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Peter Heil setzte ein nettes Grinsen in sein Gesicht. Wir befinden uns ja nach amerikanischer Denkweise an der Peripherie eines Reichs des Bösen!

Sein Grinsen wurde von anderen aufgenommen. Ja, die amerikanischen Präsidenten treibt mitunter religiöser Wahn, sagte der junge Schulz. Doch erinnere ich mich recht, wollten auch wir einmal die Welt erretten.

Weißt du eine Alternative zum Sozialismus?, fragte die Sawatzky scharf. Sie liebte es, schnell die Positionen zu wechseln.

Wenn man ihn vernünftig betreibt, nein, sagte der junge Schulz ruhig.

Gott, wenn man ihn als im goetheschen Sinne fasst, eventuell, aber Teufel nein?, erkundigte sich Paule Berlin, über seine auf der Nasenspitze ruhende Brille listig in die Runde schauend.

Na, na, sagte nun der Dramatiker Karge mit volltönender Stimme und tief gefurchter Stirn. Also auf der Bühne möchte ich ihn nicht missen!

Auf der Bühne, Karlheinz, aber nein!, sagte sein Freund, der frohsinnige Gunter Scherzer, nicht minder tönend. Wie könnten wir auf ihn verzichten, den Unheilstifter, den Durcheinanderbringer, der Mord und Totschlag anzettelt und brave Jungfrauen wie Ehegattinnen zur Sünde verleitet.

Das Theater lässt sich natürlich nicht ohne die großen und kleinen Teufel denken. Es lebt von Dramatik, von Gegensätzen, gab Intendant und Jubilar Heil bereitwillig zu.

Und wer, glaubt ihr, hat die dutzend oder wie viele Attentate auf Hitler verhindert?, fragte nun die Ottilie Ehrlicher, die gleich den moralischen und praktischen Aspekt eines Gegenstands im Auge hatte. Wer hat Stalin möglich gemacht? Da möchte man beinahe doch an einen Teufel glauben. Ihr silbernes Ohrgehänge klimperte heftig, ihre Augen weit und anklagend aufgerissen, die Augenbrauen hochgezogen. Dennoch bildeten sich keine Runzeln auf ihrer glatten Stirn.

Josef Wissarionowitsch ... Den hätte man in der Wiege ersticken sollen. Die Tat hätte ich auf mich genommen!, sagte der eloquente Axel Harder.

Du hättest wegen Kindsmordes dein Leben verdorben, gab die Sawatzky zu bedenken.

Und wenn?, sagte Axel Harder mit großzügiger Geste und seinem berückenden Lächeln, das die vor seinem hochstehenden Eckzahn aus unerfindlichen Gründen nicht geschlossene Lücke im Gebiss sichtbar machte.

Lenin hat vor ihm gewarnt. Die Genossen haben ihn leider unterschätzt, sagte Paule, und einmal war tatsächlich tiefe Trauer in seiner sonst so undurchsichtigen Miene, die sich dann aber wieder aufhellte.

Lenin!, sagte der junge Schulz aufmüpfig. Der hat uns die Suppe ja eingebrockt.

Also Teufel, ja oder nein?, meldete sich Paule Berlin noch einmal. Wie wäre es, fügte er hinzu und zwinkerte vielverheißend, wenn wir unter uns eine anonyme Befragung vornähmen, wer noch an einen allmächtigen Gott, eine Schicksalsmacht oder dunkel wirkende Kräfte glaubt oder sie wenigstens nicht ganz ausschließt. Und wer an den leibhaftigen Teufel glaubt.

Immer deine Spiele. Paule, muss das sein?, sagte die alte Berta Watersloh. Doch der Angesprochene zwinkerte weiter so aufmunternd und vergnügt, dass die Übrigen, die alle den alten Paule mochten, ihm die Freude nicht verderben wollten. Schon hatte er Papier in der Hand. (Paule war ja leidenschaftlicher Ausgestalter leerer Seiten durch farbige Tintenfaserstifte und so immer im Besitz von Papier.) Er faltete die Seite scharf, riss sie an der Tischkante in kleine Teile, schrieb seine Fragen als Stichworte auf, ging dann herum und verteilte seine Zettel und Schreibgeräte. Bloß ankreuzen, sagte er.

Schnell sammelte Paule die Zettel und seine Stifte wieder ein.

Also?, fragte Axel Harder.

An eine höhere Macht glauben drei von uns.

Die Blicke der in der Runde Befindlichen wanderten zu dem und jenem, um zu ergründen, wer dieser der wissenschaftlichen Weltanschauung vollkommen widersprechenden Idee anhing. Ottilie Ehrlicher war zwar nicht in der Partei, aber doch so handfest und wirklichkeitsverbunden, dass man ihr eine derartige Spinnerei nicht zutraute. Selbst wenn sie eben von einem Teufel gesprochen hatte, meinte sie ein unglückliches Schicksal, mehr nicht. Hatte der kluge Heil Paule einen Streich spielen wollen? Hatte Paule selbst, um das Spiel spannender zu machen, sich mal kurzzeitig auf die andere Seite begeben? Wer außer Walja, die an ihre Großmutter dachte und sie nicht einmal nach ihrem Tode kränken wollte, hatte die Frage noch positiv beantwortet?

Und an den Teufel?, fragte die Sawatzky, die an dem Spiel Gefallen zu finden schien.

Keiner.

Mit einem Mal sprang der sonst so stumme Kater Kasimir, der unter irgendeinem Vorhang geschlummert hatte, laut schreiend auf den Tisch, wobei das Tischtuch verrutschte und Gläser kippten. Mit solchem Verhalten wagte Kater Kasimir seine Existenz im Club! Und obwohl Ottilie pfui, pfui rief, und die Sawatzky ein "Runter, verflixter Kater" donnerte, blieb Kasimir sitzen und starrte mit seinen bernsteinfarbenen Augen tiefgründig drohend, ohne einen Wimpernschlag auf die Anwesenden.

Auf den Kater deutend, barst die bisher gänzlich unbeteiligte Irminhild vor Lachen. Ihr düsteres Gesicht verwandelte sich in das eines schwarzhaarigen, Zöpfchen tragenden Kobolds. Doch so sehr alle überrascht waren vom plötzlichen Auftauchen der Sphinx aus ihrem fernen Gedankenreich, so waren sie es nicht von der Verwandlung und der Gewalt ihres Lachens. Jeder schon war einmal Zeuge ihrer Heiterkeitsausbrüche geworden, selbstverständlich Paule Berlin, der ja mal, unvorstellbar!, ihr Ehegemahl gewesen war. Gunter Scherzer, der Schürzenjäger, mochte wieder einmal ehrfürchtig denken, welches Ereignis Irminhild in der Liebe sein müsse, wenn sie so tiefdüster und so gewaltig heiter sein konnte. Sei mir gegrüßt, Kasimir, mein Herzensbübchen, mein Teufelsbraten, sprach Irminhild und fand endlich Atem. Du begibst dich in Augenhöhe mit uns und widersprichst. Nun denn!

Die Runde der dreizehn also um einen Kater erweitert, denn nach der Begrüßung der Irminhild wurde Kasimir vorübergehend stilles Mitglied.

Walja war unbehaglich. Wohl hatte sie eine fortschrittsgläubige Mutter gehabt, doch auch eine starke Prägung von ihrer gottgläubigen Großmutter erfahren, die auf ihrem Dorf - natürlich ohne Wissen ihres Pfarrers - den Frauen im Dorf die Gürtelrose besprach und aus Kaffeesatz und Karten Schicksale las. Besonders der Aber-, also Irrglaube, nach Meinung der Geistlichen, hatte sich in Waljas kindlichem Gemüt festgesetzt und war bis zu diesem Tag verblieben. Dreizehn waren sie und nun auch ein Kater, wenn auch kein schwarzer, zu ihrem Spießgesellen ernannt. Das deutete auf Böses hin!

Der halbspanische stolze Federico Grosse, bei dem zu Hause die Katzen als Hauptpersonen behandelt wurden und dementsprechend Platz nehmen konnten, wo sie wollten, auch auf Tischen, war überglücklich, den Prachtkater so nah bei sich zu haben und geduldet zu wissen. Er lockte ihn mit Tönen, die er wahrscheinlich nicht einmal bei der Verführung von Frauen anwendete, während das Entsetzen von Ottilies Gesicht gar nicht mehr wich. Sie stand auf, angeblich, um ein Geschoss tiefer zum stillen Ort zu gehen.

Nach einiger Zeit erschien sie, in langem, elegantem Sommermantel, prächtig aussehend mit ihrer leicht gewellten, ins dunkle gehenden, ein wenig rötlich schimmernden Pagenfrisur. Wie glatt ihre rosig gefärbte Haut, wie ausdrucksvoll ihre lilafarbenen Augen die etwas groß geratene Nase und das spitze Kinn, vergessen ließen. Ihre silbernen Ohrgehänge wippten und klimperten. Ihre Miene leicht verzweifelt, in die sich beim Anblick der zwölf ein Lächeln über ihre Ungeschicktheit mischte. Wahrscheinlich hatte sie sich klammheimlich absetzen wollen, aber den Ausgang verfehlt, was auf einen äußerst schwachen Orientierungssinn schließen ließ. Ich dämliche Pute, sagte sie. Ottilie aus gutem Hause, doch ihre Rede mitunter herzhaft. Sie legte den Mantel ab, befahl Walja, sie solle sich merken, wo er sich befände. Heute könne sie für nichts mehr garantieren. Offenbar der Wein ... Sie griff zum Glas. Nun ist es eh schon egal!, sagte sie. Prost! Ich nehme nachher ein Taxi. Ottilie forderte sich von Schulz wieder ihren Eckplatz neben Irminhild zurück.

Inzwischen hatte der Jubilar Heil eine Lage Nordhäuser Doppelkorn geschmissen, der noch weitere folgen sollten. Da Berta Watersloh wie Walja, die nichts vertrug, Irminhild und Heil ablehnten, Ottilie Schnaps sowieso zuwider war, sammelten sich die Gläser um den Tischplatz der Sawatzky und des dünnen Dichters Kerschbaumer, der dann aber keine weiteren Gläser zugeschoben haben wollte. Obwohl er dem Alkohol anhing, war er ihm nur in Maßen gewachsen, während die Sawatzky soff wie ein Loch. Die anderen sahen mit staunender Teilnahme auf die Gläschen, die sich bei der Historienschreiberin sammelten und die der flinkbeinige Lothar nicht abräumen durfte. Dem übrigens auch untersagt war, Kasimir vom Tisch zu nehmen, nachdem er sich mit Zähnen und Klauen gegen die Mitnahme durch seinen Lieblingsmenschen wehrte. Kasimir kein bisschen loyal. Ihr versaut ihn mir!, sagte Lothar und war zum zweiten Mal an diesem Abend Kasimirs wegen böse auf die Stammgäste. Endlich wankte der dünne Dichter davon. Wir hätten ihm ein Taxi rufen sollen!, sagte Ottilie, die stets mitfühlende Seele. Doch dann kehrte auch er zurück, verwirrt und nicht mehr ansprechbar. Irgendetwas schien ihn in der Runde festzuhalten. Ottilie lächelte ihm ermunternd zu. Seine ungewöhnliche Anhänglichkeit bewies, der von ihr initiierte Abend war gelungen, wenn sie selbst auch schon wegen der steten Anwesenheit des Katers hatte das Weite suchen wollen. Ebenfalls kehrten Irminhild und Walja wieder, nachdem sie sich schon von der Runde verabschiedet hatten, Irminhild mit einem Kopfnicken und einem winzigen zauberischen Lächeln gegen den Jubilar hin. Walja hatte zunächst ihre Patschhand dargereicht. Als die nicht angenommen wurde, erinnerte sie sich, hier ging es nicht zu wie in Pumpe, wo die Werktätigen sich kumpelhaft mit Handschlag begrüßten und verabschiedeten. Die beiden kehrten zurück. Warum? Walja erzählte es nicht gleich. Und war es nicht auch schön, so beisammen zu sein! Berta Watersloh hatte man schlicht vergessen. Sie schlief den Schlaf der Gerechten, ihr Kopf ruhte auf ihrer Brust. Als Ottilies mitfühlender Blick auf das faltige Alltagsgesicht des Mitglieds des Bundes Proletarischer Schriftsteller fiel, sagte sie sich gewiss, die alte Frau könne hier so gut wie zu Hause schlafen und es sei für sie doch angenehm, unter so viel Freunden zu sein. Man würde sie zur rechten Zeit wecken und mit Walja in ein Taxi stecken, die dann die Aufgabe hätte, sie nach Hause zu begleiten. Walja mit solchen Aufgaben von Ottilie stets betraut, war die selbst durch Umstände verhindert. Vielleicht aber hatte Ottilie sich selbst die Aufgabe zugedacht.

Dass die übrigen Gäste gegangen waren, störte die Runde nicht.

Und jetzt!, sagte Paule Berlin leise. Alle hörten auf ihn. Es war eine Gedankenschwere und -langsamkeit eingetreten. Man dachte, Paule würde nun wer weiß was ankündigen, während er auf die Uhr schaute. Vielleicht hatte er den Zauberpeter bestellt, durch das nemezische Fernsehen bekannt und hochdekoriert. Oder eine Bauchtänzerin. Paule war so etwas zuzutrauen. Aber dann sagte er bloß: ein neuer Tag, Freunde!

Berta Watersloh schrak aus ihrem Schlaf und wünschte knurrig, nach Hause gebracht zu werden.

Lothar!, rief der Jubilar.

Lothar meldete sich nicht.

Stattdessen stand mit einem Mal jemand im Raum, ein Gewaltiger, ein Riese, vielleicht zwei Meter und zwanzig, von beachtlichem mittigem Körperumfang. Man konnte bei ihm an einen Fürsten der Unterwelt ebenso denken wie an den griechischen Gott Bacchus oder Neptun. Mit einem klassisch-griechischen Profil, etwas schräg geraten, am Ende krümmte sich die Nase leicht, das sich stark nach vorn wölbende Kinn durch den Backenbart gemildert. Die Lippen verschwunden im schwarzgrauen Bartgewirr. Die Augenbrauen buschig. Dagegen waren die vom adlergesichtigen Axel Harder noch niedliche Gewächse. Die Augen verhangen, wirkten dunkel. Später stellte Walja fest, sie waren verschiedenfarbig. Waldgrün das eine, in dem anderen Waldgrünen ein Braun hineingeschossen. Gleichmütig sah der Gewaltige von seiner Höhe auf die Runde herab.

Hatte sich Lothar aus dem Staub gemacht?

Kater Kasimir sprang vom Tisch auf den Fremden zu, umschmeichelte seine Beine, rieb sich an seinen Schuhen, wälzte sich vor ihm auf dem Teppich, bot seinen hauptsächlich weißen Bauch dar, stieß wieder mit dem Kopf gegen die Schuhe, umschlang sie mit seinen Pfoten. Was er da vorführte, sah ganz nach Treuebruch gegenüber seinem verschwundenen Lieblingsmenschen aus und bestärkte die Anwesenden in der Überzeugung, dass Lothar sie diesem Fremden überlassen hatte.

Ha! Axel Harder ließ die Kinnlade seines intelligent aussehenden Gesichts fallen, was ihn wieder zum staunenden Buben machte. Und die anderen hatten mit Ausnahmen nicht minder dumme Gesichter.

Zahlen!, verlangte Peter Heil. Seine hellen, weit auseinanderstehenden Augen starrten den Gewaltigen unerschrocken an. Seine Lippen zitterten, was auf seine kleine sprachliche Behinderung wie auf äußerste Entschlossenheit zurückgeführt werden konnte. Wahrscheinlich ließ er sich als Theatermensch von machtvollem Äußeren nicht beeindrucken. Er wusste, wie oft in großen Menschen ganz Kleine steckten und umgekehrt. Vielleicht wegen seines schwarzen Anzugs hielt er den Gewaltigen für jemanden, der für Lothar eingesprungen war.

Es geht auf Kosten des Hauses!, sagte der Gewaltige freundlich. Seine Stimme nicht ganz so voluminös wie sein Körper. Da hatten der junge Schulz und Federico Grosse mehr zu bieten und sowieso der bittere Karge und der heitere Scherzer oder der eloquente Adlergesichtige. Auch die Sawatzky mit ihrem Bassbariton übertraf ihn an Stimmgewalt, aber die hielt ja sowieso ohne Weiteres den Organen der beiden Dramatiker stand.

Eigenartig, meinte der eloquente Axel Harder, kaute kurzzeitig auf einem Finger, nahm ihn dann wieder aus dem Mund und lachte lausbübisch gegen seine Genossen hin. Wenn man dir gibt, dann nimm! Wenn man dir nimmt, dann schrei, sagte er.

Ich möchte zahlen!, beharrte Heil mit ernster Miene. Vielleicht hatte er zu viel getrunken.

Der adlergesichtige Harder von Sinn und Wahn stieß ihn an, ob er denn dämlich sei.

In welcher Währung?, fragte der Fremde weiter freundlich.

Also, das geht jetzt nun entschieden zu weit, sagte Iris Sawatzky. Wo befinden wir uns denn!

Eine berechtigte Frage!, sagte der Fremde. Ich schulde Ihnen Aufklärung. Seit Mitternacht ist diese Immobilie deutsches Eigentum. Sie hätten also in Deutscher Mark zu zahlen.

Heils Unterkiefer zitterte nun erheblich, was ihn im Augenblick an einer Meinungsäußerung hinderte. Alle anderen blieben stumm. Wahrscheinlich warteten sie auf weitere Erklärungen. Oder war diese Nummer von Paule dem Spieler bestellt?

Walja fror es. Ihre Großmutter hatte, wenn auch nur dreimal, das zweite Gesicht gehabt. Walja selbst war bisher nicht davon heimgesucht worden. Aber nun befiel sie eine heftige Vorahnung, dass etwas sehr Unangenehmes auf sie zukäme.

Entschuldigen Sie, sagte der Gewaltige. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Natasjan. (Er betonte die letzte Silbe, was beim Lesen dieser Niederschrift nun auch immer getan werden sollte. Natasjan geschrieben, Natasjaan gesprochen.)

Paule Berlin nickte erfreut, weshalb den anderen langsam dämmern musste, er kannte den Gewaltigen nicht. Oder das Nichtkennen gehörte auch zum Spiel. Chatschaturjan, Aznavurjan ... Armenischer Abstammung, vermute ich? Ein altes Volk, von dem es schon aus dem Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung Zeugnisse gibt und das im vierten Jahrhundert unserer Zeit christianisiert wurde, dozierte er ganz unnötigerweise. Denn zu den Zeiten war Armenien eine unbedingt bekannte Republik des Bruderlandes, Bestandteil von organisierten Touristenreisen. Die Kirche übernahm die führende Rolle beim Kampf gegen die Araber, Perser, Türken und Mongolen, redete er weiter in der Art von Fremdenführern. (Wollte er dem Gewaltigen gefallen?) Ein faszinierendes Hochland, herrliche Gebirgszüge. Der Sewansee ein absolutes Muss, liebe Genossen. Der heilige Berg Ararat über 5000 Meter, auf dem schon Noah gelandet sein soll, heute leider türkisch.

Auf dem Gesicht des Gewaltigen zeichnete sich unwilliges Erstaunen ab.

Paule!, sagte die Sawatzky. Die Armenier sind eher von kleinem Wuchs. Im Übrigen ist es auch wurscht, wo Herrn Natasjans Vorfahren mal herkamen. Er scheint ein Deutscher.

Die Lidaufschläge des Gewaltigen unendlich langsam, träge. Fast schläfern wirkte er, als er sagte: Die Immobilie so nah an der Grenze bot sich zum Kauf an. Aus den Medien werden Sie sicher erfahren haben, Ihr Land ist bankrott. In seiner Sprache ein scharfes "S", wogegen er harte Konsonanten, ähnlich wie die nemezischen Sachsen, weich behandelte. Später erklärten die Genossen Walja, der Gewaltige, wo auch immer seine Vorfahren herstammten, sei im Schwäbischen aufgewachsen. Die Schwaben ein umtriebiges Völkchen. Ähnlich wie die Sachsen überall auf der Welt zu finden. Und in der späteren deutschen Bundeshauptstadt nach den Nemezen und Türken die drittgrößte Minderheit. Der schwäbische Zungenschlag des Gewaltigen war es wohl, der Heil und seine Gäste von der Ungeheuerlichkeit überzeugte, dass sie tatsächlich, ohne sich von der Stelle zu rühren, auf deutsches Territorium geraten waren.

24 Milliarden Deutsche Mark Schulden, sagte der Gewaltige.

So viel! Ottilie Ehrlicher staunte über die genannte Summe und glaubte sie dem Anschein nach sofort. Auch die Übrigen blickten niedergeschlagen. Man ahnte, ja man wusste: Die Nemezen lebten seit der Regierung des Beutedeutschen aus saarländischem Land über ihre Verhältnisse. Die Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik forderte der Wirtschaft ab, was sie immer weniger leisten konnte. Den Slogan abwandelnd, der da lautete "Wie wir arbeiten, so leben wir", sagte der Volksmund: "Wir haben noch nie so gearbeitet, wie wir leben." Erst kürzlich hatte man eine Milliarde Kredit vom Bayern-Blum erhalten, dem am Fortbestehen Nemeziens aus welchen Gründen auch immer gelegen war. Dass nemezische Kunstschätze nach Deutschland verhökert wurden, war nicht mehr zu verheimlichen. Die Eigentumsverhältnisse auf der Museums-Insel, undurchsichtig. Noch konnten die Nemezen gegen Vorlage ihres Personalausweises in einheimischer Münze bezahlen. Aber Ausländer, ob westlicher oder östlicher Abstammung, hatten bei Besuch des Pergamonaltars in harter Währung zu blechen. In der Dresdener Gemäldegalerie verhielt es sich ähnlich. Wobei sich wichtige Bilder wie die Sixtinische Madonna seit Jahren angeblich in Restaurierungswerkstätten befanden, womöglich waren sie schon verhökert.

Lothar hatte sich also aus dem Staube gemacht und sie den Deutschen überlassen! Vielleicht war er auch vertrieben worden. Kater Kasimir hätte auf jeden Fall seinem Lieblingsmenschen folgen können. Aber er hatte auf seinem Thron verharrt und sich den Herrn Natasjan als neuen Versorger ausgeguckt.

Ja, dann rufen Sie uns freundlicherweise ein Taxi! Berta Watersloh hatte in ihrem Leben schon mehrerlei erlebt und war am wenigsten beeindruckt.

Drei Taxis!, sagte der sonst heiter gesonnene Gunter Scherzer bestimmt. Ich muss Sie leider bitten, die Nacht hier zu verbringen!, erwiderte der Gewaltige. Auf seinen Schultern hockten mit einem Mal rechts und links junge Kater, weiß mit grauem Überwurf Ihre Schwanzspitzen zuckten. Die des einen weiß, des anderen schwarz. Die Augen des Katers mit der weißen Schwanzspitze, den Walja für sich Moritz nannte, wie rot leuchtend und das Gesicht ein wenig wölfisch, während der andere ein hübscher Nachkömmling von Kasimir sein konnte, selbstverständlich kleiner und viel weißer als er, herzhaft treu blickend, wenn ihm danach zumute war. Quasi ein reingewaschener kleiner Kasimir mit passend graugrünen Augen. Die Kater waren offenbar dem Gewaltigen den Rücken hinaufgelaufen, ohne dass man es bemerkt hatte. Der sich Natasjan nannte, demnach ein Katzenliebhaber. Er hob seine Arme und kraulte ihnen mit seinen Pranken den Rücken. Durch diese Geste wurden die im CdK Verbliebenen keineswegs beruhigt.

Warum um Himmels willen!, dröhnte die Sawatzky. Sie wollen uns doch hier nicht festhalten. Was hätte das für einen Sinn?

Ottilie, sonst eher langsamer Denkart, hatte einen ihrer Geistesblitze. Haben Sie etwa vor, uns gegen Bürgerrechtler auszutauschen?, erboste sie sich mit flammend lila Augen. Ihre Ohrgehänge klingelten.

(Menschenhandel war zu der Zeit üblich. Meist verkaufte die nemezische Regierung ihre widerständigen Elemente nach Deutschland, nachdem sie die verhaftet und, falls noch etwas zu holen war, enterbt hatte. Zu Zeiten offener Grenzen soll es sogar Kidnapping von beiden Seiten aus häufiger gegeben haben. Viele Fälle wurden nie aufgeklärt.)

Nein, das haben wir nicht vor. Der Gewaltige sprach mit großer Ruhe. Aber der EU-Kommissar Doldinger hätte gern eine Meinung von Ihnen, bevor Sie sich entscheiden, ob Sie sich wieder auf nemezisches Gebiet begeben. Wenn Sie bitte darlegten, wie Sie sich im Fall, die Mauer zwischen Nemezien und Deutschland existierte nicht mehr, die Geschicke von Nemezien und Deutschland vorstellen.

Hem?, machte Ottilie Ehrlicher, schaute den Gewaltigen mit ihren großen lilafarbenen Augen an, als hätte sie gerade den Beschluss ihrer Hinrichtung erfahren.

Ottilie!, ermahnte der junge Schulz seine ältere Kollegin. Denn wie alle kannte er sie und wusste, dass sie schnell die Fassung verlor.

So konnte der Gewaltige ungestört weitersprechen. Falls Sie sich entschließen könnten, in Deutschland zu bleiben, bekommen Sie deutsche Pässe, Wohnungen und lebenslange Stipendien beziehungsweise ausreichende Renten ausgesetzt.

Wir hatten jederzeit die Gelegenheit, um Asyl zu bitten und uns an die Wehnauer-Stiftung zu wenden, sagte der junge Schulz, der sich in dieser Nacht als Kämpfer erwies. Er lächelte verächtlich ob dieses Angebots, nach dem sich Millionen Nemezen die Finger geleckt hätten.

Sie! Ich will nach Hause in mein Bett!, herrschte Berta den Gewaltigen an. Meine Meinung können Sie jetzt sofort haben! Unser Staat ist beschissen. Aber Ihr Staat ist noch beschissener. Und eine Vereinigung? Vereinigen Sie Feuer und Wasser!

Was das Feuer nicht vernichtet, geht durch den Wasserschaden flöten, sagte keck der junge Schulz. Bei jeder Feuerlöschaktion bleibt auf alle Fälle eine Ruine zurück.

Der Gewaltige lachte leise, und es hörte sich angenehm an.

Ein Taxi!, beharrte Berta Watersloh altersstarrsinnig.

Natasjan sah die alte Frau an. Das Weiße ober- und unterhalb der Pupillen sichtbar. Unendlich langsam schläfern wieder seine Lidschläge. Berta hatte sich offenbar so erschöpft, dass sie die Augen schloss und wegdämmerte.

Zwei schlanke junge Herren in roter Livree erschienen. Ihre Gesichter merkte man sich nicht einmal beim hundertsten Hinsehen. Die übrigen im CdK Verbliebenen machten ihnen Platz. Die Livrierten trugen die alte Berta hinaus, als sei sie eine Figur aus Pappmaschee. Merkwürdig steif war sie übrigens. Doch außer Walja schien dies niemanden zu verwundern.

Sollen wir Ihnen Aufsätze verfassen oder was? Die Sawatzky machte sich zur Wortführerin, da Irminhild mit gesenkten Lidern auf den Gewaltigen schaute, Peter Heil vor lauter Entrüstung kein Wort herausbrachte, Paule bloß blinzelte, lediglich neugierig auf den weiteren Verlauf. Der eloquente Axel Harder schwieg sowieso, wenn die Sawatzky am Reden war. Der junge Schulz hatte sich eben geäußert. Dem Dramatiker Karge schien eher der Standpunkt des Beobachters angemessen, und dem dünnen Dichter war alles einerlei wie immer. Gunter der Heitere hatte seinen Wunsch genannt und fühlte sich im Übrigen wie die anderen, die an der Situation Interesse hatten, bei der Sawatzky gut aufgehoben. Auch Ottilie schwieg. Sie erkannte ihre Grenzen.

Ein Aufsatz, ein Essay, wie immer Sie es halten und nennen wollen, sagte der Gewaltige. Die Form ist Ihnen überlassen.

Man wird uns blühende Landschaften versprechen, spottete Federico, der sich nicht schrecken ließ. Aus seiner geringen Höhe machte es wohl keinen großen Unterschied, ob wer einsneunzig war, oder zwei Meter zwanzig. Warum Mauern einreißen, sprach der Samtäugige. Seine Aussprache, im Gegensatz zu sonst, jetzt stark akzentuiert, was dem kleinen Mann etwas Hoheitsvolles verlieh. Es reicht, sie weiter durchlässig zu machen. Schon jetzt kann man in der Regel deutsche Verwandte besuchen, sofern man eingeladen wird. Weiter in dem Sinne würde ich sagen! Federico Grosse lächelte süffisant.

Nehmen Sie trotzdem an, in diesem Jahr fällt noch die Mauer, sagte der Gewaltige gleichmütig.

Ich würde vorschlagen, am 9. November! Die breiten, blassen Lippen der Sawatzky verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln.

Walja rieselte ein kalter Schauer den Rücken herunter. Da hatten wir in diesem Jahrhundert in Deutschland schon die Novemberrevolution 1918, erklärte sie und die Reichskristallnacht 38. Aller guten Dinge sind drei.

Das wäre ein Datum, sagte der Gewaltige friedfertig, ohne Notiz von der imposanten Miene der Dame Sawatzky zu nehmen. Er tätschelte seine Katerjungen Max und Moritz und beugte sich dann zu Kasimir hinab. Während die Kater auf den Schultern balancierten, hob er Kasimir hoch, setzte ihn auf seinem linken Arm ab. Kasimir stieß vor Wonne seinem neuen Gönner mit dem Kopf in die Armbeuge und schnurrte weithin hörbar und Walja bestaunte wieder einmal seinen großen dreieckigen weißen Latz, der bis über seine Nase und in die Stirn hinein reichte.

Kasimir! Grollend kam der Name des Katers über Irminhilds Lippen. Alle Blicke wandten sich ihr zu. Die Sphinx hatte gesprochen. Einen Augenblick hatten die Versammelten die Hoffnung, sie könne den Bann brechen, indem sie den Kater dem Gewaltigen entfremdete. Tatsächlich richtete sich Kasimir auf. Er schaute Irminhild nun mit seinen schwarzumrandeten gelben Augen behend an, sandte ihr einen Blick zu, mit dem er sich einst Zugang zu Lothars Herzensgemach verschafft hatte. Trotz aller Sehnsucht nach der schönen Dame vermochte er sich nicht von Natasjan zu trennen.

Da erhob sich Irminhild wie in Trance und wandelte Kasimir entgegen. Lächelnd übergab der Gewaltige der im Ausland mehr als im Inland berühmten Verfasserin von Hexenromanen den Kater ihres Herzens. Ein Bild war das: Irminhild in langem indischem Gewand, mit ihrem eindrucksvollen Haupt, geschmückt von schwarzem, breitem Gelock, hochgewachsen, den Kater mit der Nase stupsend, lächelnd wie selten. Und neben ihr der Gewaltige. Obwohl Irminhild gegen ihn zart erschien, passten die beiden zueinander, bildeten ein ansehnliches Paar und hätten als Hauptagierende in einem Roman von Irminhild getaugt. Etwa als Hexenmeisterin und Oberteufel. Es kam den Anwesenden denn auch so vor, Irminhild hätte sich auf die Seite des Schlüsselgewaltigen begeben. Nachdem die schöne Finstere Kasimir lange geherzt und geküsst hatte, übergab sie ihn wieder dem Gewaltigen. Sie ging zu ihrem Platz zurück, als sei nichts geschehen.

Noch Fragen?, erkundigte sich der Gewaltige. Kasimir in seinen Armen, das Sechzehnpfund-Wohlfühlpaket, die Katerjungen Max und Moritz auf seinen Schultern, sah Natasjan in die Runde mit langsamen Lidschlägen und diesen Augen, in denen soviel Platz rund um die Pupille blieb, was seinen Blick so schwer, unheimlich machte. Im Übrigen können Sie sich im Haus frei bewegen! Das scharfe "S" traf wieder schmerzhaft die Ohren der nemezischen Kulturschaffenden, die das Schwäbisch als Sprache des Besatzers empfanden.

Der gewaltige Herr Natasian

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