Читать книгу Das Mädchen Namenlos - Beate Helm - Страница 6
Aufbruch
ОглавлениеMorgen nun sollte der große Tag sein. Voller Aufregung liefen wir durch das kleine Häuschen, das uns so lange als sichere Heimat gedient hatte. Keiner wusste so recht, was er noch anfangen sollte, um gewappnet zu sein für das bevorstehende Ereignis. Nur leise angedeutet wurde es in der heimlich belauschten Versammlung der Großen, dass wir in die freien Weiten des Himmels entlassen werden sollten. Wir seien jetzt stark genug, um auf unseren Weg geschickt zu werden.
Janita hatte die Zusammenkunft der Großen genau mitverfolgt. Sie war die Kleinste von uns und konnte deshalb durch einen winzigen Einriss oben an unserem Häuschen mit ihrem Kopf nach außen gelangen und so die Stimmen Wort für Wort mitverfolgen. Während sie auf den Schultern von Janine stand und aufmerksam zuhörte, hatten wir uns gespannt um sie geschart. Wir konnten kaum erwarten, was es Neues gab. Oft war es lustig, was sich die Großen mitzuteilen hatten. Sie wussten immer bestens über alles Bescheid, aus den Erzählungen der vielen Besucher, die bei uns vorbeikamen.
So waren wir auch in dieser Nacht wieder gespannt, was es an Vergnüglichem zu berichten gäbe. Endlich zog Janita ihren Kopf aus der Öffnung zurück und kletterte von den Schultern ihrer besten Freundin herunter.
Sie sah ernst aus, durcheinander und fast schon traurig. Kein lautes Lachen platzte aus ihr heraus, jetzt wo sie wieder in unserer Mitte stand. Keine freudige Botschaft leuchtete aus ihren Augen.
"Morgen sollen wir ausfliegen dürfen. Sie wollen unser Häuschen öffnen und uns dem Wind anvertrauen," berichtete sie mühsam.
Sie musste sich zuerst setzen und langsam beruhigen, bevor sie weiterreden konnte.
Die Mutter aller Wesen habe sich mit dem Wind zusammengetan und beschlossen, dass morgen der beste Tag sei, um uns in die Weite schweben zu lassen, fügte Janita noch hinzu. Mehr hätten sie nicht gesagt. Die Versammlung sei nur von kurzer Dauer gewesen und unser geplanter Aufbruch der einzige Themenpunkt auf der Tagesordnung.
Es wurde still in unserem Kreis. Alle Blicke waren auf Janita gerichtet. Langsam ließen wir uns in ihrer Nähe nieder. Jeder spürte die Spannung in sich, das Hin- und Hergerissensein zwischen der Lust auf das große Abenteuer und der Angst, die aufgestiegen war bei ihren Worten.
Was mag es wohl bedeuten, dem Wind anvertraut zu werden und in die Weite zu schweben? Es klang zwar aufregend und unsere Herzen verfielen in einen lauten, schnellen Klopftakt.
Doch gleichzeitig erhob sich eine dumpfe innere Ahnung, dass etwas beängstigend Großes, Unermessliches auf uns wartete, dem wir ohne Gegenwehr ausgesetzt sein würden.
Jana war die erste, die den Kopf in die Hände stützte und anfing zu weinen. Wer weiß, ob wir zusammenbleiben konnten in dieser neuen Welt, welche Gefahren auf uns lauerten. Hier in der gemeinsamen, warmen Behausung waren wir sicher aufgehoben. Nur ab und zu hörten wir durch die Erzählungen der Großen, was sich draußen zutrug, dass es viel Schönes gab, aber auch traurige Geschichten, die uns alle betroffen machten.
Wir wussten schließlich nichts über dieses unbekannte Leben, in das wir so bald entlassen werden sollten. Vielleicht drohte ja tatsächlich Gefahr. Vielleicht bedeutete der große Tag des Aufbruchs auch gleichzeitig der Moment des Abschiednehmens, der Auflösung unserer so eng zusammengeschmiedeten Gemeinschaft.
Doch vielleicht war es auch traumhaft schön. Wir hätten mehr Raum, Luft und Abwechslung. Wir könnten die Endlosigkeit der Weite spüren, selbst am Leben der Großen teilnehmen und ausfliegen, um etwas ganz Neues zu erleben.
So begann sich nach und nach die kindliche Vorfreude in uns durchzusetzen. Die Angst verlor sich in einem erwartungsvollen Überschwang und dem letztmaligen Eintauchen in die gemeinsamen Erinnerungen.
Unsere Worte sprudelten durcheinander. Wir lachten und erzählten die alten Geschichten, als wir noch klein und unbeholfen waren, unsere ersten Krabbelversuche machten und sprechen lernten. Viel Spaß hatten wir in dieser Zeit bei dem gemächlichen Erwachsenwerden, das niemand von außen störte und das uns so eng miteinander verbunden hatte.
Wir redeten noch viele Stunden lang und gaben alles an Erinnerungen in den bunten Topf der Worte und des Gelächters. Es war eine Runde des fröhlichen Miteinanders, voll übermütiger Geschöpfe, die jedoch tief innen wussten, was bald geschehen würde.
Der nächste Tag brach an.
In unser geschäftiges Beisammensein vertieft, fiel uns gar nicht auf, dass die ersten Sonnenstrahlen erwacht waren. Sie fingen mit gewohnter Kraft an, unsere Heimat aufzuwärmen und mit angenehmem Licht zu erfüllen. Der Morgen war da.
Es wurde ruhig. Wir umarmten uns noch einmal. Dann saßen wir in engem Kreis beisammen wie eine verschworene Gemeinschaft, der niemand etwas anhaben konnte, und warteten ab.
Sanft klopfte es an unser Heim. Eine weiche, klare Stimme beugte sich über die Öffnung, die wir bisher als geheim geglaubt hatten. Es war die Mutter aller Wesen, die leise flüsterte, als sie uns mit ihrem großen Herzen Lebwohl sagte.
Sie erklärte in ruhigen Worten, wie sehr sie uns liebgewonnen hätte, jede auf ihre Art und Besonderheit. Sie sei sicher, dass wir alle unseren Weg in der Welt draußen finden würden. Zum Abschied wollte sie uns noch ein letztes großes Geheimnis, ein Geschenk unserer Gemeinschaft mitgeben.
Eine besondere, einzigartige Formel, die außer uns niemand je erfahren durfte. Eine Formel, die die Fee des Schutzes herbeirufen würde, wenn wir uns in großer Not befänden.
Dann wurde ihr Flüstern ganz leise, hauchte sie fast nur noch in die kleine Öffnung hinein: Drei Worte in einer fremdartigen Sprache, die sie klar und deutlich sagte und die wir auf immer im Gedächtnis behalten sollten. Drei Worte, mit denen uns sogleich Hilfe zuteil würde, wenn wir keinen Lebensmut mehr hätten und Angst und Leid unser Leben bestimmten in der Weite des unbekannten Lebenslandes.
So plötzlich wie die Mutter aller Wesen aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder.
Eine feierliche Stimmung berührte unseren Kreis. Stille. Uns an den Händen fassen und das Gesprochene langsam wirken lassen.
Worte als Notanker, wenn es uns schlecht ginge in dieser neuen Welt des Erwachsenwerdens.
Ganz ruhig saßen wir beisammen. Keiner war fähig, etwas zu dem zu sagen, was wir gerade erfahren hatten.
Ruhe und Vertrauen verbanden uns, eine tiefe Ergebenheit in unser Schicksal.
Schon spürten wir den nahenden Vater Wind. Mit sanfter Wucht trat er in die kleine Öffnung ein, weitete sie behutsam und stob unsere Heimstätte mit einem Mal auseinander.
Ein warmer Luftstrom hob uns heraus und nahm uns in sein Gewahrsam, ab in die Höhen der Lüfte.
Wir waren gebannt, fasziniert und voller Tränen zugleich. Ein letzter Druck der Hände und schon blies der Wind uns auseinander, jede in ihre ganz besondere Bestimmung hinaus.
Der Abschied war so schnell gegangen, dass wir nicht einmal mehr Zeit hatten für ermutigende Worte. Ein tiefer Blick in die Augen der anderen musste genügen, als letztes Zeichen der Verbundenheit, die für immer währen sollte.