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Über den Wolken
ОглавлениеSo war ich plötzlich allein. Das erste Mal in meinem Leben. Die Tränen flossen endlos in die stützenden Arme des Windes, der mich von nun an trug. Er begann, mir die bunte, weite Welt, die unfassbaren Höhen, in die er sich aufschwingen konnte, zu zeigen, sie mir schmackhaft zu machen und den Seelenschmerz der Trennung vergessen zu lassen.
Er gab sich alle Mühe, mich abzulenken und mir das Gefühl zu geben, dass ich nicht nur ein Leben verloren, sondern auch ein neues dafür gewonnen hatte.
Mit Zögern ließ ich mich auf sein Angebot ein.
Ganz langsam zeigte ich mich offener gegenüber seinem sanften Hauchen, dem Wehen durch meine Härchen und dem Trocknen der letzten Tränen.
Munter hob er mich durch die Lüfte. Er berührte zärtlich meine Haut und gab aus tiefstem Herzen alles, um mich den Abschied leichter verschmerzen zu lassen.
Ich lehnte mich zurück und fühlte mich zunehmend wie neu geboren. Langsam begann ich, die Lebensfreude zu genießen, die von allen Seiten auf mich zukam. Ich sah die zwitschernden Vögel an unserer Seite und das geschäftige Treiben auf der Erdenwelt, die unter uns vorüber zog.
Ich wurde mehr und mehr angesteckt von den vielen verschiedenen Lauten und Düften der Umgebung. Aus allen Richtungen kam sprudelnde, freudvolle Lebenslust, die überschäumende Kraft, die das Schwingen in dem alles verbindenden Herzenspol mit sich brachte. Bereitwillig schloss ich mich an diese Quelle an, von der der Wind in seinen Erzählungen so geschwärmt hatte.
Ich wurde ganz ruhig und genoss das sanfte Segeln in den Höhen der Lüfte. Lange Zeiten flogen wir zusammen, erzählten uns Geschichten, scherzten und lachten, tobten miteinander und gönnten uns dann wieder wohltuende Stille.
Wir waren ein munteres Paar. Mal schwebten wir kaum spürbar über die Wälder, dann bliesen wir so heftig über Städte und Dörfer hinweg, dass ich mich festhalten musste, um nicht verloren zu gehen.
Ich war glücklich und spürte, wie mein Herz sich weit öffnete und ich bereit war, alles hinter mir zu lassen an Vergangenheit und bisher Bekanntem.
Wie ein riesenhafter Vogel kam ich mir vor, der mit breiten Schwingen den Himmel durchstreifte. Ich war im Einklang mit den verschiedenen Lüften, Böen und Turbulenzen, dem ständigen Auf und Ab, und den gewaltigen Stürmen, die über das Land fegten. Sie sollten Unruhe und Abwechslung mit sich bringen, wenn sie durch das Geäst der Bäume, über die Wiesen und Täler rauschten. Ihre Aufgabe war es, die Menschen wachzurütteln aus ihrem täglichen Einerlei, ihren immer gleichen Gedanken und dem gewohnten Tageswerk.
Meist wurde ich begleitet von meinen neu gewonnenen Vogelfreunden. Wie oft haben wir herumgealbert oder lange Gespräche geführt. Ich erfuhr viel über die Geschichten des Lebens, über die gleichmäßige Wiederkehr der Rhythmen und Zyklen, in die wir alle eingewoben und miteinander verflochten sind.
Bald verstand ich mehr von dem Flüstern des Windes, dass er nicht wie zufällig mal sanft und dann wieder laut tosend über die Felder und Wiesen strich, sondern dass klare Gesetzmäßigkeiten herrschten. Es bestand ein Einklang zwischen der Mutter aller Wesen, den Ältesten der Tier- und Blumenfamilien und den von ihnen geborenen und getragenen Seelen.
Eine wohltuende Wärme stieg in mir auf, ein Gefühl der Geborgenheit, während der Wind mich hin- und herschaukelte und mir jeden Wunsch von den Augen ablas.
Voller Leben und Frische verliefen unsere Tage. Wir konnten uns an den Kleinigkeiten des Alltags erfreuen, an neu entdeckten Waldhügeln oder einem lange nicht gesehenen Vogelfreund.
Auch wenn es immer dasselbe schien, waren wir doch stets neu zu begeistern. Wie die Kinderwesen konnten wir staunen, die einfachsten Gaben des Lebens genießen und ihnen die große Schönheit zuerkennen, die sie mit sich brachten.
Lange schon warteten wir nicht mehr auf die Riesengeschenke aus alten Träumen. Wir gewannen unsere Freude und Zufriedenheit aus dem, was wir täglich sahen und in unseren Augen zu diesen großen Geschenken machten.