Читать книгу Der gewaltige Herr Natasian - Beate Morgenstern - Страница 5
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ОглавлениеDie Gespräche untereinander rissen selten ab. Die einen wie Paule Berlin oder der Intendant Heil sprachen fast nie über Persönliches. Andere erzählten munter von letzten Urlaubsreisen oder auch von Kindern, Enkeln. Walja, das Küken, begnügte sich, den anderen zu lauschen, gab aber getreulich Auskunft über alles, was man sie fragte. (Wem gegenüber sie ebenso bereitwillig über alles Geschehen berichtete wie den am Tisch Sitzenden, erfuhr man, als es den CdK, den Club der Kulturschaffenden, längst nicht mehr gab.)
Vorlieben füreinander gab es in der Runde wie überall. Der dem Genre des Heiteren verpflichtete Gunter Scherzer und Karlheinz Karge, der vom Leben gebeutelte Theatermann, hatten immer miteinander zu reden. Scherzer sowieso aufgeschlossen für jeden, hätte wahrscheinlich gern Walja und Sebastian Schulz befragt. Doch die saßen zu entfernt. Mit heiligem Respekt betrachtete er Irminhild, deren Düsternis ihm, dem Sonnyboy, besonders mysteriös erschien. Näheren Kontakt zu Iris Sawatzky vermied er. Den Reden der Verfasserin historischer Romane hatte er nicht das Geringste entgegenzusetzen. Schon ihre tiefe, kräftige Stimme, die bei der kleinen, schlanken Person erstaunte, verschaffte Iris Sawatzkys Worten Geltung. Üppig ihre natürliche, bis zur Taille wallende rote Lockenmähne, wasserblaue Augen, wie man dies bei Rothaarigen oft findet. Die Sawatzky ganz und gar Profil. Sah man sie von vorn, sah man sie immer auch von der Seite: die großen Augen, die lang gebogene Nase, die breiten, blassen Lippen, das eher kleine Kinn. Sie verfügte nicht nur über einen mächtigen, schnell funktionierenden Verstand, sondern als ehemalige Literaturwissenschaftlerin auch über das einen Menschen wie Gunter Scherzer, der ganz aus dem Bauch heraus schrieb, einschüchternde wissenschaftliche Vokabular. Tat sie ihre Meinung kund, verstummten alle Übrigen. Selbst Walja, die sonst sich ja von nichts schrecken ließ, wich vor Iris Sawatzky zurück. Die Sawatzky fühlte sich offenbar zu Irminhild, der Düsteren, hingezogen, obwohl sie sonst nach Art mancher besonders attraktiver Frauen aus einem Konkurrenzgefühl heraus andere schöne Frauen nicht beachtete. So übersah sie konsequent Ottilie Ehrlicher, mochte sie mit ihren Ohrgehängen und ihren Augen auch noch so klimpern. Worunter die im Übrigen gar nicht litt. Zu selbstbewusst, vielleicht auch zu selbstverliebt war sie, um die Ignoranz der Sawatzky zu bemerken. Und falls sie es bemerkte, tat sie es, großzügig, wie sie war, als ganz unerheblich ab. So leicht ließ sich Ottilie nicht kränken. Ihr galt nur eine: Irminhild. Ihr suchte sie zu gefallen. Literarisch kümmerte sich Ottilie vorwiegend um den Alltag, gerade so, wie sie ihn selbst vorfand als Frau und Mutter und Geliebte, schrieb auch hin und wieder fantastische Geschichten und sah sich da in der Nachfolge von Irminhild. Gern hätte sie auch Irminhild von sich zu lesen gegeben. (Ottilie neigte dazu, Meinungen über ihre Manuskripte einzuholen, die sie, obwohl noch nicht gedruckt, Bücher nannte in bester Überzeugung, der Verlag risse sie ihr aus den Händen, was auch geschah. Ottilie Ehrlicher versammelte, ganz anders als Irminhild, in nemezischen Gefilden eine glühende Anhängerschaft um sich.) Doch Irminhild hatte ihr bedeutet, sie müsse sich entscheiden, entweder selbst zu schreiben oder anderes zu lesen. Da war Ottilie, dann doch ganz selbstlos, sehr dafür, dass Irminhild an der immerwährenden Vollendung ihres Werkes arbeitete. Axel Harder indes, der Adlergesichtige, war weniger von Irminhild als von der Sawatzky eingenommen. Sonst ein Wortführer und immer in einer Unterhaltung beschäftigt, ließ er sich nie auf ein Duell mit ihr ein, lauschte ihr, nickte beifällig und sah dann plötzlich aus wie ein Junge, der Erwachsenen zuhört. Dass sie ihm als Frau gefiel, daran bestand kein Zweifel. Möglicherweise hatte sie ihn einmal erhört, aber höchstens kurzzeitig. Denn beide lebten in fest gefügten Ehebanden. Peter Heil, der heutige Jubilar, dagegen nahm zwar mit aufmerksamer Miene zur Kenntnis, was Iris Sawatzky zu sagen hatte, um dann, nicht immer flüssig wegen seiner sprachlichen Behinderung, seine Einwände geltend zu machen, auf ihnen zu bestehen, falls die Beweisführung der Gegenpartei ihm nicht zwingend erschien. Gern nahm dann Sebastian Schulz das Wort, der sich in dieser Runde ebenfalls leicht Gehör zu verschaffen wusste. Mit einer Stimmgewalt, die man bei dem kleinen Mann nicht vermutet hätte. Da er sich als Alleinunterhalter finanzierte, Sketche vortrug, kam ihm sein Organ sehr zustatten. Der samtäugige Federico Grosse hörte sanft lächelnd zu und erwiderte bedachtsam und profund, ein Kenner der romanischen Literatur, wie es unter den Literaten nur wenige gab, seine Sprache neigte geringfügig dem Sächsischen zu, was ihm noch mehr Charme gab. Auch er erfreute durch ein wohllautendes Sprachorgan, nuschelte aber mitunter. Da Iris Sawatzky sowohl der Person von Federico Grosse wie auch seiner Literatur überaus gewogen war und ihn als einen herausragenden Vertreter nemezischer Romanautoren schätzte, gleich nach Christa T., Hermann K. und Irminhild, während die nemezischen Leser von Grosse leider vergleichsweise wenig Notiz nahmen, überdachte sie seine Einwände ein wenig länger als die von Heil oder Harder, den Theoretikern in der Runde, oder die des jungen Schulz. Wie Iris Sawatzky ihre eigene Produktion einschätzte, ist mir nicht bekannt. Immerhin hatte sie eine große Leserschaft, was bei gängiger Schreibweise fast jeder Autor in diesem als Leseland berühmten Nemezien von sich sagen konnte. Möglicherweise behandelte sie ihr Schreiben als den Zeitvertreib einer Literaturwissenschaftlerin, die unter diesen jämmerlichen Voraussetzungen (in der SRR Nemezien) sich lieber ins Reich der Fantasie begab. Wäre ihr historisches Interesse nicht so groß und der Markt hierfür günstig gewesen, hätte sie sich mit grimmiger Freude genauso gut an die Weiterführung der Tradition von Courths-Mahler machen können. Paule Berlin beteiligte sich an den Gesprächen mit einem gelegentlichen Einwurf. Sollten sich die Jüngeren tummeln! Wo er es für angebracht hielt, fragte er in kleinen, privaten Gesprächen nach persönlichen Kümmernissen. Ihm war ja nichts lieber, als für jemanden die Maschinerie in Gang zu setzen, über die er verfügte. Zwischen ihm und Federico Grosse entspannen sich des Öfteren Unterhaltungen über Bücher, die in Frankreich gerade von sich reden machten. Dann wurde natürlich Axel Harder von Sinn und Wahn aufmerksam, Literatur war schließlich sein Geschäft wie seine Leidenschaft. Der Adlergesichtige hob seine dichten Brauen, riss seine kleinen Augen auf und fragte Paule oder Federico: Ach ja, bist du wirklich der Meinung? Er folgte den Ausführungen, wobei er die Finger seiner rechten Hand gegen seine rechte Gesichtshälfte presste, das Fleisch darin verformte und den Mund öffnete. Ich hätte eher gedacht ...!, sagte er dann, breitete nun aus, wie er zu diesem oder jenem literarischen Ereignis in Frankreich stand, wobei er seine Augenbrauen hob und senkte, ein Lächeln seinen Mund umzuckte, und er mit großer, männlicher Eleganz seine Hände bewegte. Obwohl ein Gewächs hiesiger Breiten, hatte er etwas von der Leichtigkeit und Galanterie, die man den Franzosen nachsagt. Am Ende seiner Ausführungen zuckten seine Augenbrauen noch einmal, er schaute mit kleinen aufgerissenen Augen jungenhaft staunend, ein kleiner Trick, und sagte dann mit einem ganz berückenden Lächeln, das seine obere nicht ganz vollständige Zahnreihe sichtbar machte: Ich kann mich natürlich auch irren. Den Entgegnungen folgte er wieder mit einem aufmerksamen: Ah ja, ah ja! Für Argumente war er immer zu haben.
Den jungen Schulz, Axel Harder und Jubilar Peter Heil einte die Liebe zum Fußball. Alle natürlich Union-Fans, obwohl dem staatlich geförderten SC Dynamo absolut unterlegen. Union zu unterstützen stellte einen quasi subversiven Akt dar. (Selbst heute noch, im Jahr 2008, besitzt Union, der ewige Verliererverein, eine durch nichts zu erschütternde Anhängerschaft. Vielleicht will man sich nun gegen den Westberliner Hertha BSC abgrenzen.) War vom Fußball die Rede, hob gelegentlich Dieter Kerschbaumer seine Hand, bis jemand seine Meldung kopfnickend bestätigte. Dann sagte er mit schwacher Stimme in schönstem nemezischen Anhaltinisch: Die Jungs sind klasse! oder etwas in der Art, und auf seinem unegalen eckigen, mageren Blondgesicht machte sich ein diffuses Lächeln breit.
Stilles Einverständnis herrschte sowieso zwischen Paule Berlin und Karlheinz Karge, denn sie waren diejenigen, die im CdK sozusagen ihr Zelt aufschlugen von mittags zwölf bis abends, obwohl sie weder Gegensätzliches noch Gemeinsamkeiten verbanden. Selbstverständlich hing Gunter der Heitere Paule Berlin wie allen, die seinen Lebensweg begleiteten, in großer Treue an.
Dass sich die alte Berta Watersloh von Adlershof in die Stadt hineinbegab, zeugte von robuster Gesundheit und dem Willen, immer noch am Leben teilzunehmen. Die Glanzzeit ihres Wirkens lag Jahrzehnte zurück, noch etwas länger als bei Karlheinz Karge, was aber ihre Autorität nicht schmälerte. Sie war sozusagen die Alterspräsidentin. Im Übrigen vergaß niemand, dass sie über Jahrzehnte Nachbarin und Weggefährtin der großen alten Dame gewesen war und sich ihr gegenüber Rechte herausgenommen hatte wie sonst keiner. Anna, es war ein Fehler, dass du nach Nemezien gekommen bist! Deinem Werk wäre es besser bekommen, wärest du nach Deutschland gegangen! (In ihre Geburtsstadt Mainz zum Beispiel, Heimstadt des Zweiten Deutschen Fernsehens.) So hatte Berta Watersloh gesagt und wiederholte ihre Meinung des Öfteren in dieser Runde. -Diese dickleibigen Romane der großen alten Dame, in denen sie sich um die Entwicklung Nemeziens sorgte und die ihre Kraft verbrauchten, hatten Schüler wie Germanistikstudenten und wen noch gequält und sie selbst verschlissen. Wie großartig war dagegen ihr Frühwerk und wie berührend ihre späten Erzählungen! Berta Watersloh war eine resolute Person, weshalb man sie keinesfalls einen Schatten der alten Dame nennen konnte. Eher war sie der Knüppel aus dem Sack, der selbst auf die vergötterte Anna eingeprügelt hatte. So oder so: Den Anwesenden schien es, durch Berta Watersloh weilte immer noch die große alte Dame unter ihnen. Berta ließ die Gespräche laufen, hörte mal zu Paule hin, mal auf Federico Grosse, der darauf achtete, dass sie sich immer beteiligt fühlte. Federico Grosse ein Kavalier der alten Schule, zu Frauen stets liebenswürdig. Ein Frauenverehrer und Frauenverzehrer, wenn auch nicht in Ausmaßen wie Gunter der Heitere. Obwohl ihm die normale Körperhöhe durch eine Stoffwechselkrankheit verwehrt geblieben war, wurden Frauen schwach, schauten sie in seine großen blausamtenen Augen. Er lächelte, dass sich seine Mundwinkel wie bei der lachenden Theatermaske weit nach oben verschoben. Ein nahezu menschenfresserisches Lächeln hatte er. Ach, und seine kleinen schwarzen Locken (gefärbt allerdings nun schon)! Und überhaupt dieses Gesicht, trotz runder Nase erinnerte es an den Dichter Pablo Neruda, vielleicht der runden Stirn, der ausgeprägten Tränensäcke wegen, dieses Ovals, das sich aus Augen und Augenringen ergab. Und ein ganz klein wenig gemahnte er an den unvergessenen Fernandel. In einem nachnemezischen Roman würde er sich als Weißer Clown gefallen. Vielleicht die Rolle seines Lebens, denn in den Jahrhunderten zuvor hätte man ihn sicher gern in den Zirkus verfrachtet. Und reden konnte er, reden! Ach, mit so schöner Stimme, wenn leider bisweilen sehr vernuschelt, so kenntnisreich! Übrigens ohne dem anderen, in italienischer, spanischer, portugiesischer Literatur wenig Bewanderten das Gefühl der Unterlegenheit zu geben. Er plauderte mit Berta Watersloh beispielsweise ganz artig über Katzen, von denen er mehrere besaß. Sein ausdrucksvolles Gesicht hatte immer ein Lächeln bereit für Sinn und Unsinn dieser Welt. Auch die Übrigen schauten hin und wieder, ob Berta sich noch beteiligt fühlte. Karlheinz Karge erhob nicht selten seine tiefe, einem Dramatiker gut anstehende Stimme und fragte Berta jetzt zum Beispiel über den halben Tisch hinweg: Und wie geht's, Berta? Hast du wieder was von deiner Schwester gehört? Wann machst du dich wieder nach Israel auf! Karge und Berta hatten dieselbe Liebe zu diesem Landstrich. Bertas Schwester und deren zahlreiche Familie wohnten in einem israelischen Kibbuz. Karge bereiste Palästina und nahm sich der Sorge der Palästinenser an. Um Bertas Antwort zu hören, verstummten die Übrigen. Es war schon etwas außergewöhnlich für Nemezien, dass eine alte Frau einmal im Jahr für Wochen nach Israel reiste. Und da wiederum in ein Kibbuz, aufs Dorf, in eine landwirtschaftliche Genossenschaft, wie es die in der nemezischen Republik ja auch gab. Nur hatten die hier inzwischen Ausmaße angenommen, dass sie eher industriellen Kombinaten als Produktionsgemeinschaften ähnelten. Wie zerrissen mussten die Seelen der nach Nemezien zurückgekehrten Emigranten jüdischer Herkunft sein, von denen viele diesen Staat mit aufgebaut hatten, wenn sie an Israel dachten. Das Land ja. Die Politik nein. Doch diesen in hohen Führungspositionen tätigen Genossen, Verdrängung, Disziplin in ihrem Leben, oberstes Gebot.
Walja sagte mir, erst, als Paule sie zum Stammtisch eingeladen habe, sei ihr klar geworden, wie viele unserer älteren Kollegen jüdischer Herkunft waren. Ja, selbst die große alte Dame sei jüdisch gewesen, was doch in keinem Schullesebuch stand. Natürlich wusste man die Abkunft des verstorbenen Stammtischinhabers Peter Hilfreich durch seinen Roman, der von der Nefa in früheren Zeiten eindrucksvoll verfilmt worden war. Ehe hinter der Sonne. Noch wurde sein Name am Stammtisch erwähnt. Der verstorbene Peter Hilfreich übrigens der Einzige, bei dem Walja im Nachhinein wegen seines Aussehens gedacht hatte, ja, na klar. Ob ich gewusst hätte, fragte sie mich, dass er sich in Auschwitz durch sein Zeichentalent gerettet habe. Ich wusste es nicht. Ja, sagte sie, er wurde Fälscher, hat für die Nazis Geld gefälscht, Dollar wahrscheinlich. Umso tragischer, dass er dann doch, Jahrzehnte später, aber zu früh, durch Blutkrebs hingerafft wurde. Bis fast zuletzt sei er noch im CdK gewesen und habe seine Witze darüber gerissen, dass nun wieder sein jüdisches Blut gewaschen würde mit dem Blut mehr oder minder ehrlicher Sozialisten-Gois. Paule hat Walja ebenfalls berichtet, wie er vor den Nazis geflüchtet sei. Es sei aber ein so abenteuerlicher Weg gewesen, zu viele Stationen, und er habe leise geredet, weshalb sie seine Erzählung komplett vergessen habe. Berta habe durch die Ehe mit einem Herrn Watersloh überlebt. Iris Sawatzky war ein Emigrantenkind. Ihre Eltern habe gerettet, dass sie Kommunisten waren und deshalb fliehen mussten, als die Nazis an die Macht kamen. Ebenso wie Peter Heils Eltern. Die hatten lange Zeit in Hongkong gelebt, bis der Vater die Untätigkeit nicht mehr ausgehalten habe und nach Serbien gegangen sei, um als Arzt gegen die Faschisten zu kämpfen. Heils Mutter Krankenschwester. Den Schabbat habe Heils Mutter nie vergessen. Sie habe am Freitagabend immer bei Einbruch der Dunkelheit zwei Kerzen angezündet und etwas gesprochen. Aber das hatte Walja nur durch intensives Ausfragen herausbekommen.
Man hatte ein Auge auf Berta, musste aber nicht besorgt sein. Denn sie machte nie den Eindruck, allein gelassen zu sein. Ihre kleinen, nüchternen Augen im faltigen Alltagsgesicht, das auf den ersten Blick nichts Besonderes erkennen ließ, weder geistige Interessen noch irgendetwas Jüdisches, sahen mal auf den, mal auf den. Wenn sie einen Satz hörte, der ihrer Auffassung und Erfahrung widersprach, so sagte sie etwas. Von ihr hatte Walja außer dem Satz über unsere große alte Dame noch einen weiteren behalten, der ihr lange zu denken gegeben habe: Leiden macht nicht besser!
Irminhild bewegte sich im Kreise ihrer Frauen. Frohgelaunt versuchte Gunter Scherzer diesen zu sprengen, wollte wenigstens Ottilie für sich gewinnen, deren Ohrgehänge so lustig klimperten und blinkerten und deren lilafarbene Augen so glänzten, und ihre Glieder so schlank und rank und der Busen so niedlich, ganz entzückend trotz zweier Kinder. Na, Ottilie, ist das Leben noch frisch?, fragte er dröhnend. (So einfache Sätze kamen bei dem berühmten Schwänkeschreiber manchmal vor.) Er beugte seinen Oberkörper weit nach vorn, da Ottilie auf seiner Seite saß, sodass er zunächst nur die Ansicht ihres Profils erhaschte. Ottilie schüttelte den Kopf, lächelte dann doch. Gunter war unverbesserlich! Seine Schwäche für Frauen machten ihn ja nicht zum schlechten Menschen. Aber ja!, du kannst versichert sein, es ist frisch, ganz frisch! sagte sie mit heller Mädchenstimme, sandte ein reizendes Lächeln zu dem Mann, dem angeblich keine Frau widerstand, wandte sich dann ostentativ Irminhild zu, die gerade wieder von Iris Sawatzky unterhalten wurde. Irminhilds Miene wie meist düster-unbeweglich, die Augen groß, durch die starke Schminke schwarz erscheinend. Wegen ihrer kraftvollen Gesichtszüge und ihres voluminösen Hauptes, durch die Haartracht um das Doppelte und mehr verbreitert, erschien sie wie eine Sphinx. Und wenn sich Gunter der Heitere, der unverbesserliche Frauenheld selten erkühnte, Irminhilds Ruhe zu stören, so konnte er sich doch nicht sattsehen an ihr. Die Stirn von einem Pony bedeckt, die dichten schwarzen Augenbrauen sichtbar. Diese schwarzen, bis auf einen Spalt geschlossenen Augen! Die kräftige, gerade Nase, der gut ausgeformte volle Mund, das runde Kinn, die noch nicht zu vollen Wangen! Ottilie hatte Gunter Scherzer wieder einmal kurz abgefertigt. So beließ er es bei dem bloßen Anschauen der Damenwelt, glitt, nachdem er Irminhild ausgiebig betrachtet hatte, scheu über die rotwallende Haarmähne der scharfzüngigen Historienschreiberin, die er ebenfalls nur geradeso im Profil vor sich hatte. Auch das Küken war so übel nicht. Dieses schaute wie stets zu Irminhild hin, an deren Seite sie sich geschmuggelt hatte. Iris Sawatzky hatte ihren Gedanken Raum gegeben. Irminhild öffnete den Mund, was sie in größeren Runden selten tat. Es war ratsam, ihren leise grollenden Reden wie einem Gedicht zu lauschen, denn der Sinn ihrer Rede erschloss sich nie sofort und hatte nur im ersten Satz noch scheinbar mit dem zu tun, was ihr Vorredner gesagt hatte, in dem Fall war es Iris Sawatzky gewesen. Manches, was sie sprach, blieb ganz im Dunklen, was daran liegen mochte, dass sie aus einem Zusammenhang heraus redete, der anderen unbekannt war. Wahrscheinlich befand sie sich in einem dauernden inneren Monolog, der bei Gelegenheiten in lautes Sprechen überging. Oder an ihrer Neigung zu Halbsätzen. Oder an dem leisen und vergrollten Sprechen. Aber dass sie von Unheil sprach, von Bedrohung dieser Welt und nemezischen Zuständen, die alles befürchten ließen, konnte man auf jeden Fall heraushören. Irminhild wie eingesponnen in Düsternis, aus der heraus sie, wie gesagt, komplizierte, fantastische Hexen- und Heldinnenromane schuf. Der dunkle Sinn ihrer Rede verstärkte den Eindruck des Rätselhaften ihrer Erscheinung.
Irminhild hatte aufgehört zu sprechen, gab wieder die unnahbare Sphinx ab. Ottilie ergriff das Wort, bevor es ihr etwa das Küken entreißen konnte. Wollte die es doch tun, würde Ottilie mit festem Ton und leicht bebenden dünnen Lippen sagen: Entschuldige, Walja, aber ich hatte gerade zu dem Thema noch etwas beizutragen! Ottilie sprach zu dem, was sie meinte, als Thema bei ihren Vorrednerinnen herausgehört zu haben, ging dann zur Schilderung ihrer gegenwärtigen literarischen Produktion über, in der Meinung, man sei auch in dieser Runde brennend an ihrer literarischen Produktion interessiert, redete also wie zu treuesten Leserinnen in der ganz und gar irrigen Auffassung, dass unter Autoren in schöner Kollegialität Anteilnahme für die gegenseitige Arbeit bestehe. Sie selbst hörte ja ruhig und einigermaßen aufmerksam darauf, wenn andere etwa berichteten, was die selten taten und in der Regel nur, wenn sie befragt wurden. Wohl hatten sie das Bewusstsein, alle aus demselben Zoo zu kommen, jeder in einem anderen Käfig mit sich allein in diesem erschöpfenden, einsamen Beruf, was eine gewisse Leidensgenossenschaft und Duldsamkeit füreinander schuf. Die Arbeiten anderer allerdings las man nur, wenn sie empfohlen worden waren oder eine intimere Freundschaft bestand. Es war wie in einer Familie, man gehörte zueinander, ob man sich besonders schätzte oder nicht. Ottilie Ehrlicher, Gunter der Heitere waren die Ausnahmen. Auch der samtäugige Federico Grosse war sich für Rezensionen von Kollegenarbeiten nicht zu schade. Federico, der stolze Spanier, hatte das seltene Talent, dass er sich von seiner eigenen Produktion lösen konnte. Weder lähmte ihn häufig anzutreffende Mittelmäßigkeit in den Werken anderer beim eigenen Schreiben, noch erfüllten ihn Konkurrenzgefühle. Oder er wusste beides gut zu beherrschen. Dass Paule immer ein Auge auf die Literatur der anderen hatte, hing mit seiner Neugier wie mit seiner Faulheit zusammen, selbst etwas zu Papier zu bringen. Axel Harder, Redakteur von Sinn und Wahn, war natürlich grundsätzlich über alle literarischen Ereignisse auf dem Laufenden. Doch in seine Zeitschrift gelangte nur ausgewählte nemezische und andere deutschsprachige Literatur. Diesen Olymp zu erreichen, hatte Ottilie keine Chance. Mindestens nach dem zweiten, wenn nicht schon nach dem ersten Buch war klar, wozu es der Autor bringen oder nie im Leben bringen würde. Schnell war die Literatur eines jeden einer bestimmten Klasse zugeordnet. Peter Heil, der Jubilar, wiederum war Theatermann und konnte sich seine Lektüre außerhalb der Dramatik nach Geschmack und Laune erlauben. Auf Empfehlung Axel Harders hatte er sicher etwas von einem hoffnungsvollen Nachwuchsautor wie Sebastian Schulz gelesen und selbstverständlich von dem hochgeschätzten jungen Poeten Urs Gelbschuh und sowieso alles, was Carl Nickel veröffentlichte, der aus Leipzig stammende Dichter. Natürlich war er über die Produktionen von Christa T., Hermann K. (Scherzers Hörmann) auf dem Laufenden. Auch die Romane von Federico Grosse standen in seinem Bücherschrank und selbstverständlich Volkhard Brauners Schulze und Lehmann. Aber die 150 Seiten eines Hexenromans von Irminhild, die er einmal gelesen hatte, genügten ihm ein für alle Mal als Lektüre von dieser Autorin. Und so sehr er Iris Sawatzky als Gesprächspartnerin schätzte, ihre Werke beachtete er ebenso wenig wie die von Ottilie Ehrlicher, konnte den Erzeugnissen nemezischer Autorinnen sowieso wenig abgewinnen. Der kluge, heitere Peter Heil hielt sich eben lieber an Weltliteratur.
Vielleicht schon seit Stunden fläzte sich Kater Kasimir auf einem Sockel, der einstmals der Platz einer Büste des Augsburgers gewesen war. Kasimir war auf den Bronzekopf gesprungen und hatte ihn so zu Fall gebracht. Die Büste war repariert worden. Doch Kasimir hatte inzwischen die erhöhte Aussicht als seinen Lieblingsplatz auserkoren, besaß dort einen idealen Überblick über die ganze eher kleine Lokalität. So brachte es Lothars Personal nicht fertig, ihn zu vertreiben. Für den Fall, dass einmal ein sehr bedeutender Gast die Räumlichkeit betrat, würde man die Büste aus dem Schrank holen. Kasimir war ein überaus stattlicher Kater, doppelt so groß wie städtische, beige-grau-getigert mit weißen Pfoten und zwei miteinander verbundenen weißen Flecken am Bauch und einem großen rhombusförmigen Flecken, der sich von seiner Brust über seinen Hals bis in sein Gesicht hinein zog, die Spitze ragte in die Stirn hinein. Unter der Nase ein schiefer beiger „Schmutzfleck“. Auffällig waren seine großen schwarzumrandeten gelben Augen, deren Blick sich oft unverwandt auf einen seiner Betrachter richtete. Einen größeren Menschenfreund unter den Katzen als Kasimir ließ sich nicht denken. Dass er Zutrauen zu jedermann hatte, wurde ihm von jenen im CdK Weilenden als Falschheit ausgelegt, denen Treue als Synonym für sklavische Ausrichtung auf ihre Person galt. Doch die mochten sowieso lieber Hunde und hielten sich vom großherzigen Kasimir fern. Obwohl er den Menschen unerschütterliches Vertrauen entgegenbrachte, bewahrte Kasimir seine Würde. Keinesfalls kam er auf Zuruf. Solange ihm danach war, ließ er sich streicheln. Wurde ihm die Liebkosung zuviel, zeigte er dies durch Wegducken an. Wurde das Signal übersehen, riss er, ohne einen Mucks zu tun, sein Maul auf. Beachtete man auch dieses Zeichen nicht, hatte man ein Fauchen, wobei der Kater die Zähne bleckte, einen Tatzenhieb oder einen kurzen, harmlosen Biss zu gewärtigen. Die meisten liebten Kasimir und erkannten sein Recht auf freie Entscheidung und seine allgemeine Menschenfreundlichkeit an. Vor allen anderen hatte der nach Katzen närrische Federico Grosse den Kater ins Herz geschlossen. Er reckte sich zu dem Sockel, auf dem der Kater am liebsten ruhte, mal hing der Schwanz der Länge lang am Sockel herunter, mal fläzte er, sodass eine Vordertatze herunterhing. Federico stützte sich mit der einen Hand auf seine beiden Krücken, streichelte mit der anderen. War Kasimir nicht zu finden, machte Federico sich auf die Suche, hob auch mit einer Krücke die langen Vorhänge. Wenn dies nichts brachte, erkundigte er sich bei Lothar nach dessen Verbleib, der, sobald es ihm zeitlich möglich war, alle nahen Lieblingsplätze des Katers im CdK absuchte. Hatte er ihn entdeckt, lockte Lothar ihn mit einem Leckerbissen, den Federico bei sich getragen hatte, zu dem kleinen, interessanten Mann. Dessen große blaue Samtaugen bekamen noch mehr Glanz, und sein Mund ging vor Freude bis fast zur Gesichtsmitte hinauf. Federico gab dem Kater dann weitere Leckereien, streichelte ihn, worauf der ein mordsmäßiges Schnurren begann. Auch Irminhild hatte eine besondere Affinität zum Kater, nicht verwunderlich bei einer, die Hexenromane schrieb, ebenso Paule, der Geheimniskrämer. Doch auch der bittere Karlheinz Karge trieb mit dem Kater gern seine Spielchen. Bei der Gelegenheit konnte man sehen, dass er durchaus zu liebreichem Lächeln fähig und nur durch Umstände gebeutelt war. Sonnyboy Scherzer liebte alles auf der Welt, also auch Katzen. Selbst der dünne Dichter Dieter Kerschbaumer fuchtelte gern mit einem Zeigefinger vor der Schnauze Kasimirs herum, ehe er denselben sachte in das beige getigerte Fell tauchte und dort kleine Kreise drehte. Einzig Ottilie Ehrlicher hielt respektvollen Abstand zu Kasimir. Einer Allergie wegen, sagte sie, ihre Augenbrauen hebend wie so häufig, wenn sie ihren Worten, auch den einfachsten, Nachdruck zu verleihen suchte. Sie war eine ernsthafte Person mit ernsthaften Ansichten und Aussagen. Wahrscheinlich hatte sie einmal mit Kasimirs Krallen flüchtige Bekanntschaft gemacht, da sie zu zielstrebig auf ihn zugegangen war.
Die Herkunft von Kasimir lag im Dunkeln. Eines nachts war er Lothar, dem Kellner, auf der Straße gefolgt, hatte sich vor seiner Haustür niedergesetzt und ihn unentwegt mit seinen großen, gelben Augen ausdrucksvoll angeschaut, ohne einen Laut von sich zu geben. Lothar, müde vom Tag und ohne Widerstandskraft, hatte dem Flehen, diesem sprechenden Katergesicht nicht standgehalten und ihn in seine Wohnung genommen. Damals war Kasimir schon so wohlgenährt wie heute. (Lothar hatte sich erst ohne und dann mit Kasimir auf der Waage in seinem Bad gewogen. Der Kater wog 16 Pfund. 15 Pfund davon waren sicher auf seine enorme Größe zurückzuführen und eines auf seinen Wanst und seine Polsterung hier und da.) Und weil Kater Kasimir ein unglaublicher Menschenfreund war, also nie etwas böses erfahren hatte, konnte man sich nicht denken, weshalb er seine vorige Anhängerschaft verlassen hatte. Von Herrschaft mochte man nicht reden bei Leuten, die vorher Kasimirs Unterkunft gestellt und sich für seine Nahrung verantwortlich gefühlt hatten. Denn immer war es Kasimir, der herrschte. Als Lothar am nächsten Tag zu seinem Dienst ging, folgte ihm Kasimir, ohne Widerspruch zur Kenntnis zu nehmen. Er lief in einigem Abstand hinter ihm zur Straßenbahn, sprang hinein, als er sah, dass Lothar einstieg, trottete ihm zum Club der Kulturschaffenden nach. Bisweilen mochte er den Club nicht verlassen, wenn Lothar ging, setzte sich mit Krallen und Zähnen einer Mitnahme zur Wehr, ohne Lothar ernsthaft zu verletzen. Kasimir, der Hühnerknochen durchbeißen konnte, gab nur milde Proben seiner Möglichkeiten, die aber Lothar als Willensbekundung des Katers genügten. Inzwischen beugte sich Lothar Kasimirs Launen. Wollte der Kater über Nacht alleiniger Herrscher im CdK sein, sollte er es. Reinlich war er. Lagen morgens Bücher auf dem Boden der Bibliothek, konnte keiner beweisen, dass sich etwa Kasimir ein Regal als Schlafplatz erkoren hatte und zu Werke gegangen war wie bei der Entthronung des Augsburgers. Im Normalfall aber brachten die nächtlichen Gespenster im CdK nichts durcheinander.
Lothar trug flinkbeinig ein Tablett mit Sektgläsern herbei. Gleich käme Essen. Offenbar für Kasimir ein Zeichen, seine Konsole zu verlassen. Er sprang hinunter und seinem Lieblingsmenschen entgegen. Ein anderer wäre gestolpert, gefallen. Nicht so Lothar. Der hüpfte über den hundegroßen Kater hinweg, balancierte das Tablett aus, als sei das eine einstudierte Nummer, akrobatische Künste, die Kasimir ihm abverlangte. In Lothar hatte der Kater sich den richtigen Herrn erwählt, denn der war Zögling der Staatlichen Artistenschule im nemezischen Berlin und nach seiner aktiven Zeit dort Lehrer gewesen. Warum er weggegangen war, darüber sprach er nicht. Vielleicht war er missliebig geworden.
Dreizehn Gläser, exakt, sagte Lothar, servierte, sich elegant an seinen Gästen vorbeiwindend.
Zwölf!, widersprach Ottilie. Sie zählte die Runde ab. Zwölf! wiederholte sie. Lothar schüttelte den Kopf. Ottilie zählte noch einmal, kam wieder auf die gleiche Zahl.
Ottilie!, sagte Gunter Scherzer, lachte laut schallend, wobei er die herrlichen Zähne seines vorgewölbten Gebisses entblößte, bis ihm Wasser in die Augen trat. Du ...! Erschöpft rang er nach Atem. Du zählst dich selbst nicht mit!
Ottilie zählte noch einmal. O Gott, sagte sie, schlug ihre Hände vors Gesicht. Ihre lilafarbenen Augen weiteten sich, füllten sich mit Tränen. Ich, ich ... also, immer hab ich ... , also ich wollte doch!, stotterte sie.
Iris Sawatzky lächelte süffisant. Liebe Ottilie, das kommt dabei raus, wenn man zu selbstlos ist!, sagte sie mit ihrem schönen Bassbariton. In Zukunft solltest du dich selbst ein klein wenig wichtiger nehmen!
Ich bin ja bloß Kandidatin, piepste Walja, die einen Schrecken bekam, sobald in ihrer Gegenwart jemandem ein kleines Unglück widerfuhr. Auch war ihr die Zahl 13 nicht geheuer. Sie wies auf ihre schriftstellerische Nichtvolljährigkeit hin. Da sie noch nicht genügend veröffentlicht hatte, befand sie sich beim nemezischen Schriftstellerverband erst im Stande einer Kandidatin.
Peter Heil schaltete sich ein. Seine durchsichtigen weit auseinanderstehenden Augen umspielte ein kleines Lächeln. Sehen wir es mal so, Ottilie, schlug er vor. Ich b ... Seine Lippen zitterten. Er begann erneut und nun fehlerfrei den Satz. Ich bin das Geburtstagskind ... Sein Unterkiefer bebte, er machte eine winzige Pause. Und ihr seid meine Gäste. Rabbi Joshua und seine zwölf Jünger! Du hättest es nicht besser arrangieren können. Nun arbeitete seine Zunge mühelos. Seine Augen blitzten voller Schalk. Er öffnete den Mund. Sein Leib wurde von einem lautlosen Lachen erschüttert.
Den Vorschlag nahm man in der Runde mit einem Glucksen und Grienen an. Nur Berta Watersloh, die Alterspräsidentin, fand sich wahrscheinlich etwas albern in der Nachfolge des viel jüngeren Theatermannes und machte gar kein Gesicht, sah also aus, als dächte sie nach, ob morgen schönes Wetter zu erwarten sei und sie ihre Wäsche auf dem Adlershofer Balkon aufhängen könne. So ward Ottilie über ein ihr zunächst unverzeihliches Missgeschick hinweggetröstet. Mit feuchten Augen blickte sie in die Runde, lächelte dann ganz liebreizend, was besonders das Herz des heiteren Gunter rührte. Und selbst Sebastian Schulz, nahezu kahlköpfig, aber noch jung und mitunter zur Bissigkeit neigend, bedachte sie mit einem freundlich-jungenhaften Grinsen. Er, der Jüngste nach Walja, der Kleinste nach Federico Grosse, nahm denn als Erster entschlossen sein Sektglas in die Hand, stand auf, worauf die anderen sich ebenfalls erhoben. (Außer Federico Grosse, der im Sitzen eine bessere Figur abgab.) Sebastian sagte laut und ohne seine Stimme im Geringsten anzustrengen: Auf die nächsten 65, Peter! Munter zwinkerten seine braunen Augen.
Da sei Gott vor!, antwortete Peter Heil. Soviel sein Mund auch bebte, zuckte, er brachte doch einwandfrei das nächste Wort heraus: Bitte nicht! Etwas weniger würden mir auch genügen!, bemerkte er dann bescheiden.
Sagen wir gleich 35!, ließ sich Iris Sawatzky vernehmen.
Und Gesundheit natürlich, Peter!, sagte Berta Watersloh einfach.
Schaffenskraft, piepste Walja.
Und Manneskraft!, schmetterte Gunter Scherzer. Worauf Peter Heil belustigt seine Augen aufriss, seine Augenbrauen zuckten.
Und Willenskraft, dem täglichen Schlamassel zu entkommen, setzte Federico Grosse aus seiner sitzenden Position hinzu.
Und Einfälle, die keine Reinfälle werden, gab der dünne Dichter Dieter Kerschbaumer mit hauchzarter Stimme einen für ihn untypischen Kalauer zum Besten.
Das brachte den bittersinnigen Dramatiker Karge auf die Idee, dem Theaterintendanten mindestens 20 Vorhänge pro Abend zu wünschen.
Gottes Segen!, sagte der Paule Berlin, der dem Jubilar ein Hintertürchen für alle Fälle offen halten wollte.
Oja, oja, man ... kann nie wissen!, antwortete Peter Heil. Seine Lidschläge wurden häufiger: Er war gerührt.
Der eloquente Axel Harder kratzte mit zwei Fingern nervös am Haaransatz, wodurch sein dunkles Haar über der Stirn noch mehr aufstand und einem zerrupften, dunklen Hahnenschwanz ähnelte. Durch die plötzliche Wunschaufreihung nun auch er gefordert. Allerhand war schon gesagt worden. Und dann lächelte der Adlergesichtige sein ganz berückendes Lächeln, wobei er Augenbrauen und Lippen hob und seine Zahnlücke Walja wieder zum Nachdenken reizte, und sagte: Mögest du dich täuschen, wo es angebracht ist, und nicht täuschen, wo es von Übel wäre. Denn ohne Täuschung lässt es sich nicht leben. Du als Theatermensch weißt es besser als andere: Das ganze Leben ist eine Täuschung, ein Hokuspokus. Aber manchmal kann Täuschung auch fatale Folgen haben. So subversiv sprach Axel Harder.
Allerdings, sagte der kluge Peter Heil und tupfte sich die inneren Augenwinkel.
Also die vermeide!
Und dass du noch dahinter kommst, warum, was und wie, sagte Irminhild. Unter ihren halb gesenkten Lidern loderte ein Feuer auf. Man verstand, sie war imstande, Männerherzen in Flammenmeere zu verwandeln, worauf Peter Heil prompt ein wenig mehr Farbe in sein helles Gesicht bekam. Er dankte für den Wunsch nach Erlangung von Weisheit. Wenn der verehrungswürdigen Kollegin so daran gelegen sei, würde er sich wirklich bemühen, ein Leben lang, dem Warum, Was und Wie auf die Schliche zu kommen, bemerkte er.
Einen frohen Sinn, flötete Ottilie Ehrlicher mit ihrer Amselstimme, die Augenbrauen bedeutsam gehoben. Ihr silbernes Ohrgehänge klimperte. Und eben alles erdenklich Gute!, fügte sie aus ehrlichem Herzen hinzu für den Fall, dass irgendein Wunsch nicht ausgesprochen war.
Nun endlich tranken sich alle zu und setzten sich.
Eine kurze Zeremonie war es gewesen, aber immerhin besser als gar keine. Vielleicht fruchtete die Erfahrung, die die meisten als Teilnehmer von Delegationen ins Sowjetreich gemacht hatten. Dort allerdings waren bekanntlich Minuten bis Viertelstunden füllende Trinksprüche üblich, und nach jedem hatte man ein Glas zu leeren, weshalb, wenn alle ihre Wünsche ausgesprochen hatten, man im Kopf ganz schwummrig war und weniger Trinkfeste auch schon mal unter den Tisch rutschten. Nicht so also die zwölf um Peter Heil. Sparsam ging man mit Worten um. Und auch - zunächst - mit Getränken. Nemezische Nüchternheit herrschte. Dann allerdings leerte Iris Sawatzky ihr Glas zur Gänze und auch der in den 60er, 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts so bewunderte Dichter Dieter Kerschbaumer, der immer noch sein Gewerbe verstand, weshalb der aufmerksame Lothar eilte, um nachzuschenken.
Nun brachte er auf heißen Tellern, vier mindestens auf jedem Arm, die gewünschten Speisen herbei. Die Gastlichkeit im CdK eher bescheiden. Die seltene Gelegenheit, so viele Gäste auf einmal zu bedienen, nahm er zum Anlass, Proben seiner Jonglierkunst zu bieten. Da er keine Hand frei hatte, bat er die Gäste, die er zuerst bediente, mit dem asiatischen Lächeln eines Paul Wegener die Speisen von seinem Arm selbst herunterzunehmen. Bevor er sich auf den Weg machte, hatte er vorsorglich den Blick über den Boden schweifen lassen. Denn derart beladen wäre ihm das Kunststück, über Kater Kasimir zu hüpfen, schwerlich gelungen. Kater Kasimir aber hatte es sich unter der Tafel bequem gemacht. Obwohl es Federico Grosse wie Irminhild nach dem Kater verlangte, legte er sich ausgerechnet auf Ottilies Füße. Die wagte nicht sich zu rühren aus Angst, der Kater könne ihre Strümpfe zerreißen oder ihr gar in die durchtrainierten Waden beißen. Da der Kater in der Runde so wohlgelitten war, sprach sie nur leise zu Walja von ihrer Pein. Worauf die gutmütige Walja den Kater heimlich mit einem Stück von ihrem Wiener Schnitzel zu sich lockte. Es war verboten, den Kater zu füttern. Lothar ernährte ihn salzarm mit gekochtem Fisch, Schabefleisch und dergleichen, was von der Küche für den Kater gleich mitbestellt wurde. Wie Walja mir kleinlaut berichtete, gab sie das Stück Fleisch ungern her und beichtete mir, dass sie die Einnahmen aus Stipendien des Kulturfonds lieber in sogenannte "Exquisit-Läden" trug, wo man westliche wie ausgesuchte nemezische Textilien zu hohen Preisen erwerben konnte, als die für ihre Nahrung zu verwenden, während es die Nemezen gerade umgekehrt machten und ihnen eine warme Mahlzeit ohne Fleisch zumindest in der Hauptstadt kaum denkbar schien. Übrigens erhielten (entgegen sich beharrlich behauptender Gerüchte) weder Kandidaten noch Mitglieder des nemezischen Schriftstellerverbandes ein festes Salär, lediglich Mitglieder der Akademie der Künste, die bei geringen Ansprüchen davon leben konnten. Da Walja noch keine Bücher im Rennen hatte, die regelmäßig wieder aufgelegt wurden, empfand sie ihre Existenz als ungesichert.
Paule Berlin mümmelte mit dem braunstümpfigen Restbestand seiner Zähne sein Filet Stroganoff. Das Gemüse würde er liegen lassen. Er hegte eine tiefe Abscheu gegen alles Gesunde. Der eloquente Axel Harder führte die Happen seines Rumpsteaks mit eleganten Bewegungen zum Munde, wobei ihm unterwegs hin und wieder die Gabel in der Luft stecken blieb, weil er doch ein: Übrigens, mein lieber Gunter, hast du schon gehört ... hinsagen musste. Der dünne Dichter Kerschbaumer pickte in sein Ragout Fin wie ein Vogel, während der Dramatiker und Theaterkritiker Karlheinz Karge mit gutem Appetit aß und vielleicht ebensolchem Genuss, wie der vom Leben durch gute Laune wie Erfolg gesegnete Gunter Scherzer. Auch Sebastian Schulz tat sich überhaupt keine Zurückhaltung an. Die alte Berta Watersloh aß, weil das nun mal zum Lebenserhalt gehörte. Der Jubilar und Theatermann Peter Heil zeigte sich zu Genuss der einfachen Gerichte des CdK fähig. Irminhild, die schon ihres Sohnes wegen jeden Tag kochte und sich ausgewogen und mit Geschmack ernährte, ließ sich Zeit, um zu einem Urteil über ihr Cordon bleu zu kommen, hielt es dann für eine nicht gravierende Fehlentscheidung. Immerhin hatte sie neben der deutschen, auch die französische und italienische Küche kennengelernt. Federico Grosse machte an diesem Tag nicht viel Federlesens mit seinem Steak, er war hungrig. Seine Frau kochte erst abends, wenn sie von der Arbeit kam. Er hätte sie gern zu Hause behalten. Doch sie wollte wie alle Frauen am Leben teilnehmen, was in Nemezien hieß, an der Arbeit. Sie hatte nach Anweisungen ihres Mannes gelernt, einige spanische Gerichte zuzubereiten, so dass er absolut zufrieden mit ihrer Kochkunst war. Doch, wie gesagt, tagsüber musste er ohne sie auskommen. Ottilie Ehrlicher zelebrierte ihr Mahl. Aufrecht sitzend, als hätte sie einen Ladestock verschluckt - ihre bürgerliche Herkunft nun unverkennbar -, nippte sie an ihrer Vorsuppe. Sie aß langsam, sie trank langsam. Und da sie sich wie stets Salat, Suppe und Dessert zur Hauptspeise hinzubestellt hatte, würde sie noch lange essen. Unterwegs befragte sie Iris Sawatzky, ob sie denn zufrieden sei. Ottilie von friedfertigem Naturell. Sie konnte schlecht dauerhaft mit jemandem in Streit leben. Ja, ja, sagte die Angesprochene leichthin. Iris Sawatzky übrigens eine vorzügliche Köchin. Sie konnte, ohne in die geringste Aufregung zu verfallen, mühelos eine hungrige Horde verwandter oder bekannter Menschen bewirten, immer eine Zigarette in der Hand oder wenigstens angezündet in Griffnähe bereitliegend. Iris Sawatzky tat alles mit Leichtigkeit. Sie war eine Intellektuelle durch und durch, bewältigte aber auch ihren Haushalt grandios. Während sich Irminhild, soviel ich in Erinnerung habe, in ihren Romanen über auferlegte Doppelbelastung der Weiber und das ständige Windelwaschen beschwerte. (Letzteres hatte sich zu diesem Zeitpunkt infolge der auch in Nemezien üblich werdenden Babyeinlagen erübrigt.)
Auf Lothars Erkundigungen, ob alles zur Zufriedenheit geraten sei, überlegten die einen, ehe sie sich zu einem Nicken und doch, ja entschlossen. Ottilie gab sich besonders grüblerisch. Andere sagten gleich: ganz prima, große Klasse! Walja selbstverständlich von ihrem Wiener Schnitzel stark begeistert, nickte mit hochrotem Kopf. Jede Gemütsaufwallung, ob sie von gutem Essen, vom Trinken, von irgendeiner psychischen Erregung herrührte, ließ das dünnhäutige Blondchen erröten.
Darf ich?, fragte Iris mit ihrem schönen Bassbariton - eine Zigarette in der einen, ein Feuerzeug in der anderen Hand - gegen Ottilie hin, die sicher noch eine viertel bis halbe Stunde mit ihrem Mahl zubringen würde.
Ottilie wollte Iris den Gefallen nicht abschlagen, da ihr nicht alle eigenen Schwächen verborgen waren und sie um ihre Langweiligkeit beim Essen wusste. Auch wäre ihr ein Widerspruch übel bekommen. Denn spitze Bemerkungen der Sawatzky hätten ihr Mahl hinfort gestört und sie zur Beendigung desselben angetrieben, was sie nur unnötig gequält hätte, denn sie konnte nun eben nicht schneller kauen und schlucken. Sie nickte.
Schon war die Zigarette in Brand gesteckt. Was man allgemein als Zeichen sah, zu den Rauchutensilien zu greifen. Da war nun kein Gedanke mehr an Rücksicht auf Irminhild, die den Geruch verabscheute. Sicher schon im Gedanken an den Gestank, der ihrem schwarzen Haargelock entweichen und ihr in die Nasenlöcher steigen würde, wenn sie nachts ihren Kopf bettete. Bekanntlich ihr Schlaf leicht zu stören, würde sich vermutlich nun gar nicht einstellen. Schnell wären einzelne Gesichter im Nebel verschwommen, hätte nicht Lothar, auf einen Wink Irminhilds hin, ein Fenster aufgerissen. Da man zu rauchen angefangen habe, räumte Lothar ab. Trotz Ottilie, der Langsam-Esserin.
Paule Berlins zahnarmer Mund hielt nun ein schwarzes aus Frankreich stammendes Zigarillo. Die weiße Asche am Ende wuchs wie stets, brachte es auf eine beträchtliche Länge. Manchmal streifte Paule das helle, leichte Röllchen ab, bevor es sich von selbst löste und auf seine Hose oder wo auch immer hin entschwebte. Hatte man gerade nichts Wichtiges vor, blieben die Augen der Übrigen an Paules Zigarillo hängen, um zu beobachten, wann und ob das Röllchen, so ungemach, abfiel. Auch der eloquente Axel Harder von Sinn und Wahn war sehr nachlässig in Beachtung der Ascheabfälle. Es schloteten außer ihm Paule und die Sawatzky, die Dramatiker Karge und Scherzer, der spanischblütige Federico Grosse sowie der dünne Dichter Dieter Kerschbaumer. Der Jubilar hatte dieses Laster lange schon abgelegt, betrachtete mitleidig lächelnd seine KollegInnen, die diesem völlig ausgeliefert waren, und sah freundlich auf die, die es lassen konnten wie er, wozu der junge Dichter Schulz gehörte. Walja rauchte nicht, da der Qualm ihrem schwachen Magen nicht bekam. Hingegen war Ottilie Nichtrauchen Passion.
Lothar versorgte seine Gäste je nach Wunsch mit Wein oder Krimsekt. Der dünne Dichter Kerschbaumer beließ seinen Flachmann im Jackett und lebte ein paar Stunden gesünder.
Neulich!, sagte Federico Grosse mit wohllautender Stimme bei geringem sächsischem Anflug der Sprache, was ihn so sympathisch machte. Er reckte sich ein wenig, weshalb er fast überhaupt nicht klein erschien. Seine großen, ein wenig zum Basedowschen neigenden blausamtenen Augen öffneten sich noch ein wenig mehr im Erinnern daran, was ihm begegnet war und er nun erzählen wollte, und auch seine Lippen öffneten und spannten sich nun wieder fast bis in seine Gesichtsmitte. Unser nemezisches Telefonnetz, ihr wisst ja, sagte er.
Es ist ständig am Zusammenbrechen, bestätigte Axel Harder. Du schreist und der andere schreit. Stimmen wie aus dem Orbit!
In den Staaten dagegen!, sagte Iris Sawatzky, die ihrer jüdischen Verwandtschaft wegen eher in die USA als nach Deutschland reiste. Es ist einem im ersten Augenblick direkt peinlich, wie nahe einem die Stimme des anderen ist, als würde man jemanden in den Gehörgang hineinkriechen. Ihr rechter Zeigefinger vollführte eine Spiralbewegung, während ihr großer, blasser Mund sich vor tiefem Ekel verzog.
Unseres hat außerdem die Eigentümlichkeit, dass man in fremde Gespräche hineingerät! Federico ließ sich den Gesprächsfaden nicht aus der Hand nehmen.
Man nickte in Gedanken an eigene Erlebnisse.
Bevor ein anderer seine Story zu dem Thema erzählen konnte, fuhr Federico fort: Neulich bin ich in das Gespräch zweier Damen geraten, die sich über ihre Haartracht und ihren Frisör unterhielten. Eine sehr spannende Angelegenheit, wie ihr euch vorstellen könnt. Ich ... , sein Bauch schütterte und aus seinem Mund drangen fröhlich laute Geräusche, ich, also, ich konnte mich nicht enthalten, ich fing an zu bellen.
Ein Wuff ertönte, noch zwei, drei Wuffs folgten ihm. Man schaute: Natürlich, der junge hochbegabte Schulz war es, der mit seinen Sketchen als Alleinunterhalter auftrat und sich deshalb im steten Clinch mit den aufsichtshabenden, besser wissenden Behörden befand.
Wuff-wuff. Jetzt bellte auch Federico Grosse. Du kannst es besser, gab er dann dem jungen Schulz neidlos zu.
Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, konnte Axel Harder nicht widerstehen, öffnete seinen Mund und kläffte überaus lebensecht. Daraufhin musste es der dem Heiteren zugetane Gunter Scherzer dem Chefredakteur von Sinn und Wahn nachtun, woraufhin sein bitter gewordener Freund Karge ebenfalls eine Talentprobe gab. Woraufhin Dieter Kerschbaumer in hohen Tönen jaulte und alle mit Verwunderung auf den sonst so stillen dünnen Menschen sahen. Sein schiefeckiges Gesicht bekam einen lausbübischen Ausdruck, und man lauschte ihm, der einen einsamen, mit Hingabe den Mond anheulenden Wolf abgab. Woraufhin die übrigen im CdK versammelten Gäste - wenige waren es nur - sich erstaunt nach der Ursache solchen Jammers umschauten, ohne ihn genau orten zu können, da Kerschbaumer schnell seinen Mund schloss.
Vorzüglich, sagte der Jubilar Heil, mit seinem wunderbar weisen Lächeln.
Kindergarten!, brummte Iris Sawatzky, schüttelte den Kopf. Irminhilds Miene blieb reglos.
Wuff-wuff!, kläffte nun auch Walja. Man schaute am Tisch betreten. Walja hatte mal wieder den Zeitpunkt verpasst. Doch Ottilie Ehrlicher, Frauenrechtlerin unter anderem und, wie bekannt, gerechtigkeitsliebend, sprang Walja bei. Du musst noch ein bisschen üben, sprach sie mütterlich und ließ ihre Ohrgehänge klimpern.
Kater Kasimir war schon beim ersten Laut von Waljas Füßen weg an übrigen Beinpaaren vorbei in den Raum gesprungen, starrte die wild gewordene Meute an, gebuckelt, mit zuckendem sich aufplusterndem Schwanz und wilden bernsteingelben Augen. Er bleckte die Oberlippe und fauchte. Katzen mögen im allgemeinen Hunde wohl aus einem Missverständnis ihrer Körpersprache heraus nicht. Kasimir aber war ein Hundehasser, was auf ein tief greifendes Erlebnis in der Vor-Lorhar-Zeit schließen ließ. Lothar war Zeuge geworden, wie Kasimir in der Straßenbahn mehrere Male aufsprang, um in die Schnauze eines fassungslosen Schäferhundes zu beißen. Bis dahin hatte Kasimir gegenüber Hunden in der Straßenbahn nur deutlich seinen Platz behauptet. Seither fuhr Lothar mit einem Auto der Marke Trabant zur Arbeit, zunächst von seiner Tochter geborgt, später für viel Geld aus dritter oder fünfter Hand erstanden, weshalb Kasimir die Begegnung mit Hunden erspart blieb. Lothar, bis dahin dem Alkohol leicht zugeneigt wie manch anderer im Gastgewerbe, enthielt sich nun strikt aller Schnäpse, Biere und Weine. (In der SRR Nemezien herrschte ein rigides Nullkommanull- Promille-Gebot.)
Und da war auch schon Lothar neben dem Kater, hob den schweren Kerl hoch, kraulte ihn und schrie mit hochrotem Kopf: Ich schmeiß euch alle raus!
Der eloquente Axel Harder zog die Mundwinkel nach unten, ließ seinen Unterkiefer hängen, was seinem Adlergesicht eine erschrockene, leicht entenhafte Note gab. Es war die Miene der Selbstkritik. Wortlos tiefste Reue zu zeigen, war eine unschätzbare Fähigkeit in einem Regime, in dem man zu Kritik und Selbstkritik stark angehalten war. Die allmächtige Partei reichte nach Selbstkritik und auferlegter Buße in der Regel versöhnend-mütterlich die Hand, was die wenigen religiösen Menschen im Lande an Gepflogenheiten in ihrer eigenen Mutter Kirche erinnerte. Axel Harder war wirklich für die Leitung seiner Zeitschrift begabt.
Die Kritik wiederum, den anderen Teil des nemezischen Gebots, übernahm Paule Berlin, während sich Federico vor Lachen die Tränen aus den Augen wischte. Lothar, mümmelte Paule fast unhörbar, nahm sein Zigarillo aus dem Mund, woraufhin wieder ein weißes Ascheröllchen auf den Tisch entschwebte, und sagte dann laut: Erziehe deinen Kater zur Toleranz!, wobei er hinter seinen Brillengläsern zwinkerte.
Lothar wiegte seinen runden dschingiskanischen Paul-Wegener-Kopf, riss fröhlich seine hellbraunen kleinen Augen auf. Die Forderung gerecht, doch unerfüllbar.
Friedliche Koexistenz zwischen Hund und Katz, ja? Ein Gebot, vor dem wir nicht länger unsere Augen verschließen wollen, ja? Das Letzte nun Federico Grosse mit Fistelstimme in feinstem Leipziger Sächsisch gesprochen im Angedenken an den ersten großen, verkannten und unbeliebten Führer der SRR Nemezien, der seinem verschwenderischen Nachfolger noch eine ausgeglichene wirtschaftliche Bilanz hinterlassen haben soll. (Wir hatten, ökonomisch gesehen, mit dem saarländischen Westimport weniger Glück, als wir meinten.)
Alle lachten. Auch Lothar. Die Situation war gerettet, Lothar besänftigt. Auch der Kater, nachdem nun keine hundeähnlichen Laute mehr von der Stammtischecke kamen.
Na jedenfalls, sagte Federico Grosse und konnte jetzt mit seinem kleinen Bericht fortfahren, ich hab gebellt. Sagt die eine Dame: Hast du 'n Hund? Und die andere sagt: nee. Ich belle wieder. Da sagt die andere Dame: Aber du hast 'n Hund? - Nee, sagt die. Ich belle wieder. Aber du hast doch 'n Hund! - Nee. Ich bin stille. Die Damen reden und reden. Dann belle ich wieder. Aber Monika, ich hör doch Hundebellen. - Aber Gisela, ich hör es auch. Und so ging es fort.
Und ein andermal, redete Federico weiter, um noch eine zweite Story zu diesem abendfüllenden Thema zum Besten zu geben, da komm ich dazu, wie eine Dame bei der Bahn 23 Plätze für einen Zug nach Erfurt reservieren will. Moment, sagt der Angestellte. Dann war Stille. Und da juckt's mich wieder.
Du bist mir einer, die Leute zu veralbern! Die alte Berta Watersloh drehte sich zu ihrem Nachbarn, so dass sie ihn im Halbprofil sah.
Federico lachte auf, satt, laut und lange, wobei er seine Zähne und lustigste Augen zeigte. Ottilie Ehrlicher klimperte leise mit ihrem Ohrgehänge und sah mit ihren großen lilafarbenen Augen gebannt auf den kleinen Mann mit dem schwarz gefärbten krausen Kurzhaar, stark an Pablo Neruda und auch etwas an Fernandel erinnernd, und begann wohl zu verstehen, was die Frauen an ihm so mochten.
Also für den Soundsovielten 23 Plätze, sagte Federico.
24!, schaltete sich nun der junge Schulz mit weiblicher Stimme ein, da er nun einmal Gefallen an der Mitgestaltung von Federicos Erzählungen gefunden hatte. 23 antwortete ihm der Dramatiker des Heiteren, Gunter Scherzer, volltönend. 23 haben Sie gesagt!
Habe ich gesagt, sagte der junge Schulz. Aber hier steht: 24. 24 ist richtig.
Also, wenn Sie meinen, brachte sich nun der bittere Karge jovial lächelnd ein. Wie Sie wünschen, meine Dame.
Ja, 24 wünsche ich!, trumpfte der junge Schulz auf.
Also, dann 24, meine Dame, für den Zug Nr. Dreinullsechsacht am 0.0. 6 Uhr 43. Nun meldete sich der heitere Gunter wieder.
Federico nahm seine Erzählung grinsend wieder auf. Dann war wieder der Bahnangestellte in der Leitung. Ja, also dann 23 Plätze für den 0.0. 6 Uhr 43.
24, ich habe sie eben schon bestellt!, sagte nun der junge Schulze keifend.
Ja, hat sie eben bestellt!, bestätigte der Dramatiker des Heiteren.
Gehen Sie aus der Leitung. Ich habe eben bestellt. 24 für den nullten nullten 6 Uhr 43. Wer sind Sie überhaupt? Nun wieder Schulz.
Alfred Müller, Reiseservice, also bitte, soll ich Ihre Bestellung aufnehmen? Federico erhaschte seinen Part in dem Spiel.
Irgendjemand nimmt mich hier auf'n Arm, meldete sich Schulz wieder. Einer von den beiden Herren soll aus der Leitung gehen. Wie soll ich nu wissen, bei wem ich bestellt habe. Also gehen Sie aus der Leitung.
Genauso!, sagte Iris Sawatzky, mit ihrem Bassbariton Wortführerin der weiblichen Fraktion. Du kommst in unmöglichste Gespräche, hörst totalen Quatsch oder Sachen, die nun fremde Ohren überhaupt nichts angehen. Immer kannst du damit rechnen, dass jemand mithört.
Sowieso!, sagte zwinkernd Paule Berlin, der es noch genauer als andere wissen musste.
Iris Sawatzky und auch die übrigen Anwesenden nickten.
Hat aber auch Vorteile, gab der junge Schulz zu bedenken. Wenn die Staatsorgane das Ohr an der Masse haben, kann die Masse ihnen Mitteilung von ihrem Befinden machen und so auf eventuelle Entscheidungen einwirken.
Gäbe auch andere Methoden, brummte Iris Sawatzky.
Das eine ist das eine! Ottilie sprach fast schrill wie immer, wenn sie sich aufregte. Sollen sich die Genossen von mir aus ihre Meinung bilden. Aber dass nun jeder mithören kann, wirklich jeder, das ist doch unangenehm!
Ottilie!, sprach der helläugige Jubilar und Theatermann Heil, du hast vollkommen recht!
Ja! Ottilie nickte erregt und hegte nicht geringsten Argwohn gegen die Lauterkeit seiner Zustimmung.
Zum Beispiel, wenn du im Gespräch mit deinem Liebhaber bist. Und just in dem Augenblick hat auch dein Gatte das Verlangen, mit dir zu kommunizieren. Heils Gesicht bekam einen äußerst vergnüglichen Ausdruck.
Du weißt genau, dass ich mit keinem Mann zusammenlebe, sagte Ottilie empört.
Schade, Ottilie, wirklich schade. Heils Rede ohne jede Behinderung, nicht einmal seine Lippen zitterten.
Es geht auch gar nicht um mich. In meine Gespräche kann jeder hineinhören. Ich habe nichts zu verbergen.
Wirklich gar nichts?, begann nun der eloquente Harder zu frotzeln. Möglicherweise sah er sich als Anwärter auf Ottilies leeres Bett. Schade, Ottilie!
Jammerschade!, pflichtete Sonnyboy Scherzer ihm aus vollem Herzen bei.
Ottilie!, bat nun Karge. Du lebst verkehrt. Glaube mir. Karge ist eigentlich kein Kostverächter. Aber anders als sein Freund Scherzer wetzte er nicht schnurstracks auf sein Ziel los, sondern näherte sich ihm auf Umwegen und verfehlte es auf diese Weise ganz. Was ihm dann als verheirateter Mann auch recht war. Denn die meisten Männer lieben keine komplizierten Situationen. Wir wissen inzwischen: Nur ihre Physis gibt zu der irrigen Annahme Anlass, Männer seien das starke Geschlecht.
Es geht mir ums Prinzip!, ereiferte sich Ottilie. Aber macht euch nur lustig. Dann winkte sie leicht burschikos mit der Hand ab. Ihr Männer! Den Herren war Vergebung zuteil, denn Ottilie war eine gute Seele, überhaupt nicht nachtragend, zeigte oft überraschend Sinn für Humor.
Iris Sawatzky kratzte sich mit ihren langen Fingern sehr ausgiebig in ihren roten Locken, eine männliche Geste, die bewies, sie scherte sich nicht um Konventionen, was ihre Attraktivität noch erhöhte. Deutlich signalisierte sie, nun sei sie langsam das Gebalze um Ottilie leid. Wohl dem, der überhaupt einen Telefonanschluss hat, sagte sie. Wollen wir nicht vergessen, dass wir Bevorzugte sind. Und einige von uns haben sogar Einzelanschlüsse!
Jetzt begann ein Erfahrungsaustausch um Erlebnisse mit den Nachbarn, mit denen man sich einen Doppelanschluss teilte und die für 20 Pfennige stundenlang im Ortsnetz telefonierten und somit die Leitung blockierten. Wobei es ein Glücksfall war, wenn man wusste, mit wem man sich einen Anschluss teilte, so dass man in dringenden Fällen über die Straße oder durchs Haus sausen und klingeln und um Abkürzung des Gesprächs bitten konnte. Stellte man es klug an, warb man mit kleinen Aufmerksamkeiten, mal einer Schachtel Pralinen zum Geburtstag o. Ä. und stets freundlicher Miene, um die Gunst des Doppelanschlussinhabers. Im anderen Fall gab es Krieg.
Aber erst die Viertelanschlüsse in Wien!, sagte Paule Berlin.
Brrr, Schauderös! Iris Sawatzky schüttelte sich. Da müssen ja Metzeleien im Gange sein.
Mit höchstem Genuss führte man im Club der Kulturschaffenden ganz alltägliche Gespräche. Doch jetzt spürte die Sawatzky, dass der Albernheit genug sei. Um mal auf ein anderes Thema zu kommen, sagte sie, was haltet ihr von der Sache mit Hannes Kellner?
Irminhild sah weiter mit reglos-sphinxischer Miene vor sich hin.
Die anderen bekamen ein introvertiertes Aussehen. Selbst Sonnyboy Scherzers treue braune Augen waren von großer Nachdenklichkeit erfüllt. Was hielt man von der Sache mit Hannes Kellner?
Hast du davon gehört, Berta?, dröhnte die Sawatzky für den Fall, dass Berta Watersloh mit offenen Augen ein kurzes Abendschläfchen hielt.
Ja nun, sagte Berta nach einer Weile. Dieser junge Mann vom Zentralkomitee.
Der Leiter vom Gewi-Institut beim ZK, ergänzte die erfolgreiche Historienschreiberin. Jung ist der aber nicht mehr, Berta. Über sechzig.
Vom Gesellschaftswissenschaftlichen Institut, ja richtig, sagte Berta, wieder ganz bei sich. Der kleine Schlaf hatte sie erholt. Und was ist mit Hannes Kellner?
Er ist verschwunden, Berta. Iris Sawatzky schüttelte über so viel Ignoranz der Vertreterin des Bundes Proletarischer Schriftsteller den Kopf. Man hat ihn suchen lassen, sagte sie. Ohne Erfolg. Er ist sozusagen seiner Frau und den Genossen abhandengekommen!
Ist er nach Deutschland gegangen?
Ehrlich gesagt, das glaub ich nicht. Was erwartet so jemanden schon da drüben, entgegnete die Sawatzky.
Der junge Schulz sah aufrührerisch in die Runde. Wenn ich dran denke, wie mich seine Artikel anwiderten, die ich als Student lesen musste. Seinetwegen wäre ich beinahe aus der Partei ausgetreten. (Ausgenommen Federico Grosse und Ottilie, waren alle in der Runde mehr oder weniger aus Passion, Mitglied der Einheitspartei. Federico war zu stolz, das spanische Blut in ihm hinderte ihn daran, sich wem auch immer unterzuordnen. Um Ottilie hatte sich vermutlich niemand gekümmert. Wahrscheinlich wollte man ihre ehrliche Meinung nicht auch noch auf Parteiversammlungen hören.) Ein Kotzbrocken!
Kellners Artikel waren gequirlte Scheiße!, bestätigte Peter Heil seinem jungen Freund mit amüsiertem Lächeln.
Ja, ja, sagte die Sawatzky ungeduldig. Aber früher war er kein übler Kerl. Nur dann hat er den Realitätsbezug verloren. Schade um ihn.
Ein so mildes Urteil gerade von der Sawatzky erstaunte.
Ich hab ihn persönlich nicht gekannt, sagte der junge Schulz freundlicher.
Ich auch nicht, sagte Berta Watersloh. Und ihr faltiges Alltagsgesicht blieb gleichgültig. Ich kümmere mich um solche Leute nicht.
Seine arme Frau!, sagte Ottilie mitfühlend.
Scheußlich!, bestätigte ihr Gunter der Heitere.
Walja hatte keine Meinung. Seit sie wegen ihres Hundebellens negativ aufgefallen war, wagte sie sich nicht zu mucksen. Ihre sonst ganz enorme Zutraulichkeit verlor sich in dieser Runde schnell.
Also man kann annehmen, sagte der dünne Dichter Kerschbaumer, feixte und machte mit der Hand ein Zeichen, dass besagter Kulturpolitiker sich den Strick genommen hatte.
Einige zuckten die Schultern.
Er war dann vielleicht doch kein so schlechter Mensch, schloss Berta Watersloh.
Wieder Schulterzucken.
Wir haben alles vergeigt!, sagte Irminhild düster.
Nun hatte Walja aber eine Meinung. Du hast doch nichts vergeigt!, piepste sie. Du kannst dir keine Vorwürfe machen. Und wer sagt denn, dass alles vergeigt ist. Ich kann das nicht finden. Ich habe immer noch Hoffnung.
Auf den lieben Gott?, fragte der junge Schulz seine Altersgenossin spöttisch.
Du immer!, sagte sie. Du bist doch auch für'n Sozialismus.
Bin ich!, sagte der junge Schulz. Deswegen lasse ich doch nicht mein Gehirn vernebeln.
Also, vom kollektiven Wir halte ich in diesem Fall nichts, sagte die Sawatzky. Diese allgemeinen Schuldbekenntnisse nützen gar nichts. Die Frage ist, hatten wir unter den gegebenen Umständen eine Chance?
Ich würde sagen, der demokratische Zentralismus war ein Geburtsfehler, pflichtete ihr Nachbar Axel Harder bei. Alles scheiterte an der verfluchten Parteidisziplin. Jeder, der was Vernünftiges wollte, stand gegen eine ganze Wand. Man kämpft ein- oder zweimal etwas durch. Aber man ist ja auch bloß ein Mensch.
Lenin, ergänzte Walja beflissen.
Was am demokratischen Zentralismus demokratisch ist, ergänzte Schulz, die Die Partei neuen Typus!, sagte Schulz und lachte höhnisch. Oben geben die Parolen aus. Und wir sind Schütze Arsch im letzten Glied. So funktioniert's nicht. So nicht.
Na ... also. Walja meldete sich, ohne gleich etwas Rechtes sagen zu können, nur aus der Besorgnis heraus, dass sich ihre Kollegen zu weit vorwagten. Ein Austausch zwischen der Führung und der Basis sollte sein, sagte sie lasch.
Schulz, der Waljas Not erriet, winkte ab. Kann doch jeder hören. Weiß doch jeder, rief er so laut, dass die wenigen anderen Clubgäste wieder aufmerksam wurden. Er sprach wahrscheinlich für die, die heute Gesprächsprotokolle führten, eingedenk seiner eigenen Worte, dass man so Einfluss auf die Führung Nemeziens nehmen könne.
Ja also, die Wahrheit muss man doch sagen können!, rechtfertigte sich nun Ottilie Ehrlicher ebenfalls sehr laut, um gegebenenfalls auch im Abhörprotokoll vorzukommen. Sie eine Kämpferin, zu jeder Solidaritätskundgebung bereit. Was hätte sie, die Nichtgenossin, in Zeiten von Karl und Rosa für eine prächtige Genossin abgegeben!
Eine verfahrene Kiste! Gunter Scherzer nickte trübe.
Auf jeden Fall, so wie es ist, kann es nicht bleiben, das ist mal klar!, sagte der bittere Karge in Richtung seines Freundes Scherzer. Wo du dich auch umhörst. Ich persönlich hoffe ja auf Reformen. Wenn, also nach dem Generationswechsel ...
Alle wussten, was er meinte. Dass nach dem Saarländer Import, der beim Parteitag im nächsten Jahr aus Alters- und Gesundheitsgründen hoffentlich seiner Führungsposition enthoben würde, ein Jüngerer folgen würde, der die Sache anpackte und in Übereinstimmung mit dem inzwischen Glasnost und Perestroika betreibenden großen Bruder die längst überfälligen Reformen vornahm. Doch die Hoffnung auf Nachfolge sprach man in der großen Runde nicht aus, selbst in dieser nicht, selbst in der Endzeit Nemeziens nicht, wo man sich wenigstens in privatem Kreis um Mithörerschaft nicht mehr scherte und sich Meinungsfreiheit breitmachte. (Übrigens war nach dem letzten Schriftstellerkongress die Zensur von Büchern abgeschafft worden, weshalb es dem jeweiligen Verlag überlassen blieb, was er der Leserschaft zuzumuten wagte.)
Nur die scharfzüngige Sawatzky ließ etwas von Fürstenerziehung verlauten, sagte dann aber auch nichts weiter über den Irrglauben der Aufklärung, würde man einen Fürsten gut erziehen, gäbe er einen passablen Regenten ab. Sie lenkte wieder auf die Person von Hannes Kellner hin. Jedenfalls hat Hannes Konsequenzen gezogen, sagte sie. Er war doch empfindsamer, als wir glaubten.
Damals der Apel! Die alte Berta Watersloh erinnerte an einen hohen Funktionär, für Wirtschaft zuständig, der sich Anfang der 60er Jahre erschossen hatte.
Kannst du so nicht vergleichen, widersprach die Sawatzky. Der wollte etwas. Wahrscheinlich hat der große Bruder dazwischengefunkt. Wo wir heute ständen, wenn wir hätten machen können, was wir wollten, das wäre schon interessant. Hannes hingegen ...
Keiner sprach mehr, bis sich endlich Peter Heil ermannte. Er setzte ein entschieden fröhliches Gesicht auf und blitzte mit seinen hellen Augen. Wie dem auch sei! Er hob sein Glas. Auf unsere Zukunft! B ... Seine Lippen bebten. Er setzte neu und fehlerfrei an: Bieten wir unseren Feinden die Stirn, wo auch immer wir ihnen begegnen!, sagte er vieldeutig.
Tapfer drauf zu!, antwortete der junge Schulz dem Jubilar. Man trank sich zu, wobei die rotlockige, scharfzüngige Sawatzky und der dünne Kerschbaumer, die beide einen Stiefel vertragen konnten, ihre soeben nachgefüllten Gläser leerten, während Walja und Ottilie nur Schlückchen zu sich nahmen.
Dann wurde Federico vom jungen Schulz in einen Disput verwickelt, weshalb Berta ihm ihren Platz überließ und zu Irminhild hin rutschte, um sie über ihren Sohn zu befragen. Da mussten denn auch Kerschbaumer und Walja aufstehen und sich neu platzieren. Irminhilds Sohn nicht von Paule Berlin gezeugt, wie Irminhild Walja einmal zu verstehen gegeben hatte. Für die Vaterschaft habe sie sich jemanden anderen ausgesucht. Der Knabe zeigte musikalische Neigungen. (Irminhild selbst spielte Spinett. Ich hatte mich in der kurzen Zeit unserer Freundschaft auf ihre Bitte hin noch einmal mit Noten und der entsprechenden Lage der Töne auf einer Altblockflöte beschäftigt und drei Stücke eingeübt, die sie auf dem Spinett begleiten wollte. Es kam dann nur zu einem einzigen Zusammenspiel, das ganz leidlich funktionierte.) Irminhild förderte nach Kräften das Talent des Sohnes und gab jede Deutschmark, durch Tantiemen im Ausland verdient, für die technische Ausstattung ihres Sprösslings hin. Ottilie Ehrlicher beorderte Walja zu sich und ließ sich von ihr über eine Zusammenkunft junger Autoren berichten. Scherzer entwickelte unter geringer Teilnahme von Karge die Idee für einen Schwank, die diesen Abend nicht überleben würde. Die Sawatzky folgte wortlos der Unterhaltung zwischen Heil und Harder. Offenbar gerieten die beiden in das Thema Religion. Denn mit einem Mal kam ein Einwurf von Paule Berlin: Wir sind eine Insel in einem Meer von Weltreligionen!, sagte er.
Walja erinnerte sich deutlich an diesen Satz von Paul und sagte, durch diese Aussage habe das Gespräch eine verhängnisvolle Richtung genommen. Federico Grosse unterbrach seine Unterhaltung mit Sebastian Schulz. Du magst recht haben, lieber Paule, erwiderte er. Den einen Schöpfergott würde ich als eine poetische Idee gelten lassen. Aber dem Herrn des Himmels und der Erden auch noch einen Widerpart beizugeben, einen Gottseibeiuns, einen Gehörnten, das ist mir dann doch zu simpel.
Die Auswirkungen des dualistischen Systems, sagte die Sawatzky, Genossin der Einheitspartei und deshalb mit der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus leidlich vertraut, die Einteilung in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, das Denken in Feindbildern, haben wir ja zur Genüge kennengelernt. Mein Bedarf ist gedeckt.