nicht so schnell vergessen! Sie sollte sich noch wundern!
*
Graf von Birk war lange Zeit von seinen Gästen so sehr in Anspruch genommen worden; daß er sich nicht um seinen Schützling Verena kümmern konnte. Deshalb war ihm auch das Zwischenspiel mit Bernhausen entgangen.
Korrekt verbeugte er sich vor Verena.
»Darf ich um diesen Tanz bitten, Komtesse?« fragte er.
Verena erhob sich wie im Traum und ließ sich von Birk in den Saal führen.
Birk legte den Arm um Verena und nahm ihre Hand. Behutsam führte er sie über das Parkett. So nahe wie jetzt beim Tanz war sie ihm noch nie gewesen.
Wie blütenrein und zart ihre Haut war! Wie rot ihr Mund!
»Ich kann Ihnen nicht sagen, Komtesse, was es für mich bedeutet, daß Sie heute abend nun doch auf Hugendorff sind«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. »Das Fest hätte ohne Sie gar keinen Sinn für mich gehabt, denn für Sie allein hatte ich es arrangiert. Ich hatte Sie zu meiner Tischdame erwählt, damit Sie an meiner Seite wären. Als Sie nicht kamen, habe ich allein gespeist. Ich konnte mich nicht entschließen, eine andere Dame zu bitten.«
Verenas Herz klopfte stürmisch. So viel bedeutete ihm ihre Gesellschaft? dachte sie glücklich. Sie schloß für einen Moment die Augen. Sie ließ sich treiben vom Glück. Wie traurig war noch vor wenigen Stunden ihr Leben gewesen! Und wie herrlich, wie unsagbar schön war es jetzt! Oh, könnte sie doch immer so weitertanzen in Axels Armen, nie mehr von ihm gehen müssen! Wie ein Traum, ein wunderbarer, beinahe unwirklich schöner Traum war das alles!
Der Tanz ging allmählich zu Ende.
»Wollen wir auf einen Augenblick zu der kleinen Kapelle gehen, um diesem Trubel zu entfliehen?« fragte er.
Verena nickte zustimmend.
Draußen schien der Mond, und unzählige Sterne glitzerten am Nachthimmel.
Birk zog Verenas Hand durch seinen Arm. Schweigend gingen die beiden jungen Menschen durch den alten Park von Hugendorff.
Plötzlich blieb Birk stehen.
»Hören Sie, Komtesse! Eine Nachtigall! Ein kleiner Liebesvogel singt für uns beide ein Lied!«
Er legte den Arm um ihre Schultern und lauschte mit ihr dem Gesang des kleinen Vogels.
»Ich bin Ihnen so dankbar, Graf Birk, daß Sie mir Gelegenheit geben, die Heimat wiederzusehen«, sagte Verena leise, als der kleine Vogel schwieg.
Birk nahm impulsiv ihre beiden Hände und blieb dicht vor ihr stehen.
»Kommen Sie zurück nach Hugendorff, Komtesse! Werden Sie meine Frau! Ich liebe Sie!« bat er eindringlich. Er faßte sie bei den Schultern und blickte ihr beschwörend in die Augen.
Verena lauschte den Worten nach. War es denn nicht zuviel Glück für sie, immer bei dem geliebten Mann sein und zurück in die Heimat zu dürfen? Sie schloß überwältigt die Augen und barg ihren Kopf an der Schulter des Mannes, der ihr Herz gefangenhielt.
Birk legte den Arm um sie und zog sie an sich. Zärtlich streichelte er ihr Haar.
»Verena, sag ja! Sag, daß du mich liebst! Daß du bei mir bleiben willst. Ich kann ohne dich ja nicht mehr leben!«
Verena konnte noch immer nicht sprechen. Das Glück machte sie stumm. Sie nickte nur und schmiegte sich zaghaft an den großen Mann.
Birk aber hatte sie verstanden. Er preßte sie an sich wie einen kostbaren Schatz und suchte ihre Lippen. Zärtlich und behutsam berührte er ihren Mund.
Er spürte, daß Verena unter seinem Kuß erzitterte und ihre Wangen feucht wurden.
Bestürzt hielt er inne.
»Verena, aber warum weinst du denn? Habe ich dich erschreckt?«
Sie schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln.
»Oh, du dummes, liebes, kleines Mädchen! Du wirst es schon lernen, das Glück zu begreifen. Darum ist mir nicht bang!«
Erleichtert zog er sie wieder an sich und küßte ihr die Tränen fort.
»Komm, Verena, wir wollen jetzt erst zu deinen Eltern gehen. Ich habe eine Überraschung für dich«, bat er dann.
»Du bist so lieb, Axel.«
Sie drückte ihre Wange scheu an seine Schulter.
Eng umschlungen standen sie wenig später vor den beiden Gräbern der letzten Hugendorffs.
»Oh, du hast Steine auf die Gräber setzen lassen, Axel«, sagte Verena gerührt. »Und so viele Blumen hast du hier gepflanzt! Hab’ Dank, Axel.«
Sie streichelte seinen Arm.
Axel legte ihr den Arm um die Schultern.
»Es sind doch nun auch meine Eltern, Verena. Glaubst du, daß sie mit unserem Bund einverstanden sind?«
»Sie würden sehr stolz auf dich sein, Axel, genauso, wie ich es bin«, antwortete sie und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter.
»Liebe kleine Verena.« Er hob ihr Gesichtchen zu sich auf und küßte sie.
*
Wohl kaum jemand hatte bemerkt, daß Axel und Verena das Fest für einige Zeit verlassen hatten.
Nur einer hatte Verena nicht mehr aus den Augen gelassen.
Es war Clemens von Bernhausen. Voller Haß und Rachsucht grübelte er darüber nach, wie er ihr die Abfuhr heimzahlen könnte. Es war ihm nicht entgangen, daß die Augen des Grafen voller Bewunderung auf Verena ruhten, während er mit ihr tanzte, und er verfolgte die beiden heimlich und stellte fest, daß sie hinaus in den Park gingen.
Gewiß war der Graf verliebt in Verena, und sie würde sich nicht lange bitten lassen, seine Frau zu werden, kam sie doch dann wieder in den Besitz von Hugendorff.
Aber er wollte ihr diese Freude schon verderben! Er würde es dem Grafen schon stecken, was sie für eine Person war! Er mußte ihn davon abbringen, sich fest an die Komtesse zu binden!
Sobald der Graf auftauchte, pirschte er sich an ihn heran.
»Auf ein Wort unter uns, Graf Birk«, bat er.
Axel sah ihn erstaunt an.
»Bitte sehr, ich stehe zu Ihrer Verfügung«, erwiderte er freundlich.
»Ich hätte Sie gern einen Moment unter vier Augen gesprochen«, bat Bernhausen nachdrücklich.
»Kommen Sie bitte mit in mein Arbeitszimmer.«
Bernhausen ließ sich nicht lange nötigen.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, forderte Birk seinen Besucher auf. »Ich nehme an, es handelt sich um etwas sehr Dringendes, da Sie mich während dieses Festes um eine Unterredung bitten?«
»Die tatsächliche Dringlichkeit kann ich nicht genau beurteilen, doch ich glaube, es ist ratsam, daß ich Sie noch heute warne.«
»Warne? Wovor?«
Bernhausen beugte sich vor.
»Komtesse Hugendorff beabsichtigt durch eine Heirat mit Ihnen, Hugendorff wieder an sich zu bringen.«
Axel fuhr unwillkürlich zurück bei dieser Anschuldigung. Wie ein Peitschenschlag hatten ihn diese Worte getroffen.
»Sie sprechen einen ungeheuerlichen Verdacht aus gegen Komtesse Hugendorff«, entgegnete er scharf.
»Vielleicht ist es Ihnen nicht bekannt, daß Komtesse Hugendorff und ich heimlich verlobt waren? Unsere Verlobung wurde von der Komtesse gelöst, als Hugendorff verloren war, weil ihr Bernhausen zu klein war und ich damals in nicht gerade glänzenden Verhältnissen lebte. Sie deutete mir damals an, daß sie auf eine Ehe mit mir keinen Wert mehr lege, sie gedächte, sich eine bessere Partie auszusuchen und eventuell sogar Hugendorff zu erheiraten. Ich habe bisher mit niemandem darüber gesprochen, weil mir das Reden über andere nicht liegt. Doch heute glaubte ich Veranlassung zu haben, Sie zu warnen, Graf Birk.«
Axel war einen Augenblick wie vor den Kopf geschlagen. Verena war die Braut dieses Mannes gewesen? Nein, davon hatte er nichts geahnt. Allerdings hatte Verena auch wohl kaum Gelegenheit gehabt, ihm davon zu erzählen, denn sie sahen sich heute erst zum zweitenmal.
War nicht seine Werbung vorhin noch verfrüht gewesen? Hätte er nicht seine Leidenschaft doch besser noch ein wenig gezügelt und sich über Verena erst vergewissert? Kannte er sie überhaupt?
Nein, mußte er sich eingestehen. Er wußte nur, daß sie ein hübsches Gesicht hatte und eine gute Figur, er wußte, daß sie gute Umgangsformen besaß und eine Komtesse von Hugendorff war.
Aber hatte er schon einmal ihr Herz ergründet?
Hatte er sich in seiner Verliebtheit nicht blindlings in ein Abenteuer gestürzt?
Wenn Verena eine zweite Enttäuschung werden würde, er könnte es nicht ertragen! Zehn Jahre lang hatte er gebraucht, um Margot zu vergessen, die sich, als er sein Gut verlor, herzlos von ihm abwandte.
Noch eine Enttäuschung würde er nicht überwinden!
Das alles ging ihm blitzschnell durch den Kopf.
Er warf seinem Besucher einen kritischen Blick zu. Sympathisch war er ihm nicht. Oder kam das vielleicht nur daher, weil er ihm eine schlechte Nachricht überbracht hatte?
»Wünschen Sie mir sonst noch etwas zu sagen?« fragte er zurückhaltend.
Bernhausen erhob sich.
»Nein«, sagte er ebenso kurz und wandte sich zum Gehen.
An der Tür drehte er sich noch einmal um.
»Ich hoffe, daß das, was wir hier gesprochen haben, unter uns bleibt.«
»Ja, selbstverständlich«, versicherte Birk.
Axel hatte gewartet, bis sich die Tür hinter seinem unangenehmen Besucher geschlossen hatte, dann stützte er den Kopf schwer auf. Er fuhr sich über die Augen, als könnte er alles, was er gerade gehört hatte, wie einen bösen Spuk wegwischen. Doch die Gedanken blieben.
Schwerfällig erhob er sich. Er durfte ja hier nicht sitzen bleiben. Drüben warteten seine Gäste auf ihn. Er mußte sich ihnen widmen, ihnen ein freundliches und unbekümmertes Gesicht zeigen
Ob er es fertigbringen würde?
Er nahm sich zusammen. Man konnte vieles ertragen, wenn man sich selbst nicht aufgab.
War nicht doch noch ein kleiner Funke Hoffnung in ihm, daß das, was er gerade gehört hatte, nicht wahr sein möge?
So sehr Axel während des ganzen Abends bemüht gewesen war, in Verenas Nähe zu bleiben, so bemühte er sich nun, sie nicht zu treffen. Er wußte, er konnte ihr nicht ruhig in die Augen sehen.
*
Obwohl es draußen schon dämmerte, als Verena endlich in ihrem Bett lag, schlief sie nicht sogleich ein. Der Tag hatte ihr zu viele Aufregungen, zu viele Erlebnisse gebracht, gute und auch schlechte, die sie noch nicht zur Ruhe kommen ließen.
War es nicht fast wie ein Wunder, daß Axel sie bat, seine Frau zu werden? Er kannte sie doch noch viel zu wenig, um sie zum Weibe zu begehren. Was wußte er schon von ihr?
Oh, sie hatte nicht gelogen, als sie ihm ihre Liebe eingestand.
Aber was würde geschehen, wenn Axel zum Beispiel erfahren sollte, daß sie mit Clemens von Bernhausen verlobt gewesen war? War es nicht durchaus möglich, daß Bernhausen sich für ihre Abfuhr rächte und Axel unterrichtete? Er brauchte nicht einmal die volle Wahrheit zu sagen, die ihn ja in ein weniger günstiges Licht stellte. Er könnte zum Beispiel ihr die Schuld geben, könnte sie in ein schlechtes Licht rücken!
Selbst wenn Bernhausen auf eine Vergeltung verzichten sollte, würde Axel noch zu seiner Liebe stehen, wenn er erfuhr, daß ihr Vater seinem Leben ein Ende bereitet hätte?
Mußte Axel ihr nicht berechtigte Vorwürfe machen, weil sie ihm so wichtige Begebenheiten aus ihrem Leben verschwiegen hatte?
Verena warf sich unruhig hin und her.
Was sollte sie tun?
Draußen war es schon Tag geworden, als Verena sich endlich zu dem schweren Entschluß durchgerungen hatte, eine Aussprache mit Axel zu suchen und ihm alles anzuvertrauen. Hatte er nicht selbst ein schweres Schicksal gehabt? Gewiß würde er Verständnis für ihre Not aufbringen!
Doch während der nächsten beiden Tage wurde Verena von der Tante so sehr mit Aufgaben und Pflichten bedacht, daß sie keine Zeit fand, nach Hugendorff zu gehen.
Auch am folgenden Tag kam Verena nicht eine Minute zur Besinnung. Erst nach dem Abendessen konnte sie sich mit einer Entschuldigung zurückziehen. Sie lief schnell hinauf auf ihr Zimmer, nahm einen leichten Mantel aus dem Schrank und ihr Handtäschchen und versuchte, wie am Weihnachtsabend, durch den Dienstboteneingang ungesehen zu entkommen.
Auch heute abend mußte sie den weiten Weg nach Hugendorff zu Fuß zurücklegen, doch sie war so sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, daß sie kaum auf den Weg achtete.
Erst als der Hugendorffsche Park in Sicht kam, verlangsamte Verena ihre Schritte.
Sie stieg die breite Treppe zum Haupteingang empor. Die Tür war schon verschlossen. Sie mußte läuten.
Johann öffnete die Tür. Er verfärbte sich, als er Verena erkannte.
»Komtesse, mein Gott, was ist geschehen? Sie kommen mitten in der Nacht hierher nach Hugendorff?«
»Beruhigen Sie sich, Johann. Es ist nichts weiter. Ich konnte nur nicht früher abkommen. – Kann ich den Grafen sprechen?«
»Ich glaube, Graf Birk sitzt noch im Arbeitszimmer. Bitte, nehmen Sie doch einen Augenblick Platz. Ich werde gleich einmal nachsehen.«
Nach kurzer Zeit kam er zurück und führte Verena zu Birk. Der Graf schien sichtlich nervös, und seine Augen sahen Verena ängstlich entgegen. Aber er beherrschte sich, solange Johann noch im Zimmer war.
Dann waren sie allein.
Birks Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an.
»Verena, was ist geschehen? Du kommst doch nicht umsonst noch so spät am Abend bis hierher nach Hugendorff! Sag mir, was hat man dir getan?«
Er war ehrlich besorgt um Verena, und nichts war in diesem Augenblick von dem Stachel zurückgeblieben, den Bernhausen gepflanzt hatte.
»Bitte, beruhige dich, Axel. Niemand hat mir etwas getan. Ich bin nur zu dir gekommen, um dir etwas anzuvertrauen, was mich bedrückt, seit du mich gefragt hast, ob ich deine Frau werden will.«
»Es handelt sich wohl um Bernhausen?« platzte Birk heraus und bereute im selben Augenblick schon, daß er sich verraten hatte.
»Du scheinst bereits einiges zu wissen?« fragte Verena unangenehm berührt.
»Nichts Genaues«, beschwichtigte Birk sie.
Verena war wie vor den Kopf geschlagen.
»Wie mir scheint, hat Baron von Bernhausen es für angebracht gehalten, dich über unsere heimliche Verlobung aufzuklären. Die Gründe hierfür sind mir allerdings unerklärlich, da er doch kaum von unserer Verbindung wissen dürfte.«
»Also warst du mit dem Bernhausen verlobt?« fragte Birk aufgeregt und beugte sich vor.
»Ja, wir haben uns geküßt. Er hat mir gesagt, daß er mich liebte, und ich glaubte ihn auch zu lieben. Es war auf einem Fest wenige Tage bevor meine Eltern starben. Noch am Morgen danach machte er einen Besuch, um mir sein Beileid auszusprechen und mir seine Hilfe anzubieten. Als ich dann wenige Stunden später erfuhr, daß Hugendorff unter den Hammer kommen sollte, wußte ich mir keinen Rat, ich ritt nach Bernhausen, um den Baron um Beistand zu bitten. Aber sobald ich ihm gestand, daß Hugendorff verloren war, wurde er kalt und abweisend und bedeutete mir, daß er sich geirrt habe, er liebte mich nicht, er könnte sich keine arme Frau leisten, weil Bernhausen Geld brauche. Er sagte sogar noch, daß er froh wäre, daß unsere Verlobung noch nicht veröffentlich worden sei, weil sie sonst aufgehoben werden müßte.«
Birk sah sie durchdringend an.
»Kannst du mir dein Wort darauf geben, daß es so und nicht anders war, Verena?«
Verena hielt seinem Blick stand.
»Natürlich kann ich das. Ich bin nicht zu dir gekommen, um dir die Unwahrheit zu sagen. Aber wahrscheinlich hat Bernhausen dir etwas anderes gesagt?« forschte sie.
»Mit dem Bernhausen werde ich selbst abrechnen.«
»Was wirst du tun, Axel?« fragte sie zaghaft.
»Das ist Männersache.« Birk hatte sich sehr schnell wieder in der Gewalt. »Ich danke dir für dein Vertrauen, Verena. Es ist
immer besser, wenn Klarheit herrscht zwischen uns, damit Dritte kein Unheil anrichten können. Ich muß dich um Verzeihung bitten. Ich war nahe daran, an der Aufrichtigkeit deiner Liebe zu zweifeln«, gestand er.
»Ich habe dir nichts zu verzeihen, Axel, denn dein Vertrauen wurde durch eine Lüge erschüttert. Ich hoffe, daß ich noch eine Gelegenheit haben werde, dir zu beweisen, wie sehr ich dich liebe, Axel.«
Birk erhob sich und zog Verena zu sich empor.
»Verena, ich liebe dich. Wie wunderbar müßte es sein, mit dir zu leben!«
Er beugte sich zu ihr nieder und preßte seine Lippen heiß und verlangend auf ihren Mund. Fest schloß er sie in die Arme und streichelte ihr zärtlich das Haar.
»Verena, sag mir noch einmal, daß du mich liebst«, bat er mit bebender Stimme.
»Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt, Axel«, beteuerte sie und küßte ihn scheu auf die Lippen.
*
Am nächsten Morgen wunderte der Chauffeur sich, daß der Graf den Wagen selbst zu fahren begehrte und ihn nicht mal mitnahm. Aber Axel wußte, was er tat. Niemand brauchte zu wissen, wohin er an diesem Morgen fuhr.
Bernhausen machte erstaunte Augen, als er den eleganten Wagen auf den Hof fahren sah. Das war doch der Graf von Hugendorff?
Sekundenlang hatte er ein schlechtes Gewissen. Ob der Graf etwa erfahren hatte, daß er die Unwahrheit gesagt hatte?
Aber woher denn? verwarf er diesen lästigen Gedanken sofort wieder und ging seinem Besucher mit lächelnder Miene und sehr selbstsicher entgegen.
Der Graf übersah die Hand, die der andere ihm entgegenstreckte. Sein Gesichtsausdruck verriet deutlich Ablehnung und Verachtung.
Bernhausen versuchte trotzdem unbefangen zu bleiben.
»Wollen wir nicht Platz nehmen, Graf Hugendorff?« bat er und zeigte eine lächelnde Maske.
Axel reckte sich noch höher.
»Ich begehre keinen Platz, Baron von Bernhausen. Ich bin gekommen, um von Ihnen Rechenschaft zu verlangen. Sie wissen, daß Sie bewußt die Unwahrheit gesagt haben. Ich verlange Genugtuung!« sagte er in schneidender Kälte.
Bernhausen wurde abwechselnd blaß und rot, so sehr hatte er sich über Birks Worte erschrocken. Die Rache war wie ein Bumerang und konnte ihm teuer zu stehen kommen, denn so, wie Birk jetzt dreinschaute, konnte er keine Gnade und kein Mitleid von ihm erwarten.
»Ihr Schweigen zeugt deutlich, daß Sie Ihr Unrecht bekennen«, fuhr Birk nach einer kurzen Pause fort. »Ich erwarte Sie morgen bei Tagesgrauen am Waldrand vor dem Weidenbach. Bringen Sie Ihre Pistole mit.«
Damit wandte er sich ab und verließ grußlos den Raum.
Bernhausen war so weiß wie die Stuckdecke in seinem Herrenzimmer. Kraftlos sank er in einen Sessel, als sich die Tür hinter seinem unheimlichen Besucher geschlossen hatte.
Schießen wollte er sich! Wegen einer kleinen, boshaften Lüge sollte er sein Leben leichtfertig aufs Spiel setzen! Birk würde bestimmt Nägel mit Köpfen machen, und da er als der Beleidigte den ersten Schuß hatte, war es durchaus möglich, daß es zum zweiten Schuß erst gar nicht kam.
Ob er einfach die Forderung ablehnen sollte? überlegte er weiter. Birk konnte ihn schließlich nicht zwingen, morgen früh am Weidenbach zu sein!
Nein, das konnte er nicht, doch er würde sich Genugtuung zu verschaffen wissen. Er konnte ihn ja wegen Verleumdung verklagen und ihn für alle Zeiten in der Gesellschaft unmöglich machen, ja, es wäre unter solchen Umständen sogar denkbar, daß er Bernhausen zu einem Schleuderpreis verkaufen mußte, um hier aus der Gegend zu verschwinden.
Er erhob sich und goß sich einen Kognak ein. Es hatte wirklich keinen Sinn, noch länger über Auswege nachzusinnen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er mußte sich wohl oder übel in das Unvermeidliche schicken.
*
Während des Nachmittags brachte Birk seine Papiere in Ordnung, gab Anweisungen für die Inspektoren heraus und benahm sich ganz so, als würde er morgen nicht wieder nach Hugendorff zurückkommen.
Als Johann ihm am Nachmittag den Tee brachte, telefonierte er gerade. Es schien kein erfreuliches Gespräch zu sein, denn der Graf machte ein finsteres Gesicht.
»Jawohl, um vier Uhr am Weidenbach«, sagte er ungehalten und warf den Hörer unbeherrscht auf die Gabel.
Nach dem Tee schloß Axel sich ein. Er saß in seinem Lieblingssessel und hielt stumme Zwiesprache mit dem Bild der jungen Gräfin.
Ob wir uns wiedersehen werden, Verena?
Ach, hätte ich doch jetzt ein Recht, zu dir zu fahren und diese letzten wenigen Stunden, die mir vielleicht noch verbleiben, mit dir zu verbringen. Könnte ich das Glück, bei dir zu sein, nur noch einmal erleben! Ich wollte jede Minute, jede Sekunde auskosten bis zur Neige! Einmal möchte ich dich noch in meinen Armen halten dürfen, einmal deine Lippen küssen und dein Haar liebkosen!
Ich muß wenigstens ihre Stimme noch einmal hören! beschloß er und eilte zum Telefon. In Woltersheim meldete sich eine kleine, dünne Stimme, wahrscheinlich eine der Baronessen. Doch Axel stand jetzt nicht der Kopf danach, Konversation zu treiben. Er verlangte Verena zu sprechen.
»Einen Augenblick, bitte«, hörte er es von der anderen Seite des Drahtes spitz antworten, und dann war es eine Weile stumm in der Leitung.
Endlich hörte er ein Geräusch.
Verena hatte den Hörer aufgenommen.
»Hugendorff«, meldete sie sich. »Ist etwas geschehen?« fügte sie aufgeregt hinzu.
»Nein, nein, Verena. Mache dir nur keine Sorgen um mich. Es geht mir gut. Ich wollte nur noch einmal deine Stimme hören. Bitte, erzähl mir etwas.«
»Meine Stimme hören? Axel, du hast ganz sonderbare Wünsche zuweilen.«
Wie sich das anhörte: Ich wollte nur noch einmal deine Stimme hören! Klang es nicht nach Abschied? Nach einem Abschied für immer?
»Axel, was ist mit dir? Fühlst du dich nicht wohl? Ich fange an, mir große Sorgen um dich zu machen.«
Axel sah ein, daß er seine Worte sorgfältiger wählen mußte.
»Aber Verena, mir geht es wirklich sehr gut. Ich sitze hier in meinem Herrenzimmer und betrachte mein Lieblingsbild. Dabei bekam ich solche Sehnsucht nach dir, daß ich unbedingt deine Stimme hören mußte.«
Verena seufzte. Ein Stein fiel ihr vom Herzen.
»Wollen wir uns heute sehen, Axel?« fragte sie schüchtern, um ihm eine Freude zu machen.
Axel biß die Zähne zusammen. Wie gern würde er sie wiedersehen, gerade heute, aber es durfte ja nicht sein! Er würde nicht die Kraft haben, Verena nicht in sein Geheimnis einzuweihen.
»Nein, Verena, wir können uns heute nicht mehr sehen. Es ist sehr schade«, lehnte er mit gepreßter Stimme ab.
»Werden wir uns morgen sehen?« fragte Verena wieder mit wachsender Unruhe.
»Vielleicht. Ich kann es dir noch nicht versprechen, Verena.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie, und es war, als schnürte ihr irgend etwas die Kehle zu.
Axel sah ein, daß er unter diesen Voraussetzungen kein Gespräch mehr mit Verena führen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich doch noch zu verraten.
»Leb wohl, Verena. Vergiß mich nicht«, bat er mit fast tonloser Stimme und legte den Hörer auf.
Verena sah auf das Telefon, als müßte es ihr eine Antwort geben, als müßte es ihr eine Erklärung geben für das sonderbare Verhalten Axels. Sie fühlte deutlich, daß ihm oder ihrer Liebe eine Gefahr drohte, doch sie wußte nicht, wo sie sie suchen oder wie sie sie abwenden konnte.
Sie ging hinauf in ihr kleines Zimmer und legte sich zu Bett, doch an Schlaf war noch gar nicht zu denken.
War Axel nicht gestern beim Abschied schon so eigenartig ernst gewesen? Er hatte sie geküßt, wie er es noch nie getan hatte, dabei sahen seine Augen sie so schmerzlich an. Warum hatte
er vorhin am Telefon nicht »Auf Wiedersehen« gesagt? Warum hatte er hinzugefügt, vergiß mich nicht?
Klang nicht alles nach Abschied?
Verena weinte in ihr Kopfkissen. Warum war sie so machtlos? Warum wußte sie sich nicht zu helfen? Hätte sie doch wenigstens nach Hugendorff gehen dürfen!
Die Sekunden verrannen, rundeten sich zu Minuten und Stunden. Verena verfiel in einen unruhigen Halbschlaf. Sie träumte. Sie lief durch eine große Halle, an deren Ende ein Lichtschein, und als sie dieses Licht erreicht hatte, stand vor ihr plötzlich eine Bahre. Das Tuch, das man darübergedeckt hatte, war bei genauem Hinsehen durchsichtig, und wie durch einen Schleier sah sie ein markantes Gesicht, das die bleichen Züge des Todes trug.
»Axel!«
Ein verzweifelter Schrei rang sich von ihren Lippen und wurde von den hohen kahlen Wänden in immer stärkerem Widerhall zurückgeworfen. Verena fühlte, daß sie zusammensank und in eine bodenlose Tiefe fiel.
Ein Zucken lief durch ihren Körper, und dann wachte sie auf. Mit grauenhafter Deutlichkeit erinnerte sie sich an das, was sie im Traum gesehen hatte. Noch vermeinte sie, ihren eigenen Schrei in den Ohren zu haben. Sie horchte, doch rings um sie her war alles still. Durch das Fenster kam ein kühler Morgenwind und ließ sie frösteln. Die Sterne waren schon verblaßt. Bald würde der Morgen grauen und diese schreckliche Nacht ablösen!
Plötzlich fuhr Verena hoch. Sollte ihr Traum eine Ahnung von einem schrecklichen Geschehen auf Hugendorff gewesen sein? Hatte nicht Axels Benehmen immer wieder darauf hingedeutet, daß irgendeine Gefahr für ihn bestand? Oder war alles nur Einbildung? War sie übernervös? Vielleicht hatte sie diesen schrecklichen Traum auch nur gehabt, weil sie sich den ganzen Abend über solche Sorgen um Axel gemacht hatte.
Aber Verenas Unruhe wurde immer größer. Sie hielt es nicht mehr aus im Bett. Sie stand auf und zog sich einen Morgenrock über. Es war ihr ganz unheimlich zumute. Alles zog sie nach Hugendorff, nur die Vernunft hielt sie noch davon ab, ihrem Wunsch zu folgen. Aber schließlich war auch sie besiegt.
Es ist ganz gleich, was sie in Hugendorff oder hier in Woltersheim denken, sann sie. Ich muß nach Axel sehen, sonst werde ich meine Ruhe nicht wiederfinden! Nein, ich ertrage diese Ungewißheit nicht länger! Lieber will ich es erleben, daß Axel mitleidig lächelt über meine ausgefallene Idee. Mag er nur! Wenn er nur gesund ist, ist alles andere nicht wichtig!
Verena war schon beinahe angezogen. Ohne zu überlegen hatte sie ihren Reitanzug aus dem Schrank genommen. Erst als sie ihn überzog, fiel ihr ein, daß sie ja kein Pferd mehr besaß.
Ich werde mir eines von Onkel Michael nehmen, dachte sie entschlossen. Was machte es schon aus, wenn die Tante sie deswegen schalt? Es war ja alles so gleichgültig, wenn sie nur jetzt möglichst schnell zu Axel konnte.
Verena schlich leise die Treppen hinunter, schloß die hintere Tür auf und stand draußen auf dem Hof. Auf Zehenspitzen lief sie über den Hof zum Pferdestall, öffnete die Tür und machte Licht.
Einer der beiden Reitburschen, die abwechselnd hier bei den Pferden schlafen mußten, rieb sich müde die Augen und glaubte wahrscheinlich einen Spuk zu sehen, als die Komtesse so plötzlich vor ihm stand.
»Ich brauche schnell ein Pferd. Ich bin wahrscheinlich zurück, noch bevor die Baronin aufsteht. Bitte, helfen Sie mir. Es ist sehr dringend«, stieß Verena hervor.
Der junge Bursche sah sie einen Augenblick hilflos an. Er wußte, daß ohne ausdrückliche Genehmigung der Baronin die Pferde nicht herausgegeben werden durften. Aber konnte man den bittenden Augen der schönen Komtesse widerstehen?
»Wenn ich nun deswegen fliege?« fragte er und ging schon mit ihr zu einer der Boxen.
»Ich bringe Sie anderswo wieder unter«, versprach Verena.
Der Junge sah sie ungläubig an. Wo sollte sie ihn schon unterbringen? War sie nicht selbst froh, daß sie eine Bleibe hatte?
Verena merkte, daß er ihren Worten nicht traute. Sie streckte ihm die Hand hin.
»Ich gebe Ihnen mein Wort. Wenn mir Hugendorff auch nicht mehr gehört, so habe ich doch noch so viel Einfluß, daß ich Ihnen dort einen Posten besorgen kann.«
Der Junge nickte ihr zu und sattelte das Pferd.
Der Himmel begann sich im Osten allmählich zu röten, als Verena in den Hugendorffschen Park einritt. Sie band das Pferd an einen Baum und hastete die breite Treppe zum Eingang empor. Sie drückte auf die Klingel.
Die Tür wurde schon nach sehr kurzer Zeit geöffnet.
»Johann, erschrecken Sie nicht, wenn ich so mitten in der Nacht hier hereinplatze. Ich hatte so eine furchtbare Unruhe. Kann ich den Grafen sprechen?«
Dabei rannen ihr dicke Tränen aus den Augen.
»Kommen Sie, setzen Sie sich hierher, Komtesse. Ich muß Ihnen etwas erzählen«, versuchte Johann sie zu beruhigen.
»Ist dem Grafen etwas zugestoßen?« fragte Verena, der es erst jetzt auffiel, daß Johann solch einen verstörten Eindruck machte. Sie faßte den alten Mann bei den Schultern und hielt ihn fest. »Johann, sagen Sie mir alles, was Sie wissen. Ich beschwöre Sie!« flehte sie.
»Der Graf ist nicht im Schloß.«
»Nicht im Schloß? Wo kann er denn sein um diese Zeit? Johann, so sagen Sie doch schon, was geschehen ist!«
Johann zögerte noch einen Moment. Durfte er der Komtesse sagen, was er ahnte? Würde der Graf es ihm nicht verübeln, wenn er von seinem Wissen weitererzählte? Aber die Komtesse liebte den Grafen, das war ganz klar ersichtlich. Ob er sie vielleicht auch liebte?
Ach, was bedeutete es schon, wenn er alter Mann seine Stellung hier auf Hugendorff verlieren würde? Der Graf war in Gefahr, und die Komtesse war die einzige, die ihn noch vor einem schlimmen Ende bewahren konnte. Mußte er da nicht sprechen?
»Komtesse, glauben Sie nicht, daß ich indiskret bin, wenn ich Ihnen jetzt etwas sage, was ich nur zufällig gehört habe. Ich weiß nichts Bestimmtes. Aus einzelnen Brocken glaube ich sagen zu können, daß der Graf sich heute morgen schießt. Er hatte sich mit jemandem um vier Uhr am Weidenbach verabredet und ist – kurz bevor Sie kamen – fortgefahren.«
»Um vier Uhr?« stöhnte Verena. »Mein Gott, bis zum Weidenbach sind es gut zehn Minuten zu reiten, und jetzt ist es fünf Minuten vor vier. Ich muß es schaffen! Johann, beten Sie, daß ich es schaffe!«
Sie lief hinaus, sprang die Treppe hinunter, band das Pferd los und schwang sich in den Sattel. Im nächsten Moment jagte sie schon durch den Park.
Da, ein Knall!
Verena hielt das Pferd an und preßte die eine Hand auf das Herz, als habe der Schuß sie mitten hinein getroffen.
Zu spät! dachte sie.
Wieder knallte es. Noch einmal, noch einmal, und bei jedem Male wurde das Geräusch leiser.
Ach, es wird nur das Echo von der anderen Talseite sein, dachte sie traurig.
Dann aber trieb es sie mit aller Macht voran.
Als sie den Waldrand erreicht hatte, sah sie einige zwanzig Meter links von ihr eine Gruppe von Männern in dunklen Gewändern stehen. In einiger Entfernung waren auch einige Autos abgestellt.
»Axel!«
Ein markerschütternder Schrei ließ die Männer zusammenfahren. Verena war vom Pferd geglitten und lief mit unsicheren Füßen auf die Gruppe zu. Jetzt gewahrte sie eine Bahre und konnte deutlich erkennen, daß ein Mann darauf lag, um den sich jemand bemühte. Die Füße drohten ihr den Dienst zu versagen. Sie fühlte, daß sie einer Ohnmacht nahe war, aber sie hielt sich aufrecht und lief weiter.
Ich muß ihn noch einmal sehen! Noch ein einziges Mal!
Aber noch bevor sie die Bahre erreicht hatte, fingen zwei starke Arme sie auf und preßten sie an sich.
»Verena! Liebes! Oh, du, daß ich dich wieder habe!«
Verena vernahm nur noch die geliebte Stimme und wußte, daß Axel dem Leben wiedergeschenkt war. Dann verließen sie ihre Sinne.
Axel fühlte, daß der Körper in seinen Armen schwer wurde. Er hob sie auf die Arme und trug sie zu seinem Wagen. Dr. Scharper, Axels Sekundant, nickte ihm noch einmal zu. Dann fuhr er zurück nach Hugendorff.
Dr. Scharper war von der erschütternden Szene tief beeindruckt gewesen. Als er aber Verena von Hugendorff erkannte, begrub er seine letzten geheimen Hoffnungen auf die Erfüllung seiner Liebe.
Als Johann einen Wagen in den Hof fahren hörte, riß er die schwere Tür auf und lief die Treppen so schnell hinunter, wie ihn seine müden Beine zu tragen vermochten.
»Herr Graf, daß Sie wieder da sind!« Seine Stimme zitterte, und in seinen Augen wurde es feucht.
»Ist schon gut, Johann.« Birk legte ihm die Hand auf die Schulter. »Hätte Ihnen die Aufregung gern erspart. Sie können doch schweigen?«
»Ehrensache«, versprach Johann.
Dann sah er Verena, die im Fond des Wagens in den weichen Polstern lag.
»Ist der Komtesse etwas zugestoßen?« Er forschte ängstlich im Gesicht des Grafen.
»Die Aufregung war zu groß für die Komtesse. Bitte, Johann, wecken Sie Frau von Wehberg, damit sie sich um die Komtesse kümmert, und schicken Sie ein paar Stallknechte zum Weidenbach, damit sie das Pferd wieder einfangen, auf dem die Komtesse ritt.«
Verena lag im Salon ihrer Mutter auf einem bequemen Ruhebett. Graf Birk wich ihr nicht von der Seite. Er hatte sich einen Stuhl herangezogen und blickte ihr unverwandt ins Gesicht.
Ein wenig abseits saß in einem Sessel Frau von Wehberg, die über die unerwartete Störung in ihrem Morgenschlaf nicht sehr erfreut war, doch sie ließ sich nichts anmerken und zeigte ein liebenswürdiges Gesicht, als der Graf bat, mit ihm bei Verena zu bleiben.
Nachdem sie Verena bequem gebettet und sie sorgfältig mit weichen Decken zugedeckt hatte, hatte sie von ihrem Platz aus den Grafen beobachtet. Als ihr das zu langweilig wurde, sah sie der eben aufgehenden Sonne zu, doch der fehlende Schlaf forderte sein Recht, und ehe sie es sich versah, war sie in ihrem Polsterstuhl eingenickt.
Verena aber wurde immer unruhiger.
Birk beugte sich über sie. Er streichelte zärtlich ihre Wangen.
»Verena!« rief er leise.
Verena lächelte.
»Verena!« rief er noch einmal.
Da schlug sie die Augen auf und sah ihn an. Sie lag ganz still, sagte kein Wort, aber in ihren Augen leuchtete die Liebe und das Glück.
»Verena!«
Axel griff nach ihrer Hand und küßte sie.
Da wußte Verena, daß sie nicht mehr träumte. Sie schlang ihre Arme um Axel und zog ihn zu sich.
»Geh nie mehr fort, Axel. Es war so schrecklich!«
*
Verena war zurück in Woltersheim, noch bevor jemand sie vermißt hatte. Sie lieferte das Pferd bei dem Stallburschen ab und gab ihm ein Trinkgeld, das Axel ihr für den Jungen zugesteckt hatte. Dann schlich sie sich wieder hinauf in ihr Zimmer. Sie kleidete sich aus und legte sich noch einmal zu Bett. Sie fühlte sich so zerschlagen. Die durchwachte Nacht und die Aufregungen machten sich jetzt bemerkbar.
Verenas Uhr zeigte schon die zehnte Stunde, als sie wieder erwachte. Erschreckt fuhr sie aus den Federn. Was würde die Tante sagen! Sie hatte heute wirklich Grund zum Schelten! Schnell zog sie sich an und entschuldigte sich bei der Tante.
Roberta ließ eine ihrer üblichen Strafpredigten vom Stapel, aber Verena blieb heute ungerührt. Warum sollte sie der Tante nicht heute noch einmal, zum letztenmal vielleicht, die Gelegenheit gönnen, ihrem bedrängten Herzen Luft zu machen?
Eine kleine Rache blieb ihr vorbehalten, wenn gleich Axel kam.
Axel war sehr pünktlich. Es hatte gerade von der kleinen Westminsteruhr elfmal geschlagen, als der große schwarze Wagen aus Hugendorff in Woltersheim verfuhr. Geraldine, die gerade am Fenster stand, konnte sich nicht bezähmen, sie mußte den Grafen aussteigen sehen.
»Mama, der Graf von Birk kommt zu uns. Er trägt einen ganz offiziellen Anzug und hat einen riesigen Strauß Blumen. Ob er…« Weiter kam sie nicht.
»Was sagst du da?«
Roberta war aufgesprungen und zum Fenster geeilt, doch sie kam zu spät. Birk hatte die Halle bereits betreten.
Lore bekam den Auftrag, den Grafen in die Bibliothek zu führen.
»Geh schnell hinauf, Geraldine, und zieh dir ein anderes Kleid an, damit du gut aussiehst, wenn ich dich gleich rufen lasse«, befahl sie aufgeregt.
Als Lore zurückkam und meldete, daß der Graf in der Bibliothek warte, rauschte sie hinaus.
Als erstes stellte sie fest, daß der Graf wirklich weiße Handschuhe und einen Zylinder in der Hand hielt.
»Guten Morgen, lieber Graf«, flötete sie und hielt die Hand zum Kuß hin. Sie war jeder Zoll eine gewährende Schwiegermutter.
Der Graf erwiderte den Gruß und beugte sich pflichtschuldig über die faltige Hand der Baronin.
»Verehrte Baronin«, begann er dann. »Mein Weg führt mich heute morgen aus einem besonderen Anlaß nach Woltersheim.«
»Ich ahnte Ihren Grund, lieber Graf.« Sie lächelte und versuchte hinreißend auszusehen, was ihr schwer danebengelang. »Geraldine, das geliebte Kind, hat mir bereits ihr Herz ausgeschüttet. Ich kann sie ja so gut verstehen.«
Sie verdrehte ihre Augen und wagte einen koketten Aufschlag.
Birk preßte für einen Moment die Lippen fest aufeinander, sonst hätte er laut herausgelacht.
Es wird höchste Zeit, daß ich deutlicher werde. Die Blamage könnte sonst für die Baronin zu groß werden, dachte er erschreckt.
Er erhob sich deshalb, stellte sich vorschriftsmäßig vor die Baronin hin und sagte, so ernst es ihm in diesem Augenblick möglich war:
»Verehrte Baronin, ich bitte Sie um die Hand Ihres Mündels, Komtesse Verena.«
Für den Bruchteil einer Sekunde noch hielt sich das geschmeichelte Lächeln im Gesicht der Baronin. Dann gefror es zu einer Maske, die nur schlecht die erlebte Enttäuschung zu verbergen vermochte.
Axel stand unschlüssig vor der verärgerten Baronin.
»Ich hoffe, meine Werbung kommt Ihnen nicht ungelegen?«
Die Baronin nahm sich zusammen. Sie erhob sich.
»Nein, nein, natürlich nicht. Ich freue mich für Verena, daß sie ein Unterkommen gefunden hat«, sagte sie nicht gerade liebenswürdig. »Bitte, warten Sie hier einen Augenblick, ich werde Verena rufen lassen.«
Wutschnaubend betrat die Baronin den Salon.
»Du bist doch ein undankbares Geschöpf. Wir nehmen dich hier auf wie ein eigenes Kind, und zum Dank dafür drängst du dich zwischen Geraldine und den Grafen und behext ihn so, daß er dich heiraten will.«
Verena hörte kaum hin. Sie schob sich an der Tante vorbei.
»Verzeih, Tante Roberta, Axel wartet auf mich.«
Sie eilte schnell hinaus, und nur durch die geschlossene Tür hörte sie noch, daß Geraldine wie eine Sirene aufheulte.
In der Bibliothek schloß Axel seine Braut in die Arme und küßte sie herzlich auf den Mund.
»War es sehr schlimm?« erkundigte sich Verena.
»Nein, aber dennoch möchte ich, daß du mit nach Hugendorff kommst. Die Baronin wird versuchen, ihre Enttäuschung über die entgangene Hochzeit an dir zu rächen. Frau von Wehberg kann dich unter ihre Fittiche nehmen.«
»Wenn du willst, Axel.«
Verena ließ sich glücklich von ihm hinausführen.
*
Sechs Wochen später trug Verena den Brautschleier, den schon ihre Mutter und ihre Großmutter getragen hatten. Stolz und sehr glücklich stand sie neben Axel von Birk am Altar der kleinen Hugendorffschen Kapelle, und sie empfingen den Segen für ihren Bund.
Selbstverständlich waren auch die Baronin und die Kusinen unter den Gästen. Selbst Onkel Michael, der inzwischen aus dem Sanatorium entlassen worden war, hatte es sich nicht nehmen lassen, mit nach Hugendorff zu fahren. Niemand aus der Nachbarschaft fehlte, selbst Bernhausen hatte Verena in ihrem Glück verziehen.
Als das junge Paar sich um Mitternacht von dem Trubel der Hochzeitsgesellschaft zurückzog, führte Axel seine Frau an das Grab ihrer Eltern.
»Es ist so traurig, Verena, daß deine Eltern diesen glücklichsten Tag unseres Lebens nicht miterleben konnten. Aber sie werden dennoch immer bei uns sein.«
Eng umschlungen gingen sie den Weg zurück zum Schloß.
»Weißt du noch, damals, Verena, als wir diesen Weg zum erstenmal zusammen gingen?« fragte Axel.
»Ja, Axel.«
Sie traten aus dem Park, und vor ihnen lag das Schloß.
»Damals sagtest du, das Schloß sieht aus wie ein Märchenschloß.«
Verena sah ihn an.
»Und du sagtest, ja, es könnte eines sein, wenn… Aber das sagtest zu mir nicht.«
»Das durfte ich auch damals nicht. Aber jetzt kann ich es dir sagen, Verena. Es ist ein Märchenschloß, dieses Hugendorff, seit du den Weg zurück in die Heimat gefunden hast.«
»Und zu dir, Axel«, fügte sie innig hinzu.