Читать книгу Nachrichten aus dem Garten Eden - Beate Morgenstern - Страница 3

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Wie seids ihr in meine Gedanken geraten? Habts ihr womöglich schon auf mich geglupscht, wie mir aus all dem Kram von Zeitungen und Werbung der Brief auf den Boden fiel, dass ich ihn aufheben musste und mir gleich komisch war wegen dem hellblauen Umschlag, sehr leicht und feines Papier, was gar nicht in meine Hände passt, rote verarbeitete Hände, die noch eine ganze Weile zupacken werden, hoffe ich. Bin ja kein ganz oller Mann.

Jahrgang 45. Dies Jahr 55 geworden. Zum Ankucken für eine Frau bin ich wohl nicht mehr. Ist mir auch ziemlich schnurzpiepe. Höchstens, wenns Marjittchen sich auf mich besinnen täte, da wäre es mir nicht egal. Und was das andere Wiepchen ist, für das ich ein Interesse hätte, da ist sowieso keine Aussicht, obwohl die auch alleine lebt, aber in Berlin.

Was so ein Luftpostbrief bei mir will, habe ich mich gefragt. Die Adresse mits Maschine geschrieben. Germany. Die englische Sprache breitet sich aus, seitdem wir im Westen leben, ohne dass wir unsen Hintern eine Handbreit von der von unsen Vorvätern ererbten ostdeutschen Scholle hinwegbewegt haben. Aber bei einem solchen Brief muss wohl diese Bezeichnung sein. Germany. Einfach Germany ohne West oder East oder so dardarzu. Daran hat man sich erst mal gewöhnen müssen. Die Postleitzahl woll nachträglich von einer Angestellten hinzugeschrieben. Ich schüttelte, ob aus Zeitungen und Werbung noch etwas herausfiele. Die wirklich wichtigen Briefschaften ja leicht zu übersehen, und dann sind sie weggeworfen. Ich lese kein Gedrucktes, was ich nicht bestellt habe, auch sämtliche Versprechen auf große Gewinne nicht, an mich persönlich adressiert. Wahrscheinlich habe ich so schon Millionen verschleudert. Aber es war nur der eine hellblaue, leichte Brief. Den trug ich wie eine Kostbarkeit, las die ungefähre Anschrift wieder und wieder. Ich fühlte, die meinte mich mehr als die fertig ausgedruckten Briefe, die mits Lieber Herr Luther beginnen, als wäre ich wer weiß wie bekannt mits den Herrschaften, die wo schreiben. Friedrich Luther Lutherhof unten Sylken/Südharz Germany die Adresse. Den Absender sah ich extra nicht an. Ich habe so meine Art, mir Freuden zu bereiten, indem ich sie hinausschiebe. Und es konnte ja auch eine Enttäuschung sein, falls, wenn es doch bloß gar nichts wäre, was in dem Brief stand. Über den Absender konnte ich mir nichts denken. Kein Bruder von meinem Vater oder von der Mutter waren so weit weggemacht, dass man Briefe mits Flugzeugen hierher nach New Germany transportieren müsste. Oder von dessen/deren Sohn/Tochter, nun glücklich verstorben und ohne Nachkommen, dass man sich an Verwandte im Mansfeldischen erinnert. Im Hiesigen ist man sesshaft. Erst die Arbeitslosigkeit jetzt treibts die jungen Leute weg. Wenige sind kurz vor und nach der Wende in den Westen. Aus Sylken zu der Zeit überhaupt keiner. In den Fünfziger Jahren waren es mehr gewesen. Aber nur ein Bauer. Wir haben darüber gerätselt, was der so ganz Verkehrtes, so schwer Strafwürdiges getan hatte, dass er deschertwejen in den Westen ging. Den Hof im Stich zu lassen, hat sonst keiner gemacht, nicht mal, als sie die Bauern mits städtischen Agitprop-Truppen in die Genossenschaften reingeredet hatten. Und wie der Bauer weg war, konnte er dann auch nicht umkehren. Sagte man damals jedenfalls, manichen wäre es drüben gar nicht gut gegangen, aber aus Scham wären sie nicht mehr in die alte Heimat zurück. Sicher würde man in den Akten der Behörde von dem etwas finden, der mal Paschter gewesen war und nun als Oberhirte vorsteht einer Institution, die vielleicht die größte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ist in der Stadt, die mal Hauptstadt von unse Kleinrepublik war und die nun ausstaffiert wird zur allerherrlichsten Hauptstadt Deutschlands. Aber ein Fremder kommt an die Akten ja nicht ran. Höchstens müsste ich Tante Hildegard fragen, ob die was weiß wegen Schickedanzens Weggehen. Seit meinem Besuch vorje Zeit sagt Tante Hildegard mir jetzt so maniches, was sie früher für sich behalten hat.

Oder seids ihr erst in meine Gedanken gekommen, wie ich mich niedergesetzt habe in meine Küche und endlich den Brief umgedreht habe, ob der Absender mir vielleicht was sagt? G. Schickedanz. Australia. Schickedanz! Das ja nun ausgerechnet der Name von dem Bauern, an den ich ehmt gedacht hatte, der als Einzigster mits seiner Familie in den Westen gemacht ist. Gerhard, Jerard, wie wir sagen, mein bester Kindheitsfreund. Jerard in Australien? Das wäre eine Sache. Bei so einem Brief bin ich natürlich nicht einfach mits dem Finger in den Umschlag, sondern habe ein Messer geholt und das dunkelblau-rot umrandete Papier aufgeschlitzt. Vorsicht habe ich auch in meinen Gedanken walten lassen, indem ich mir sagte, dass vielleicht gar nicht der Jerard schrieb, sondern ein Familienangehöriger, der mir mitteilte, dass er nicht mehr lebt. So bin ich nun mal, rechne mits allem. Kommt es besser, umso besser. Der Brief mits der Maschine geschrieben wie der Umschlag.

Lieber Fritz! Die Anrede klang schon mal gut, als ob Jerard es selber geschrieben hätte. Jetzt hatte ich nun doch keine Geduld mehr und suchte nach der Unterschrift. Die hingekrakelt. Ja, Jerard hatte unterschrieben. Langsam ging ich die Zeilen runter.

Den Brief habe ich inzwischen intus, so oft habe ich ihn gelesen:

Du wirst dich wundern. Ich habe nie geschrieben. Ich habe viel trouble gehabt in mein Leben. Aber jetzt geht es mir entsprechend very gut. Ich habe mich gesettelt und habe den Gedanken, die alte Heimat wiederzusehen. Nun ist schon zehn Jahre ein Deutschland. Wenn es wäre damals ein Deutschland gewesen, wir wären geblieben in Sylken. Lebst du noch? Dann schreibe mir. Dann will ich dich gern besuchen mits meine jüngste Tochter. Die will auch von dem Heimatland von ihrem Vater wissen. Sie hat spricht so mits mir, habe ich ihr beigebracht und hat sie auch extra in die Schule gelernt.

Komisch ist Jerards Sprache. Er also nun ein Weltmann. Ja, soll er kommen! Da werden wir beiden uns wiedersehen. Nach 40 Jahren. Soviel sind es bestimmt geworden. Wieviel genau? 59 im Sommer sind sie weggemacht. Jetzt haben wir 2000. Na, kommt ungefähr hin. Ganz klar: Auch Margarete muss her. Dardarmit wir alle drei von damals zusammen sind. Hoi, wird die sich wundern, wenn ich sie antelefoniere. Ich werde sie schön zappeln lassen, wer mir geschrieben hat, bis ich mits der Nachricht rausrücke!

Jerard kann denn uns beide erzählen von dem Land, wo die Leute, von uns aus gesehen, mits dem Kopf nach unten gehen, die Beine von der Schwerkraft festgehalten. Bin ich mits dem Hof fertig und schlafe nicht gleich, wies mirs meist in den Sommermonaten passiert, habe ich durch das Fernsehen meine Unterhaltung und bekomme viel Wissen her, dass ich dardardurch eine ungefähre Vorstellung von Australien besitze: Olympiastadt Melbourne, Canberra Hauptstadt, Känguruhs, weites, verstepptes Land, schwarze Eboridschines, die anderscht aussehen als wie alle Menschen sonst auf der Welt und wohl das Feuer anbeten und von Zeit zu Zeit im Busch zündeln, damits die Natur im Gleichgewicht bleibt, ein mir ganz interessanter Gedanke. Und wie eingeführte Tiere zur Plage geworden sin, weil sie keine natürlichen Feinde ham wie die Karnickel und zugor die Katzenviechter. Nachhert würde ich dem Jerard alles erzählen von dem Tag an, wo er weg war. Auch Margarete würde womöglich allerhand erfahren, was ihr nicht so bekannt ist, trotzdem sie im selben Land lebte als wie ich. Und wir dreie würden uns erinnern, wies in unsem ollen Siehleken war. So sagen wir Einheimischen zu unsem Dorf statts bloß Sylken. Wir lassen gerne die Worte auf der Zunge kullern. Sagen Milich statts Milch und elewe und zwelewe statts elf und zwölf.

Am liebsten würde ich gleich an Jerard losschreiben. Das Wort, das ich aus vielen Filmen kenne: Welcome! Doch muss ich sicher den besonderen Umschlag benutzen, damits der Brief auch durch die Luft befördert wird. Also muss einer von uns erst nach Aserschlehm, was richtig eigentlich Aschersleben heißt, die Zischlaute also grad anderschtrum.

Die Gedanken gehen mir so vorwärts und rückwärts, was ich dem Jerard erzählen würde, dass ich gar nicht mehr darin innehalten kann. Wo ihr nun schon mal da seid, hockts euch hin, wo ihr auch immer wollt, machts euch bequem und lasst den Fritze Luther lawern.

Ihr merkts schon, in meinen Gedanken rutscht durch, wie wir in unse Gegend sprechen. Maniches sagt man auch bloß in Sylken so, und die in den Dörfern drumherum lachen über uns, erst recht in Aserschlehm, was schon nicht mehr zum Mansfelder Land gehören tut, trotzdem es bloß zehn Kilometer von uns entfernt liegen tut. Besonderst machen sie sich lustig, wie wir das Flüsschen Eine aussprechen, was durch Arnrode ungene und später auch Aserschlehm durchfließt und da auch endet. Beginnt in Arnrode und führt nach Aserschlehm und denn Schluss. Son kleines Flüsschen. Ane sagen wir dardarzu. Die ane Ane, lachen uns die Aserschlehmener aus. Aber seit eine Umherzieherei nach Arbeit üblich ist, gewöhnen sich die Sylkener ab, was man woanderschert nicht versteht oder wo man uns für aufzieht.

Schön hab ich es! Oder? Hermann hat mits mir die Wohnung über dem Stall ausgebaut. Wohnzimmer mits breiten Fenstern in der Dachschräge, kleineres Schlafzimmer. Flur. Große Küche. Wennste doch noch mal ane findest!, hat Hermann gesagt.

Meints ihr etwa, ich sollte in einem eigenen Haus wohnen? Ich allein?, frage ich euch. Wozu? Was brauche ich ein Haus. Zu Hause will ich sein. Und das bin ich auf dem Hof von Hermann, meinem Bruder, und seine Frau. Friederike, die Jüngste, wohnt auch noch hier. Und an den Wochenenden kommen Mark und Philipp mits ihre Kinner. Ich bin der Onkel Fritz von alle. Das ist auch was wert.

Meinen Namen kennt ihr ja schon. Bibelforscher wollen herausgefunden haben, wir würden von Jacob Luther abstammen, dem Bruder von Martin Luther. Ihr wisst schon, der, nach dem die Städte Wittenberg und Eisleben bei uns in der Gegend den Zusatz Lutherstadt haben. Die Verwandtschaft kann sein oder auch nicht. Wir sind nachweislich seit Hunderten von Jahren hier in der Gegend zu Hause. Im Vorharz. Mansfeld, wo Martin Luther und sein Bruder aufwuchsen, liegt zehn Kilometer von unsem Siehleken entfernt, genau wie Aserschlehm. Da war auch unse Mittelschule, aber sonst hatte der Ort trotz seinem zerstörten Schloss hoch über dem Städtchen keine Bedeutung. Die Oberschule wiederum war in Hettstedt, ebenfalls zehn Kilometer entfernt und unse Kreisstadt. Nach Aserschlehm brachten wir unser Getreide in die VEAB und die Zuckerrüben in die Zuckerfabrik und holten die Kohlen von der Bahn und den Dünger. Aserschlehm is wejen die Bahn die wichtigste Stadt.

Wegen dem Namen Luther: Wenn ich an meinen Vater Walter Luther denke, etwas Störrisches und Jähzorniges kommt manichmal in der Familie vor. Weiß man ja, mal hat Martin Luther mits dem Tintenfaß nach dem Teufel geschmissen, als er als Junker Jörg in Eisenach im Schloss quartierte und die Bibel ins Deutsche brachte. Wäre er nicht ein jacher Mann gewesen, hätte er so was wie die Reformation nicht herbeigeführt. Denke ich mal. Unser Vater hatte sogar Ähnlichkeit mits den Bildern, die man kennt: Kleine tiefliegende Augen, die breiten Wangenknochen, das massige Gesicht und die kräftige Gestalt. Hermann kommt äußerlich nach ihm, ist noch größer als der Vater. Nur ist er eher zach, ein grundguter Mensch mits höchstens mal einem Losgetobe, wie die Jungs noch Kinner und Halbwüchsige waren und über die Stränge schlugen.

Zunächst führe ich Jerard durch das Jetzt, das Heute, weide mich an dem Abschätzenden, ja Abschätzigen in seinen Augen, während er sich auf unsem Hof umschaut. Wohnhaus, Ställe, Scheunen neu gedeckt. Doch die wohlgefüllte Mistkuhle in der Mitte, an der man früher die Leistungsfähigkeit eines Hofes erkannte, scheint ihm sicher nicht modern. Ich habe meinen Spaß an seinem Mitleid über die anscheins aus sozialistisch-kommunistischen Zeiten ererbte ostdeutsche Armseligkeit. Du hältst uns for zurickjebliehm!, sage ich ihm schließlich auf den Kopf zu. Und nun erzähle ich mir und euch, wie das war an jenem Morgen, als ich vor Jerards Hof ganz umsonst gewartet habe. Und was nachhert kam in unse Familie und im Dorf. Was mir sonst in meine Gedanken reingerät zu der Zeit damals und der nachhert, kann ich noch nicht abschätzen. Meine Erinnerung ist aus allerhand mehr zusammengesetzt als bloß eine Handlung von da nach da.

Im Jahre 59 war es, sagte ich schon. Sommer. Juni käme hin. Denn ich bin nach Jerard hin, ihn zur Schule abzuholen. Im Juli-August waren denn Ferien. Neun lange Wochen. Das Abholen war eigentlich nicht mehr notwendig. Doch ich hatte mirs so angewöhnt von der Unterstufe her, als wir den Schulweg runger ins Nachbardorf Arnrode hatten. Dort eine Schule mits zwei Räumen und einer Lehrerwohnung. Das Ehepaar hat uns in allen Fächern unterrichtet. Unvergessen die Frau Münz und der Herr Münz bis heute. In Sylken hatten wir zwei Schulen, eine bei uns im Dorf ungene gegenüber vom Schickedanzschen Hof mits Lehrerwohnung und einem Raum, die andere auf dem Kirchberg, zwei Räume und Lehrerwohnung. Ab der fünften zogen wir mal in das eine, mal in das andere kleine Ziegelhaus. Wir waren mits unterschiedlichen Klassen zusammen. Unse Klasse in der dritten mits der ersten, in der vierten mits der dritten. In der fünften mits der sechsten, in der sechsten mits der fünften. In der siebten mits der achten, und in der achten mits der siebten. So trafen wir im Laufe der Jahre auf eine jüngere oder ältere Klasse, mits der wir schon einmal unterrichtet worden waren. Besser für uns, wir waren die Älteren. Waren wir die Jüngeren, hatten wir ältere Jungen zu fürchten, einen besonders. Jürgen Humpert. Den werde ich nie vergessen, strohblonde Haare zu Stiezeln aufstehend wie ein Kornfeld, in das der Wind gefahren ist. Nicht der stärkste aller Jungen, war bloß eine Klasse über uns, und wir hatten ja Sitzenbleiber von jedem Alter. Margarete erzählt öfters, wie ein vierzehnjähriger, vierschrötiger Rothaariger aus der vierten sie in der zweiten Klasse zu seiner Ollen ernannte, seiner Alten, seiner Frau, und mits ihr über den Arnröder Schulhof tanzte, was ihr sehr gefiel. Wir hatten also auch mits wesentlich älteren Jungen zu tun. Aber Jürgen Humpert der, den wir fürchteten. Weil: Er war heimtückisch. Wie berechtigt unse Furcht vor ihm war, bestätigte sich, als er aus der Schule kam. Mit kaum sechzehn griff er auf dem Feldweg eine Frau an, vergewaltigte sie und schlug sie halbtot. Man war froh, dass er hinter Gitter kam. Dardarnach hat er sich im Dorf nicht mehr sehen lassen. Ich reizte ihn besonders. Solche Menschen müssen sich an Schwächeren etwas beweisen. Besser, ich kam ihm nicht täglich unter die Augen. In der Unterstufe sind wir zu viert nach Arnrode runger. Auf jeden Fall traten wir den Rückweg zusammen an, Jerard, Margarete und ich und noch Udo.

Mits Udo waren wir nicht eng befreundet. Jedenfalls später, als er begann, diese Faxen zu machen, sich mits zwei Fingern die Nase rieb, Gesichter schnitt, als müsse er sich furchtbar konzentrieren. Noch später konnte er seinen Körper nicht in Ruhe halten. Er machte Dinge, die er gar nicht wollte. Wir sagten: Blaiwe doch ruhig, Udo! Aber er sagte: Wenn iche mer Miehe jebe, werds noch ärjer!, und verrenkte sein Gesicht, seinen Körper. Dabei war er vollkommen intelligent, spielte sogar Zither. Das Komische: Beim Zitherspielen blieb er ruhig, warum wir ihm vorschlugen, er solle doch in den Unterricht die Zither mitnehmen. Aber er sagte, dann lernt er nichts. Dann spielt er bloß Zither. Und er wollte lernen. Wir hatten Mitleid mits ihm. Aber wir haben uns auch gefürchtet. Besessen ist er nicht, sagte Margarete so oft, als wäre sie sich nicht ganz klar darüber. Es sieht bloß so aus. Margarete war damals sehr gläubig. Warum Jürgen Humpert und die anderen Kinner Udo nicht hänselten? So etwas gibt es offenbar auch, dass mal in einer Gemeinschaft eine Einigkeit darüber besteht, den lässt man in Ruhe. Wahrscheinlich ist es von den Erwachsenen gekommen, die uns verwarnt haben, ihn zu necken.

In der Siebenten hatten wir den Unterricht in der Schule neben der Kirche oben auf dem Berg. Margarete musste gerade die Kirche halb umrunden, vom Kircheneingang ein paar Meter entfernt, da war der Schulhof. Sie dann allerdings immer eine der Letzten. Trotzdem oder grad deschertwejen.

Der Tag hatte wie jeder Werktag angefangen. Noch hatten die Hähne nicht gekräht, da warteten die Walzwerker auf ihren Bus vier Uhr, der sie zur Frühschicht nach Hettstedt brachte. Und dann standen die Bauern auf, je nachdem, wie lange sie fürs Melken brauchten. Denn zwischen sechs und sieben Uhr wurden die Zehn- und Zwanzigliter-Milchkannen abgeholt, die an bestimmten Stellen auf hohen Bänken standen. Und die anderen, die wo in der Stadt arbeiteten, waren auch auf den Beinen, die, die den Sechs-Uhr-Bus nach Aserschlehm nahmen und den Halb-sieben-Uhr-Bus nach Hettstedt. Stoppevoll waren die Busse. Das Dorf frühs also schon im Jange, als mich unse Oma aus dem Bett holte. Wach war ich. Aber Wachsein und Aufstehn zweierlei. Weil Sommer war, wusch ich mich unterm Born, kriegte von unse Oma Marmeladenbummen und Muckefuck mits Milich und für die Schule eine Doppelbumme mits Rotworscht. Denn ging ich.

Am Torweg, am Eingang von Schickedanzens Hof, blieb ich stehen, wartete auf Jerard.

Ich lasse mich als dreizehnjährigen Bengel noch ein bisschen in der Toreinfahrt stehen und denken, der Jerard soll nun mal kommen. Währenddessen habe ich Zeit, euch zu erklären, wie das damals bei uns mits dem Land und den Höfen war. Körber der größte Hof. Mits 90 Morgen Land Großbauer. Morgen ist übrigens eine bei uns übliche Maßeinheit und soll sagen, was ein Pferdegespann pro Morgen, also Vormittag, an mitteltiefer Pflugfurche leisten kann. In Sachsen und Thüringen, ob da überall, weiß ich nicht, misst man wiederum nach einer ganzen Tagesarbeit. Im Chemnitzer Land sagt man ein Acker und meint 0,50 Hektar, und ein Dorf weiter, im Thüringischen, misst ein Acker 0,60 Hektar. Entweder sind die Thüringer fleißiger oder nehmen das Maul sehr voll. Bei uns sind vier Morgen ein Hektar. In Ostzeiten galt als Großbauer, wer über 20 Hektar, also über 80 Morgen Land besaß. Wer mehr als 100 Hektar sein eigen nannte, nannte es dann schon nicht mehr sein eigen, weil es bei der Bodenreform enteignet und verteilt worden war unter die, wo nichts hatten, die aus Not heraus aus den Städten kamen, an Landlose auf dem Dorf und vor allem an die Ostler, die Flüchtlinge aus den östlichen Gebieten, die wir Umsiedler heißen sollten. Auch die, wo aktive Nazis und Kriegsverbrecher waren, wurden enteignet. Das verteilte Land durfte aber weder verkauft, verpachtet noch geteilt, noch verpfändet werden, sodass ein Unterschied war zu dem ererbten Land. Da war der Bodenreform-Gedanke in der Hinsicht wirksam, dass Land nicht mehr als Spekulationsobjekt dienen sollte. Woran was Überlegenswertes ist, was ich zu der Zeit damals aber noch nicht sahk. Wir in Sylken hatten bloß ein Pachtgut, das die Familie Strandis bewirtschaftete. Nach 45 ist die Jnädije, wie man Frau Strandis anredete und man nachhert noch von ihr sprach, und ihre Familie, was von ihr über war, in den Westen gemacht. Gab son Spruch, den ich von unse Tante Ruth habe: JnädicheJnaden, Sie ham an jnädijen Faden am jnädijen Ursch!

Als Großbauer war man bis Juni 53 regelrecht verfemt, aus allen landwirtschaftlichen Interessenverbänden wie Vorständen von Molkereigenossenschaften, dem Verein der gegenseitigen Bauernhilfe – VdgB – entfernt, kriegte keine Kohlenkarte und wurde mits einem Soll belegt, dass man kaum noch hochkam. Ein Abgabesoll gab es schon im Krieg zu Adolfs Zaitn, wie die Leute zu den Zeiten vor 45 sagen. Das haben die Kommunisten bloß weitergeführt wegen dem Mangel und nachhert aus dem bekannten System der Planwirtschaft heraus, das dardarzu dienen sollte, die Produktion zu steigern bis hin zum Überfluss und Export. Ist aber Überfluss wenig geworden, wie sich nachhert herausstellte. Da konnten wir leicht solche Sünden wie Kaffeeverbrennen in Südamerika und Weizen-Wegschütten geißeln. Nach der Wende, wo denn wirklich unse Ernten überflüssig wurden, haben die Bauern in unse Gegend sich auch nicht entschließen können, die Ernte unterzupflügen, trotzdem es Prämie dafür gab. Aber versündigt haben wir uns in Ostzeiten auch, indem wir seit Ende der Fünfzigerjahre subventioniertes billiges Brot an Vieh verfütterten, das man individuell hielt, weil das gutes Geld brachte, trotzdem zehn Jahre vorher noch Brot etwas war, was man gegen Bettzeug und Silber dubelte, tauschte. Ein Soll war also unter Adolf schon. Aber dass man die Großen drückte, damits alle Menschen gleicher wurden, das woll noch nicht. Das Abgabesoll war nach sieben Kategorien eingeteilt, wobei man die jeweilige Bodenqualität berücksichtigte. Am meisten begünstigte man die mits dem wenigsten Land. Vielleicht sind auch wegen der schlechten Aussichten die Töchter von Großbauer Körber in den Westen. Die Söhne waren im Krieg geblieben. Körber saß mits seiner Frau ganz allein in Sylken und hatte sein Land an seine ehemaligen Knechte verpachtet. Zu der Zeit, von der ich erzähle, hatten Körbers alles schon an die LPG Typ III übergeben.

Nach dem Aufstand 53 war die Behandlung der Großbauern dann besser. Man hat sie anderscht veranlagt, Steuerbescheide revidiert.

Man könnte meinen, die Arbeiter hätten am 17. Juni in Berlin denn auch für uns angeblich Verbündete, die Bauern, was getan. Trotzdem man heute hört, der 17. Juni soll gar nichts dardarmit zu tun gehabt haben. Die Reformen waren alle schon vorher beschlossen. Bloß: Man hätte die Arbeiter vergessen, zu sagen, man hätte eingesehen, die Normen wären zu hoch. Hätte man den Arbeitern ihre Norm rungergesetzt, da wäre kein Aufstand gewesen. Vielleicht wurden die Arbeiter auch absichtlich vergessen von Leuten, die den Neuen Kurs, wie man ihn nannte, sabotierten. Vielleicht hatten Ulbricht und Mielke seine Hand im Spiel. Denn klar sei gewesen, der Ulbricht sollte weg von der Macht und wahrscheinlich dafür der Sozi Grotewohl ran und der Kurs auf die Einheit hin gefahren werden. Das war von Berija vorgesehen, vom Nachfolger von Stalin. So ne Theorie habe ich aus dem Fernsehen. Muss also nicht stimmen. Ziel sei gewesen, die Herstellung der Einheit von Deutschland. So war wieder mal eine Chance vertan. Demnach soll der 17. Juni dem Ulbricht wie dem Adenauer genau in die Hände gespielt haben. Wenn das wahr wäre, müsste man heute den 17. Juni ganz anderscht bewerten. Da haben Adenauer und die auf seiner Linie waren, bloß Krokodilstränen geweint, wenns wieder mal den Aufstand zu würdigen galt. So geht es ehmt. Wieviel Attentate waren ganz umsonst auf den Hitler. Und Angebote vom Großen Bruder und auch von unsem Staat, damits Deutschland einig wurde, solls gegeben haben. Hätte klappen können. Hat aber ehmt nicht. So mussten wir als Splitterstaat man so recht und schlecht rumkommen. Aber ich bin vom Thema weg: 54 hat der Ulbricht denn gesagt, dass auch die Großbauern eine Perspektive in der Arbeiter-und-Bauern-Republik hätten. Es zeigte sich nämlich an den ersten LPG, dass die Erfahrung der Großbauern, ihr Fachverstand bei der Organisation der Arbeit gebraucht wurden und andererseits, dass man mit dem Wirtschaften klein-klein in einzelnen Gehöften nicht zu den Ergebnissen kam. Die Bodenreform hat ehmt nicht die erhofften Ergebnisse gezeitigt. In Westdeutschland herrschte das »Bauernlegen«, wie unse Zeitung berichtete. Und bei uns wurden Genossenschaften hundertprozentig verkündet, trotzdem gar nicht das Fachpersonal da war, außer ehmt bei den wenigen, die mehr Land hatten. Aber sich freiwillig von seinem Land trennen, in das so mancher Tropfen Schweiß geflossen war! War was anderschtest, als wenn du dich ehmt ums Verrecken nicht dardarmit ernähren konntest und es zur Zwangsversteigerung kam. Sahk wie eine einzige Willkür des terroristischen Staates aus, was es auch war. Aber ehmt, es gab ökonomische Gründe, sage ich mal heute so.

Die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften entstanden ab 1952. Merschtens vom Land der Bauern, die wo ohne Erben verstarben oder die in den Westen geflüchtet waren, und Neubauern, die wo sich aufs Wirtschaften doch nicht so verstanden und sich Vorteile von dem Eintritt in die LPG versprachen. Vergünstigungen gab es ja eine Menge. Aber war kein guter Kopf dabei, gings da erst mal gar nicht vorwärts, dass die werktätigen Einzelbauern, wie man uns Klein- und Mittelbauern nannte, keinen Anreiz hatten, einzutreten. Es gab das Wort von der »LPG Hohe Melde«, worüber ihr erst lachen könnt, wenn ihr wisst, dass der Bauer ein Unkraut Melde schimpt, was eigentlich den Gänsefuß meint, das hochschießt auf dem Acker. Hätte man auch »Hoher Hedrich« heißen können, der sich ebenfalls sehr breitmacht. Notfalls ist Hedrich als Futter für Kühe zu verwenden, macht aber die Milich bitter. Erst mits einer besseren Leitung rappelten sich die LPG.

Nach Körber war Schickedanz der mits dem meisten Vieh und Land. Er bewirtschaftete vielleicht 50 Morgen und stellte nach der Einteilung damals einen Mittelbauern dar. Von 10 bis 20 Hektar an war man Mittelbauer und hatte es immer noch schwer, das Soll zu erfüllen. In den Augen von uns Sylkenern galt das aber schon als ein großer Bauer. Vielleicht kommt es daher, dass man viel aus unsem schweren Boden rausholen kann. Was allerdings auch Nachteile hat. Er wird als Minutenboden bezeichnet, weil man fast auf die Stunde genau sehen muss, dass der Boden nicht zu trocken ist, denn ausgetrocknet wird er steinhart, und nicht zu feucht, da sinkt man mits die Gummistewwel ein und kommt nur noch ohne Gummistewwel wieder raus, so zäh und grundlos ist der Boden. Wir selber auf unsem Acker haben Bonitäten von 80 bis 92 bei einer höchsten Punktzahl von 100, die man mal als Maßstab von einem Garten in der Magdeburger Börde, also ziemlich unse Gegend, angesetzt hat. Machdeburch, wie wir sagen, ja unse Landeshauptstadt, nachdem die Bezirke wieder in Länder zurückverwandelt wurden. Trotzdem wir immer auf Halle geglupscht haben und Machdeburch uns vollkommen aus den Augen war, hat die Stadt den Zuschlag bekommen, weiß ich warum. Schickedanzens Hof so groß, dass sie einen Knecht hatten, was schon als Ausbeuten fremder Arbeitskraft galt. Im Juni fuhren die Frauen und Kinner aus dem Dorf mits dem Pferdewagen auf die Schickedanzschen Felder raus. Die Frauen zum Rübenverhacken. Jede nahm eine Reihe. Die Kinner rutschten ihnen auf dem Boden nach zum Verziehen, ein oder zwei Reihen, je nachdem, wie kräftig die Kinner waren, wenn es ging, was um die Knie rumgebunden, weil der Boden knochenhart war. Im Herbst fuhren Frauen und Kinner zum Kartoffellesen. Freitags holte man sein Geld ab. Es gab regelrechte Listen, wo alles aufgeschrieben stand. Ich hatte auf unsem Hof zu tun. Aber Margarete fuhr fleißig mits zu Schickedanz auf den Acker, um sich Taschengeld zu verdienen und sich freitags ihr Geld abzuholen. Dardarzu durfte sie von zu Hause weg. Sonst kam sie als Älteste von fünf Kinnern eher nicht vom Pfarrgehöft runter. Sie hatte ihre Pflichten. Und Jerard und ich hatten unse. Sie fing mits Kinnerhüten an, Jerard und ich mits Gänsehüten. Nachhert ist Jerard schon mits dem Vater raus und hat Mist ausgebracht, gepflügt, die Scholle abgeschleppt, gegrubbert, geeggt, gedrillt, ehmt alles gemacht, was in seinen Kräften stand. Die Arbeit lag ihm. Wegen meiner ewigen Krankheiten war ich weniger zu gebrauchen, habe aber auch schon zugefasst, wie ich konnte.

Wir Luthers hatten 40 Morgen Land, kaum weniger als Schickedanzens. Mein Vater hat außerdem noch für die, wo arbeiten gingen und bloß drei, vier Morgen besaßen, den Acker fertiggemacht, wozu alles gehört außer dem Ernten. Das konnten die Leute auf so kleinen Flächen selbst. Sie mähten sich ihrs runter, banden die Kornstuken und so weiter. Zickenbauern nannte man die mits bloß drei bis vier Morgen, weil sie sich Ziegen und keine Kuh leisten konnten. Dafür halfen uns ihre Frauen, notfalls auch die Männer, beim Rübenverhacken und beim Ernten. So kamen beide Teile mits der Arbeit zurecht. Und dann hatten wir noch eine Reihe von Familien, die auch Landwirtschaft nebenbei machten, aber genügend Land hatten, um sich Kühe zu halten. Die Kühe gaben Milich, besonderst die frischmelkenden, trotzdem man mits ihnen auch den Boden bearbeitete. Das waren die Kuhbauern. Ochsen wurden nur früher auf dem Gut und im Unterschloss verwendet. Man sagt, ein Ochse wächst ins Geld. Als Wiederkäuer ist er – anderscht als wie die Pfäre – ein guter Futterverwerter. Man läßt ihn ein, zwei Jahre arbeiten, wo er treckt, was nicht mal unse schweren Jäule schaffen. Und denn verkauft man ihn. Aber bei unsen Bauern fand er keine Verwendung. Mits Pfären wirtschafteten damals im Siehleken sieben, acht Bauern. Großbauern gabs bei uns weiter keine, was wohl mits den drei Gütern zusammenhing, die wir in Sylken und Arnrode gehabt hatten, die das meiste Land besaßen.

Da steht der Junge, der ich war, also noch immer vor Schickedanzens Hof wie bestellt und nicht abgeholt. Aber nun lasse ich das Fritzchen Luther mal aufhören zu denken: Soller mal komm, der Jerard. In seinen Gedanken wird jetzt draus: Mache iche mir davonne? Oder glupsch iche mal? In sein Denken kommt jetzt eine andere Frage: Ob der Jerard vielleicht krank ist? Dann müsste Fritzchen sowieso nachsehen. Nachhert oder gleich. Also gleich.

Also öffnete ich die Hoftür. Im Hof traf ich auf die größte Mistkuhle im Dorf mits dem größten Haufen drin. Der Hofhund schlug an. Ich besuchte ihn. Trotzdem er mich kannte, musste ich immer erst mits ihm sprechen, damits er Ruhe gab. Sein Futternapf leer. Und gleich kam auch der Foxterrier und umsprang mich. Die Gänse noch da, nicht beim Hütteteich, wie sichs gehörte, nicht rausgelassen, als frühs die Gänsehirtin »Jänse, Jänse« gerufen hatte.

Wie die Gänse lange Hälse machten, zischten und grell-gellende Schreie schrien – klug, wie sie sind, dulden sie keinen Fremden –, der Foxterrier mich umsprang, wurde ich sehr unruhig. Ich pfiff, schrie gegen die Gänseschreie an: Jerard, Jerard! Als ich damits aufhörte, mits einem Mal eine besondere Stille: zusammengesetzt aus einer völligen Abwesenheit von Menschen und einer besonders starken Anwesenheit von Haustieren, von Gänsen, quiekenden Schweinen, mal ein Pferdewiehern, Hühnergackern. Vor allem die Kühe brüllten. Wer ein Ohr für Viechter hat, der versteht aus dem Klang, obs bloß mal so ein Übermut ist, ein Zeichen, ich bin noch da, ich lebe, oder ein Anliegen, gar ein dringendes, dardarhintersteckt. Ich hörte ein klagendes Unverständnis der Kreatur heraus, dass es mich vom Haus weg zu den Kühen trieb. Im Stall sah ich: die Euter prall. Kurz vor acht wars. Und zwischen sechs und sieben Uhr wurden die Milchkannen im Dorf abgeholt, sagte ich schon, entsprechend früher wurde gemolken! Ich rannte nach den Kannen, kannte mich ja aus wie auf unsem eigenen Hof. Vor lauter Eile nahm ich zuerst nicht mal den zergerbten Ledertornister von meinem Vater ab, den ich auf den Rücken geschnallt hatte. Ich setzte mich auf den Melkschemel und stripste. »Strips, straps, strull, is der Emmer niche bals vull.« Wars jewohne Gott sei Dank. Schule hatte ich vergessen. Leben war wichtiger. Immer hatte ich das laute, tiefe Klagen der Kühe im Ohr, die noch auf mich warteten. Zeit verging. Mir war was abverlangt. Bei uns sechs Kühe, wo ich bloß dem Vater mithalf. Hier acht und ich ganz allein. Ein geübter Schweizer schafft so an die 17 Kühe per Hand. Davon konnte bei mir keine Rede sein. Die Finger, Arme taten weh, was mir wiederum recht war. Solange war ich abgelenkt von den Gedanken, was im Haus passiert sein könnte. Die beiden Katzen Minka und Mulle strichen um mich und miehten und mauten, sodass ich ihnen zwischendurch Milich satt, also gleich von der Kuh, hinstellte. Milich satt, Suppe und Essenreste war, was sie von uns Menschen zu erwarten hatten. Fleisch mussten sie sich selbst beschaffen, was sie auch fleißig taten. Ich goß die Milich in die Kannen, schleppte die in den Stallgang und kämpfte kräftig gegen die Bilder an von schrecklich Dahingemordeten. Ich gab den Kühen zu saufen, sah nach den Pfären. Die genauso unversorgt. Ich tat Heu in die Raufe, damits sie fürs erste was hatten, und lief zur Schuke, zum Born, um sie zu tränken. Pfäre sind mits Wasser sehr eigen, sehr pingelig, dass man für sie eigene Eimer haben muss. Ist es nicht sauber, prusten sie es einem über den Latz. Ich stellte den Eimer auf meinem Oberbein ab, wie ich das bei unsen Pfären auch machte, damits sie sich nicht so tief herunterbeugen mussten und sie mir den Eimer nicht umkippten. Ich ließ die Hühner raus, streute ihnen Weizen, weil es nur eine kleine Mühe war. Den Schweinen gab ich bloß zu saufen. Fressen kann ja mal unterbleiben, aber saufen muss sein. Auch mits den Hunden wusste ich nichts Besseres anzufangen, als ihnen wenigstens was zu schlabbern hinzustellen. Gott sei Dank hatten wir hier ungene im Dorf eigene Hofbrunnen. Die oben auf dem Barch, wie wir sagen, hatten mits dem Wasser größte Schwierigkeiten. Nur ein Brunnen, eine Schuke, ein Born bei Sperling, von dem alle ihr Wasser holen mussten mits dem Eimerholz über den Schultern, dem Joch. Zwei Leute mussten ran und schubsen, den Schwengel schwingen, damits überhaupt genügend Schubkraft entstand. Und der Born gab, ob es an den Bodenschichten lag oder woran sonst, nur rostiges Wasser. Selbst der Brunnen auf dem Pfarrhof, auf mittlerer Höhe von Sylken gelegen, brachte nur rostiges Wasser zutage. Und wenn man denkt, da oben hatten Leute Landwirtschaft wie mein Großonkel Ernst Luther, und der gar nicht so wenig. Und sie mussten nicht nur für sich selber, sondern auch fürs Vieh schleppen, sommers wie winters! Später hat mein Großonkel dann mits der Kaupe, mits der Kute, einem Wasserfass, vom Gut holen dürfen. Wir im ungeren Dorf hatten dagegen Glück mits dem Wasser und wenig Mühe. Ich gab den Kaninchen zu saufen und den Meerschweinchen, die man dazwischen hielt, weil die mits ihrem Fiepen die Ratten vertreiben. Auch zwischen Zicken hielt man deschertwejen Meerschweinchen. Schon wollte ich sehen, ob ich was Frisches für die Karnickel fand, und anfangen zu füttern. Aber die Ruhe hatte ich dann doch nicht wegen dem, was wohl im Haus passiert sein könnte. Ich überlegte, ob ich zu Hermann oder meinem Vater gehen sollte. Aber Hermann wie der Vater würden fragen, ob ich denn nicht im Haus nachgesehen hätte und mich einen feigen Hund schimpen. Schewwern würden sie. Und in der Schule würde die Lehrerin mich nach Jerard fragen, und ich müsste lügen, was mir fast unmöglich ist. Der Vater hat mits harter Hand alle Lügerei aus mir rausgeprügelt, dass ich schon bei dem Versuch rot werde und stottere.

Die Lippen bibberten, die Zähne klapperten, und die Knie schlenkerten gummiweich, so sehr war mir zum Ferchten, als ich ins Haus ging. Aber siehe da, ich hatte mich ganz umsonst gefercht. Da war nichts. Außer niemand da. Als ob man die Familie grad mal weggerufen hätte von einem sehr späten Abendbrot oder frühen Frühstück. In den Tassen noch Reste von Lorke und auf den Tellern Krümel. Ich untersuchte die ganze Wohnung. Im Schlafzimmer die Schrankschübe offen. Das Schließen war anscheins nicht mehr ihre Sache gewesen. Da würden sowieso welche kommen und die Schubladen aufreißen. Die Gute Stube mits ihren schweren schwarzen Möbeln hatte mir immer den Atem weggenommen wegen der Gewaltigkeit de Möbel. Auch da sah ich nach, damits ich dem Vater sagen konnte: Iche hab miche werklich umjesehn. Da wor niemand, jor niemand! Offn janzen Hoff niche! Un im Hause aach niche! Das Vertikot ebenfalls offen, als solle sich jeder am schönen Kristall bedienen. Hatte der Knecht vielleicht auch etwas mitgehen lassen? Auf sein Fehlen machte ich mir jetzt einen Reim. Er war ausgerissen, als er seinen Bauern nicht fand, wollte in die Sache nicht reingezogen werden. Sicher hatte er nichts mitgehen lassen, obwohl er als erster ein Recht auf Beerbung hatte. Zu groß sein Respekt vor dem Schandarmen, Astel-Knastel, dem elendigen Krepel. Der verlachte wie verhasste blau-uniformierte, jähzornige Mann trachtete, den Leuten Schaden zuzufügen, wie er nur konnte. Der würde sicher eine Hausdurchsuchung anordnen und den Knecht der Mitwisserschaft bezichtigen.

Warum hatten die Schickedanzens alles stehen- und liegenlassen? Vorins sagte ich schon, wir konnten uns keinen Reim darauf machen. Dass man in die LPG sollte, Typ III oder wenigstens Typ I, deschertwejen ist niemand sonst von uns weg. Zugegeben, es war schwer, dass man alles zusammenschmeißen sollte mits anderen und seins nicht mehr rauserkennen. Aber anderscht als wie der Paschter gemeint hat, Mietlinge sind die Sylkener auch in der Genossenschaft nicht geworden. Woanderschert vielleicht. Aber die Sylkener nicht. Feige Misthunde kann man sie schimpen. Doch an ihren Höfen krallten sie sich fest, selbst wenn zeitweilig kein Land mehr dran hing.

Ich ging vom Schickedanzschen Hof die breite Straße zurück zu unsem. Der Vater beim Ausmisten. Alwin und Juste nicht da, unse Jäule, unse Pfäre, unse Zotten. Nur die Lotte. Was die Dreie in ihrem Leben getreckt haben! Traben jetzt frei durch den Jäule-Himmel, hoffe ich mal, denn entweder jiwets für alle einen Himmel oder für gar keinen.

Schwere Pfäre, Zotten, hatten wir in unse Gegend wegen dem schweren Boden. Zugkraft ist verlangt, dass man mitunter auch mal drei Zotten anspannt. Leichte Pfäre haben die Ostler mitgebracht von ihren Trecks, die Schwarzmeerflüchtlinge und die, die Adolf in Polen angesiedelt hat und die dann auch da wieder raus mussten, und maniche brachten gleich viere mit, schöne Füchse von bester Züchtung, sahen herrlich aus. Wo sie die herhatten! Vom Schwarzmeer unten sicher nicht. Man sahk doch, dass das Polenpferde waren! Doch wenn ich dran denke, dass nach der Wende auf den Staatsgütern in Mecklenburg/Vorpommern Zuchtkühe abgeschlachtet wurden, weil es den unbeleckten westlichen Eigentümern so gefiel! 40 Jahre Arbeit wurden zunichte. Die Angestellten konnten nichts machen, trotzdem sie sich alle Mühe gaben, die Staatsgüter in eigener Regie zu führen. Aber ihre Pläne wurden bei der Treuhand für null und nichtig erklärt. Dagegen sind die deutschen Ostler damals noch sorgsam mits dem umgegangen, was ihnen unter die Finger kam, haben sich nicht so gegen menschliche Arbeit versündigt. Sie haben ehmt nicht den Hochmut gehabt, in dem Land, das sie besetzten, wäre bloß das gut, was von ihnen selber kommt. Konnten sich ja auch gar keinen Hochmut leisten, waren doch bloß Flüchtlinge.

Nachhert sind die Ostler von den Füchsen abgekommen. Einige Nachkommen gaben sie zur Zucht weg.

Der Hermann also mits die Jäule auf dem Acker. So musste ich all meinen Mut zusammennehmen um vor meinen Vater zu treten.

Schule schon aus?, sagte mein Vater.

Das niche, antwortete ich.

Schon saß seine Hand mir mitten im Gesicht. Eine jeschallert kriegte ich, dass ich mitten am hellen Sommermorgen Sterne blitzen sahk.

Erzähle mer niche, dass de krank bist!, kommentierte der Vater seinen Schlag. Solange de noch offstehn kannst, kannste aach loofn. Un wer loofn kann, der schert sich vormiddachs beim Kanter.

Kanter, also Kantor, sagte unser Vater, meinte aber die Schule, was für ihn eins war. Unser Vater also sehr aufgebracht und mich falsch beschuldigend, warum ich mich eilends aus der Reichweite seiner Hände begab und schrie: Se sin fortjemacht! Ich großer Junge begann zu flennen und gab meinem Herzeweh Ausdruck über die Ungerechtigkeit auf dieser Welt, die mir an diesem Morgen den Freund geraubt und mir eine prächtige, mir gar nicht schmeckende Feige des Vaters auf mein Ohr eingebracht hatte.

Flenne niche, schrie der Vater. Was saachste?

De Schiggedanzens sin fort. Janz bestimmt sin se innen Westen rüwwer! Wettich!, schrie ich, näherte mich dem Vater um weniges. Gleich würde sich dessen Zorn in Kummer verwandeln. Mir sin de anzijen noch, Pappa. Jetz blaibts an uns klehm. Jetz werd mer uns schigganiern!

Se sind abjehaun? Biste sicher?, fragte der Vater.

Ich nickte.

Jloob iche niche. Allehoope?

Allehoope!, bestätigte ich.

Ganz schlecht, also ganz böse, wurde der Vater. Und weil er stehen blieb, mits beiden Händen umschloss er die Mistforke, als könne die ihm jetzt als Stütze dienen, redete ich weiter, ganz sachte wie zu einem kranken Jaul. Ob mer auch fortmachn, Pappa?

In dem Augenblick hatte ich nur eins im Kopf, dem Jerard nach! Verlassen, verraten fühlte ich mich. Wenn einer geht, will der andere nach, egal wohin. Ist erst mal ein Anfang von einem Auszug! Hat man ja im Revolutionsjahr miterleben dürfen. Selbst als unser Vater gestorben ist, habe ich so ein Gefühl gehabt. Wollte ihm nach, als ginge es ihm jetzt besser als mir, als verpasse ich was, wo wir doch alle sterben müssen! Neid empfand ich gegen Jerard und Abenteuerlust. Und dann: Solange die Schickedanzens da waren, haben wir uns hinter der ihren Rücken versteckt. Abgesehen von den alten Bauern, die sowieso in ein, zwei Jahren in Rente gingen wie unser Großonkel Ernst oben auf dem Barch, die man deshalb nicht belatscherte, waren wir außer Schickedanz die letzten, die noch nicht unterschriehm hatten, wie man bei uns dardarzu sagte, wenn man seinen Friedrich Willem unter die Erklärung malte, dass man in die LPG eintrat. Wir würden keine Ruhe mehr kriegen, wenn sonntags die Agitprop-Truppen aus der Stadt kamen.

Bei uns allerdings ging es nicht zu, wie man mancherorts hörte, wo in einem Dorf in einer Woche über 80 Agitatoren aus städtischen Betrieben und Organen des Kreises einfielen, sich sieben Tage rund um die Uhr über die Bauern hermachten, je zwei Agitatoren über einen Bauern. Frühs und mittags trafen sich die für den »Sozialistischen Frühling« auf den Dörfern Beauftragten zum Essen in der Gaststätte und zur Bekanntgabe wichtiger Argumente und Ergebnisse. Zuerst versuchten sie sich an den am meisten angesehenen Bauern. Wobei nicht unbedingt die Größe des Hofes im Dorf galt, sondern die Tüchtigkeit, mits der einer wirtschaftete. Fiel zum Beispiel der »Milchkönig«, so warfen auch weitere das Handtuch. Wie beim Domino-Spiel. Und die Letzten, die sich immer noch nicht zum Schritt Vom Ich zum Wir entschließen konnten, wurden zu einer Veranstaltung geladen, wo sämtliche eingetretenen Bauern und dardarzu noch die Agitatoren und noch weitere Arbeiter aus Betrieben versammelt waren. Dem Druck standzuhalten! Sollen sich dann manichmal bloß drei, vier Bauern zu einer LPG Typ I zusammengeschlossen haben, weil sie partout mits andere Bauern nicht zusammen sein wollten. Da gab es vorübergehend an einem Ort gleich fünf LPG!

In unsem Kreis wurde solcher Aufwand nicht betrieben, war da auch nicht notwendig, weil die Vergesellschaftung schon weiter als woanderschert vorangeschritten war, wegen die Güter von alters her. Es gab nur wenige Bauern, die in der Vergangenheit nur von der Landwirtschaft lebten. Maniche von die Neubauern, die auf dem Junkerland wirtschafteten, hatten starke Probleme und versprachen sich einen Vorteil von dem Eintritt. Vergesellschaftung, mits dem Wort sollte wohl das Gegenteil von Vereinzelung bezeichnet werden.

Für den Schritt Vom Ich zum Wir war unser Vater nicht zu haben. Doch in den Westen zu gehen stellte für ihn auch keine Verlockung dar.

Diche is woll niche janz jut, Klaner? Iche jeh hier niche fort, sagte der Vater. Du waßt, das war sait dem Jroßvader von unsem Jroßvader unser Hoff. Den jeb iche niche off wejen dem gommunisdischen Dreckstaat mits sane Jenossenschaften. Jeht das in dan Schättel oder muss iche noch mal nachhelfn! Iche bin for unsen Boden verantwortlich, da lasse iche niemand Fremden ran.

Mein Vater war nicht der Mann, der sich entschuldigte. Wenn ich mal meiner Meinung nach ungerecht eine vom ihm jeschallert bekommen hatte, sagte er: Macht nischt, for irjendewas werds schon jewesen san.

Se wern dir einlochn, wenn de so was von dem Staate saachst, warnte ich.

Hawwe ich dir um Rat jebätn? Soll der Schiggedanz sehn, ob er im Westen san Glück find! For mir is das kan Bauer! Der hat sich for mir erledicht, wenn es wohr is, was du da annimmst! So was dut mer ums Verreckn niche. Der Vater schwieg, milderte dann sein Urteil. Es sai denne, da is noch janz was anderschtes dardarhinder, was mer niche waß. Un der Knecht?, erkundigte er sich.

Aach niche da.

Jehk runger bai de Jemainde, dem Schulzen dardavon Mittailunk machen, befahl der Vater. Die Viechter missn versorcht wern!

De Kiehe hawwe ich jestripst!, vermeldete ich meinem Vater.

Haste aach leerjestripst? Du waßt, darf nischt inne Euder blaihm.

Pappa!, sagte ich beleidigt, wusste ja, wie empfindlich die Tiere auf die Euter sind. Iche hawwe aach alle Viechter zu saufen jejehm.

Werd woll doch nochn Bauer aus diche!

Das seltene Lob machte die ungerechtfertigte Maulschelle wett.

Ich holte meine mits blauen Nitrolack angestrichene Mühle aus der Scheune. Mits den Scheinchen, die mir hoffentlich die Nappern und Napperschen, Nachbarn und Nachbarinnen, zur Konfirmation nächstes Palmarum spendierten, würde ich mir ein neues Fahrrad kaufen.

Das Gemeindeamt im Unterschloss zwischen dem Unterdorf Arnrode und dem Oberdorf Sylken.

Trotzdem Arnrode und Sylken verwaltungsmäßig zusammengelegt worden waren, sind sie zwei Dörfer, wie sie verschiedener nicht sein können. Sylken ein wahrscheinlich von Wenden erbautes Dorf auf dem Berg. Und somit wasserarm. Die Sage geht, einstmals hätten die Sylkener in einer Niederung in der Nähe eines Baches gesiedelt, am Sump, also auf Sumpfland. Suhle-Siehle-Siehleken-Sylken. Lüttjen-Siehle noch heute ein Gebiet in Richtung Hettstedt zu finden. Eine Überschwemmung suchte die Einwohner heim. Die Überlebenden flüchteten auf einen Berg. Jeder Hof wie eine Festung. Die sehr große Kirche mits ihren dicken Mauern zusätzlich von den Höfen geschützt, sodass sie vor ringsum sie umgebenden feindlichen Stämmen gesichert waren. Die Burgenmentalität hat sich bei den Sylkenern erhalten. Sie sind schwer zu gewinnen, wachsam gegen Fremde. Doch die Ausnahme ist Sylken in unsem Landstrich auch wieder nicht. Neulich war ich in einem Dorf, viel größer als wie unsres, jeder Hof abgeschlossen, dass man nicht mal die Tür aufklinken kann, kein Namensschild dran und keine Klingel, außer es handelte sich um ein Geschäft, und manichmal nicht mal eine Hausnummer. Ganz anderscht dagegen das kleine Arnrode, zweihundert Seelen, wie unser Paschter Kratochwil zu sagen pflegte, (weiß nicht, ob er damits auch die Ungläubigen in die Zahl einschloß), wasserreich, im Einetal gelegen, und ein zweites Flüsschen, die Mukeräne, fließt durch den Ort und dann in die Eine. Gerade Straßen durchziehen das Dorf. Die Bewohner freundlich. Nach der Wende machten sich beide Dörfer die neue Freiheit zunutze und trennten sich. Doch wurden in einer bals erfolgenden Verwaltungsreform nicht nur Arnrode mits Sylken und Sylken mits Arnrode wiedervereint, sondern zusammengeschmissen auch noch mits Alterode, Stangerode, Ulzigerrode im Harz, mits Welbsleben und Quenstedt. In Sylken der Sitz des hauptamtlichen Bürgermeisters. Dardarnach nennen wir uns heute. Die Dörfer dürfen ihren Ortsnamen nach Sylken hinzusetzen. So geht das Leben.

Zwischen Sylken und Arnrode also das Unterschloss. Dort residierte der Schulze, der Bürgermeister. Der, der nach dem ersten nach 45 eingesetzt worden war. Ein scharfer Hund, aber gerecht. Direkt schaden wollte er niemandem. Der vorchte vom Astel-Knastel, unsem Schandarmen, im Frühjahr 53 abgeholt nebst seinem Arnröder Stellvertreter, dessen Tochter Evchen in unse Klasse ging, und dem Buchhalter.

Alle Kinner hatten Schule. Ich aber fuhr mits meiner Mühle zum Schulzen als Überbringer von einer Nachricht. Das baute mich sehr auf. Ist ja auch so, dass besondere Vorkommnisse, egal, ob sehr schön oder ganz im Gegenteil, für ein Kind immer Abenteuerwert haben. Wie waren wir außer Rand und Band, als unser Arnröder Schulhof von der nahen Eine überschwemmt wurde nebst gleich dem an der Eine gelegenen Garten und der Wetterstation von unsem tapferen Werk- und Turnlehrer Herrn Münz. Über Holzlatten balancierten wir zum Abort, einem Plumpsklo, zum Garten hin. Das war etwas! Sowieso kann wohl kein Mensch auf einmal ermessen, ist ihm etwas Schlimmes passiert. Im Grunde glaubte ich gar nicht, dass Jerard nicht mehr da sein sollte. Und nachdem ich dem Vater Mitteilung gemacht hatte, war ich eher ganz befeuert von meiner Wichtigkeit und erschien mir gleichzeitig wie ein Lügenbold, wie einer, der in einem Film spielt, der der Wirklichkeit zum Verwechseln ähnlich ist, aber doch keine Wirklichkeit ist.

Nach Arnrode gehts, wiewohl in den Harz hinein, immer abwärts. Doch rechter Hand wächst ein Berg auf Sylkener Höhe an. Der Wiepstein. Auf dem Berg Wiepstein die Burg Wiepstein. Nach zwölfhundert gegründet, also viel jünger als wie unser Siehleken und erst recht als wie Arnrode, was wohl noch fünfzig Jahre älter sein soll, trotzdem es so klein ist. Die Burg Wiepstein denn leider geschleift, weil die Bewohner zu Raubrittern verkommen sind. Die Reste mit Turm und erhaltenem großem Rittersaal immer noch gewaltig, dass man dort in den siebziger Jahren einen Film drehte. Til Ulenspiegel bei Rittern zu Gast, zeigt ihnen mal seinen Nackten. Einmal im Film auch unser Sieheleken zu sehen mits seinem dicken fetten dreifachbehaupteten Kirchturm. Sylken mehr als 200 Jahre vorher gegründet: 990. Grad im Wendejahr hatten wir unse Jahrtausendfeier. Zu drei Seiten fällt der Wiepstein steil ab, nur nach Sylken hin ist die Burg nicht auf natürliche Weise geschützt. Geheime Gänge von der Burg ins Tal solls wohl drei gegeben haben. Ein sehr breiter nach Siehleken, wo für Pferdewagen Platz war. Der soll im Sauerschen Hof geendet haben. Den Eingang sahk ich in meiner Kindheit noch mits eigenen Augen. Einer, nicht mehr auffindbar, soll hinunter ins Einetal zum Holzberg hin Richtung Alterode geführt haben. Und einer am Fuß des Burgbergs beginnend, der Bierkeller hieß, anscheins war da mal Bier gelagert worden. Der in meinen frühen Grundschuljahren auch noch ein Stück weit zu begehen, bis zu einem Wasserloch und eingestürzten Mauern. Nachhert nutzte die LPG den Bierkeller als Standort für ihre Trecker und verrammelte den Eingang.

Am Unterschloss machen sich Berg mits Burg zu so einer Höhe auf, dass einem immer nochbeklommen wird beim Gedanken, wie schutzlos Reisende hier den räubernden Mansfelder Rittern ausgesetzt waren.

Von wegen dem erhabenen Anblick verfingen sich in unse Kindheit unse Gedanken an den Fragen und Vorstellungen, was einstmals auf der Burg geschah. Und denn hörten wir in den unteren Klassen im Fach Heimatkunde allerhand Sagen aus unse Gegend. Herumführerin durch unse nahe Heimat war unse liebe Frau Münz, einzige Lehrerin in allen Fächern außer Werken und Sport – dafür und für die Betreuung des Schulgartens ihr Mann zuständig – Liederbeibringerin und Märchenvorleserin. Den letzten, auch schon den vorletzten Tag des Schuljahres ließen wir unse Arme und Köpfe auf unse tintenverschmierten, verschnitzelten dickholzigen Bankpulte sinken und lauschten unse Frau Münz, die schwarz-grauen krausen Haare zum Knust gesteckt, wie es damals die Frauen taten. Den Lehrplan hätten wir durch, sagte sie. Nun belohnte sie uns, die wir nach Märchen und Sagen ganz gierig waren, mits Vorlesen Stunde um Stunde.

Neben der Burg haben bis zum Jahre 56 Umsiedler, also Flüchtlinge, gewohnt. Noch heute Reste der Häuser. Bei unsem nicht sehr stracksen Heimweg über den Wiepstein sind wir den Kinnern von da immer aus dem Weg gegangen, trotzdem wir in der Schule zusammen mits ihnen unterrichtet wurden und keins besonders auffiel. Eine Räuberbande hause hier oben, hieß es. Ihr schrieb man auch die versuchten Einbrüche im sehr prächtigen grünspanbedeckten Mausoleum auf dem Holzberg zu, was der Familie des Freiherrn v. Knigge gehörte. Dass die Wiepstein-Familien 56 allehoope, alle Mann, in den Westen röwwer sind, wir haben uns wahrhaftig nicht gegrämt. Und die Friedenstante lebte dort, der man nachsagte, sie hätte die drei Männer ins Unglück gebracht, den vorchten Schulzen von Sylken, seinen Stellvertreter und den Buchhalter. Aber heute weiß ich es anderscht. Meine Tante Hildegard, die Frau vom Bürgermeister bis 53, die alte Frau Erb, hat mir jetzt, nachdem alles nun wieder anderschtrum läuft, die Geschichte erzählt. Ich werde meine Tante bei Gelegenheit zu Wort kommen lassen. Sie behauptet sogar, der Friedenstante sei zu verdanken, dass eine Reihe Pappeln in der Eine-Aue unterhalb der Burg wächst. Sie wäre mits ihren Emmern nicht nur von der Quelle unten am Bad zu ihrer Kate raufgelaufen, sondern sie hätte mits Wasser aus der nahen Eine auch die Pappeln in trockenen Sommern gegossen. Damals war sie eine sehr unbeliebte Person.

Friedenstante hieß sie, weil, sie war für den Weltfrieden, wie er damals überall mits weißer großer Schrift auf den Hauswänden verkündet wurde. Man sagte, sie hasse die Deutschen. Was wir schon gar nicht verstanden, weil sie eine Deutsche war und alle um sie herum doch auch. Wir haben uns vor ihr gegraust. Sahen wir sie auf unsem Heimweg von der Quelle ihre Wassereimer hinaufschleppen, flüsterten wir nur noch, als ob sie Luchsohren hätte, und machten einen weiten Bogen um die angebliche Hexe. Groß, hager, langnasig war sie, trug ein Strickmützchen. Uns grauste vor ihr. Und grausig war auch ihr Ende. Sie vergiftete sich. Man öffnete sie. Damals dachte ich mir, in ihrem Kopf fände man viele Schubkästchen, in einem dardarvon wäre das Gift. Eine sehr interessante Vorstellung. Wir meinten, sie bekam, was sie verdiente. Aber es hat sich wohl nicht so verhalten. Übrigens, was mir damals nicht aufgefallen ist, die Arnröder nannten sie nicht Friedenstante, sondern Friedenstaube. Und schon daraus ersieht man, was die Arnröder für andere Menschen waren als wir Sylkener, dass sie eine andere Einstellung zu der armen Frau hatten. Jemanden Friedenstaube zu schimpen, hat ja eher was Freundliches.

Das Unterschloss ein Gut bloß, wo – wie auf dem Sylkener Gut – lauter Arme wohnten, Ostler, Flüchtlinge oder Umsiedler, wie man sie auch schimpen will. Ich nehme an, Unterschloss heißt es wegen der Nähe zum Schloss in der Eine-Aue unterhalb des bewaldeten Holzbergs, was dem Baron v. Knigge gehörte. Oder auch Freiherrn v. Knigge, da kenne ich mich nicht so aus. Das Unterschloss bis zum Kriegsende von der Familie Lüttich bewirtschaftet. Drei Güter hatten wir in Sylken und Arnrode bis Kriegsende. Das in Sylken wurde von Strandis’, das Unterschloß von Lüttichs und in Arnrode das von Martens’ bewirtschaftet, das bestimmt auch mal den Knigges ihrs gewesen war. Vom Unterschloss war man schnell im Holzberg. Der war bloß ein kleiner Bruder vom Wiepstein. Das Unterschloss gab allerhand her. Wie gesagt, Wohnungen für Arme, den Sitz des Bürgermeisters und damals schon den Sitz einer fortschrittsweisenden LPG.

Wie ich die Tür zum Gemeindeamt aufmachen wollte, wurde mir mits einem Mal ganz bedenklich. Mits Kinnern jiwets sich der Schulze niche ab!, dachte ich. Und was ich zu sagen hatte, würde ihn ja auch nicht froh stimmen. Drei Anläufe nahm ich, ehe ich an die Tür klopfte. Und es dauerte noch mal, eh mein Klopfen so stark wurde, dass er hörte. Der Schulze saß rauchend über Papieren, die schwarzen Haare schnurgrade gescheitelt. Ein Mann so schwarzhaarig, wie mir sonst keiner in der Zeit damals untergekommen ist. Vielleicht waren seine Haare deschertwegen so auffällig, weil man in unse Gegend damals eher ältere und alte Männer antraf wegen dem Krieg, der die meisten Jungen weggerafft hat. Und die wenigen Jungen denn ehmt blond wie unser Paschter. Der Schulze sahk auf mich, der ich stummdämlich an der Tür stehenblieb. Tach!, sagte er. Nicht mal der Gruß war mir eingefallen. Juun Tach!, brachte ich endlich heraus und gleich danach den Satz, den ich mir vorgenommen hatte: Der Schiggedanz is wechjemacht.

Was saachste? Iche heere dir niche!

Der Schiggedanz is wechjemacht!, wiederholte ich, fand langsam zu meiner Stimme.

Woher willsten das wissn?

Ich wolltsen Jerard abholn. Awer da wor kaner offm Hoff, im Hause aach kaner. Jetzt lief meine Rede wie am Schnürchen. Niche mal der Knecht. Iche schätze, Se sin innen Westen rüwwer. Pappa saacht, ich solls Sie meldn. Weil, mer muss doch mits de Viechter was machn, die könn doch niche unversorcht blaihm!

Der Bürgermeister faltete seine Stirn, nickte.

Der Schiggedanz!, sagte er, hob den Hörer seines schwarzen, schweren Telefons ab.

Ein Telefon besaßen nur wenige. Die Sylkener Post. Das war auch die Frau vom Schulzen, ebenso schwarzhaarig wie er und vielleicht schön, wenn sie nicht so etwas im Wesen gehabt hätte, woran man sich erkältete. Wie meine Tante Hildegard sagt: Was de Seele innen niche hat, das bringt das Äußere aach niche. Der Vater vom Schulzen seine Frau auch schon die Post gehabt. Fritze Franke. Der Franke war SPD-Mann. Deschertwejen hat man ihm zur Nazizeit die Post weggenommen. Nur die Leitungen vom Telefon hat man nicht woanderscherthin verlegt, war wohl zu aufwendig. Der Franke, der Bock und Kühnert früher die SPD-Leute. Und am Hütteteich wohnte vor Zeiten sogar ein Kommunist in einer Kate, wovon der Hütteteich wohl seinen Namen herhat. Post, Bürgermeister hatten Telefon, der Paschter und die Gemeindeschwester, damits sie unsen Landarzt aus Alterode rufen konnte. Und der Schandarm. Sicher inzwischen auch die LPG, von denen bei uns zwei gab, Typ I und III.

An so schöner Hoff!, redete der Schulze vor sich hin. Den jiwet mer doch niche off! Der Hoff wäre ihm doch immer jebliehm. Un Jenossenschaft is doch niche wie Enteichnung. Da werd doch jenau offgeschriehm, was sans is. Un wejen das andre, da hätte mer denn aach niche drauf bestehen missn. Der Schulze horchte in den Hörer. De Laitunk is dot. Er schlug ein paarmal auf die Gabel. Denn legte er den Hörer auf. Halb befahl, halb bat er mich: Jehk mal bei Astel, dasser herkommen soll. Un denn gannste aach nachm Knecht sehn, was mits dem is. Er solln sich jefällikst offn Hoff schärn, jemineh!

Keinem von uns kam die Idee, dass der Knecht mits rübergemacht war.

Die Schule für diesen Vormittag nun gänzlich gestrichen und ich von Amts wegen unterwegs.

Der Schandarm lebte und hatte seinen Sitz damals im Haus vom ehemaligen Arnröder Gutsverwalter. Tagsüber lief er mehr auf den Straßen von Sylken und Arnrode mits seinem Gummiknüppel am Koppel herum, in blauer Uniform, drauf aus, die Leute zu behorchen. Als ich nun das Haus betrat, in das er einquartiert worden war, hielt ich mir vor, dass ich nicht vorgeladen war, sondern dass ich im Gegenteil dem Schandarmen einen Befehl zu überbringen hatte. So trat ich herzhaft, nahezu furchtlos in seine Amtsstube ein, wobei ich eine Miene aufsetzte, als trage ich eine Rüstung ganz und gar aus Eisen, dass mir kein Gummiknüppel etwas anhaben könne. Der Schulze schickt mir. Das Delefon is kaputt. Se solln zu ihm hin!

Un was willer? Un warum schickter ausjerechnet dir?, fragte der Schandarm mits halb wüterichem Gesicht. Aber mal war ich in der Position, dass ich was wusste, was der Schandarm nicht wusste. Iche waß niche, ob iche befuucht bin, sagte ich, nahm mits Genuss das ganz große Wort von Befugnis in den Mund. Iche soll ehmt nur saren, Se solln zu ihm machn. Mir fiel ein, nachhert hätte der Schandarm wieder die Macht. Da wars nicht gut, wenn ich zu lange auf meinen Vorteil beharrte. Also ließ ich schon etwas gucken. Iche jloobe, is wegen Schiggedanz, fügte ich hinzu. Der Schandarm hielt es unter seiner Würde, mich weiter zu befragen, trotzdem er sonst – wie gesagt – viel von Befragungen hielt. Er stand auf, schnallte sein Koppel um und schob mich aus der Amtsstube.

Zurück radelte ich in unser Siehleken, war ja ausgesandt, den Knecht an seine Pflicht zu erinnern.

Im Haus traf ich auf die Frau. Er liecht mits Hitze im Bette!, behauptete die. Wer wolln schon nach de Jemaindeschwester schickn, was das is!

Ich begnügte mich nicht mits der Auskunft, spielte mich auf. Iche willn selwer sprechn!, sagte ich und bewies eine Entschlossenheit, die mir selber ganz neu an mir war. Sie zeigte mir, was es für einen Unterschied macht, ob man für sich selbst handelt oder im Auftrag einer Macht, wie klein die auch ist. Widerwillig pochte die Hausfrau an die Schlafzimmertür, rief laut, als wäre ihr der Eintritt verwehrt und sie müsse erst um Erlaubnis bitten: Hanz, das Fritzchen vom Ludder is da, der Schulze schicktn! Lange wartete sie auf Antwort. Hanz, Hanz!, rief sie. Biste anjeschlafn! Hanz! Und endlich vernahm man von drinnen eine Männerstimme. Die Hausfrau entschloss sich, die Tür zu öffnen. Der Knecht lag im Bett, eingepackt bis zum Kinn und knallrot. Ich schätzte, eher von der großen Eile, mits der er ins Bett gesprungen war und der Wärme infolge von zu viel Kleidung unter den Feddern als von der Hitze, wie man bei uns Fieber nennt und wofür nur die Gemeindeschwester ein Thermometer hatte, es zu messen. Doch die Decke konnte ich nicht vom Kinn ziehen, um ihn zu überführen. Wer war ich denn! So stand ich vor dem Bett und blies mich zu Größe und Vorwurf auf. Iche hawwe eire Kiehe jestripst! Dass de so was fertich bringst. – Vorje Zait war ihm janz jut. Un in de Nacht isses öwwer ihm jekomm. Die Frau sprach für den Mann. Aber dem Mann war es leid mits der Lügerei vor mir Bengel. Er ließ die Katze aus dem Sack und sagte: Dardamit will iche nischt zu dun ham! Was waßt du Piepel davonne, wenn miche der Astel in de Finger kricht. Un nu hau ab. Un wenn de ja was anderscht saachst, als wie iche bin krank, denn wer iche rumerzähln, dass de an Spitzel vonnem Schulzen bist un das rode Jesoxe.

Se ham mir ja bloß jeschickt!, verteidigte ich mich. Weil, mir musstens doch meldn. Ich wolltsen Jerard zur Schule abholn.

Besser an Fremder als wie iche, antwortete der Knecht. Da haißts doch jlaich, iche hätte dardarvon jewußt. Dafier kriste viellaicht Johre! Un wenn de Jemaindeschwester kommt, Hitze habch. Doran werds niche schaidern. Der Knecht lachte.

Jut, biste ehmt krank, erwiderte ich. Ich wollte doch kein Judas nicht sein.

Aufgepustet hatte ich mich. Nun war alle Luft raus. Ganz bedeppert, ganz belämmert ging ich nach Hause. Der Vater fragte nicht. Ich zog mich um, kochte in der Waschküche Kartoffeln für die Schweine, die Hühner. War ich auch nicht stark, bloß das Fritzchen, das dauernd krank auf der Nase lag und das nicht hinterm Pfluge herging wie Jerard oder ab heute richtiger: wie Jerard gegangen war, so hatte der Vater doch immer Verwendung für mich. Die Süße vom ständigen Kartoffelkochen mein Zuhause-Geruch, den ich gar nicht merkte, wusste ich nur von Margarete, die sagte, es würde bei uns immer nach Schweinekartoffeln riechen. Ich ging zu Lotte, putzte sie mitten am Tag, trotzdem dass der Hermann das schon am Morgen getan hatte. Während der Vater frühs die Kühe stripste, machte sich Hermann über die Pfäre her, weil das Putzen, das Striegeln noch mehr Kraft erforderte. Die Zotten sollten sauber auf den Acker. Was war das für ein Bauer, der seine Jäule dreckig gehen ließ, da konnten einem die Tiere leid tut, und die anderen Bauern sahen auf denjenigen herab.

Ich wusste, die Lotte mochte es, und ich wollte ihr zeigen, ich war auch wer. Dann stellte ich mich gegen ihren Hals und spürte die Wärme und das Fell ihres Körpers. Ich griff nach ihrem Kopf, damits ich ihr warmes Schnauben in meiner Hand hatte, und ließ meine Finger von ihren Lippen bekosen. Was immer eine Wonne is, so ne sanften Pferdelippen. Auf einem Bauernhof, wie wir ihn haben, muss man sich nie ganz verlassen fühlen. Man kann immer bei die Tiere gehen. Mein Vater allerdings schimpte mits mir. Er sagte, ich solle die Jäule nicht wie meinesgleichen behandeln, wie sollen sie sonst Respekt bekommen. Was die Jäule betrifft, mein Vater hat recht. Um mits Jäule auf dem Acker zu arbeiten, müssen sie einem aufs Wort und bloß einen Wink folgen und wissen, wer der Herr ist, sonst geht gar nichts und hat man das schönste Durcheinander in den Fähren, den Furchen. Und wenn mein Vater auch grob zu unsen Jäulen war, sie haben immer seine Liebe rauserkannt. Da waren sie manichmal schlauer als wie iche.

Von unse Lotte ging ich bei unse Oma, von meinem Vater die Mutter. Weil sie bloß noch so hutschen konnte mits ihre offene Beine und der kranken Hüfte, stellte sie mich an. Ich war ja bloß der Klane. Schad nischt, dass de aach Wiepchen-Arbeit machst, sagte sie immer. Brichst diche kane Zacke aus de Krone. Was solln wern, wenn iche mir mal for immer fortmache. Und ich antwortete: Der liewe Jott werd dir jor niche nehm, Oma, wail de musst off uns offpassn. Daraufhin lachte unse Oma. Aber sie hörte immer gleich auf und seufzte: Wenn ich erlehm kennt, dass der Hermann ane Frau anbrächte, wär mir schon liewer. Was sie für Gedanken darüber hatte, dass unser Vater nach dem Tod von unse Mutter nicht wieder heiratete, darüber hat sie sich nicht ausgesprochen. Es ist ihr gegangen wie die meisten ollen Wiepchens auf die Dörfer. Die haben sich aufhalsen lassen an Last, bis sie fast drunter zusammengebrochen sind. Standen mits einem Bein im Grabe und mits dem anderen noch immer am Kochtopp. Waren es so jewohne, kannten nichts anderes als wie Kleeje. Ich denke mal, indem sie mich anstellte, mir vorbetete, was alles in der Hauswirtschaft gemacht werden müsste, hat sie sich ihre Sorge, wenn es mits ihr gar nicht mehr ginge, ein bisschen weggeredet.

Kurz vor zwölf kam Hermann mits Alwin und Juste vom Acker. Ich half ihm beim Ausschirren, wischte die Pfäre mits Stroh ab, weil sie nass waren von der Kleeje und der Hitze. Während er sie tränkte, sagte ich wie nebenbei: De Schiggedanzens sin innen Westen jemacht! In Wirklichkeit tat ich mich wieder ein bisschen groß mits der Nachricht, trotzdem die ja für mich die bisher traurigste meiner Kindheit war, da ich das Hinsterben meiner Mutter nicht bewusst erlebt hatte. Oje, sagte Hermann. Da is ja aach der Jerard mitsen mit.

Ja, antwortete ich und fand keine weiteren Worte, trotzdem ich im Grunde noch nicht glaubte, dass Jerard weg war.

An Unjlick isses!, sagte mein Bruder.

Mer sin nun noch de anzijsten in Siehleken, die noch niche unterschriehm ham, erwiderte ich, wollte mich nun wieder aufspielen mits Wichtigkeit über unse Stellung im Dorf.

Die wern sich off uns sterzen!, bestätigte der Bruder. Wenn der Pappa niche so stur wer, man Jott! LPJe Typ I, wo mer die Viechter behaltn kann. Mer kann sich doch niche jejen die Zait stelln!

Oder mir machn aach fort, schlug ich vor, sagte es bloß dahin in gar keiner Hoffnung, mein Vorschlag würde bei Hermann auf freundlichere Ohren als die von meinem Vater treffen.

Dardarvon kann kane Rede niche san!, entgegnete Hermann wütend. Wie de dir das vorstellst! Als Knecht bei jemand jehn? Was anderschtes, als wie Bauer san, kann iche niche und will iche aach niche. Un for die im Westen sin mir doch bloß Flichtlinge. Denke mol an de Ostler, die nach uns kamen.

Der Astel werd uns erscht recht schigganiern, hielt ich dem Bruder vor.

Soller!, sagte Hermann. Denn machn mir ehmt in de Jenossenschaft wie de andern. Da hat mer wenichstens aach mal Zait for was anderschtes als wie bloß Kleeje tachein-tachaus.

War mein Bruder schon zu genossenschaftlicher Arbeitsweise bekehrt?

Nachmittags bekam ich Besuch von Margarete. Was isn mits euch los?, fragte sie. Beim Gerhard is am Hof son Gummi mits Stempel un Strippchen, woll ein Siegel, dass mer nich reinkann. Margarete sprach Hochdeutsch, aber kein übertriebenes. Un du warst auch nich in der Schule.

Du frächst!, sagte ich und erzählte ihr.

Son Mist, meinte sie nach meinem Bericht. Nu sin mir bloß noch der Udo, du un ich von Sylken und von Arnrode Helmut und Kläuschen.

Ganz übriggelassen kamen wir uns vor. Viele waren wir, der Jahrgang 45/46, ja nie gewesen. Bis in die Siebente war unsere Zahl immerhin durch Sitzenbleiber aufgebessert. Schon ab der Fünften lernten wir – gegenüber der anderen Klasse erheblich in der Minderheit – hauptsächlich im Stillen das Russische, weil uns Frau Münz meist Stillarbeit aufgab. Frau Münz hat das Russische auch bloß nach 45 in Kursen gelernt. Sie war Neulehrerin, trotzdem sie älter war. Weil man die alten Nazilehrer nicht haben wollte, ließ man viele von anderen Berufen als Neulehrer umlernen.

Neulehrer hatten wir und Neubauern. Das waren die, die sich nach 45 neu einrichteten. »Neuland unterm Pflug« von Scholochow wurde nachhert auch ein wichtiger Roman in der Schule. Neu ein ganz beliebtes Wort, wie man an vielen Benamsungen entnehmen kann wie »Neues Deutschland«, das »Zentralorgan« von unse führenden Partei. Jetzt ist man mehr auf Restauration aus. Wie das liebe Wort Wiedervereinigung oder Wiedereinrichter. Ihr wisst vielleicht, die Bauern, die sich auf dem Hof der Eltern selbstständig machen.

Für uns war Frau Münz eine gute Lehrerin außer in Russisch, was aber nicht an ihr lag, sondern weil unse Klasse Jahr um Jahr geschrumpft war. 56 die Wiepsteinbande weg. Anfang der Fünften verließ uns Evchen. Durch eine Amnestie – in Moskau war inzwischen Entstalinisierung im Gange und Chruschtschow an der Macht – waren die Bürgermeister von Sylken und Arnrode und der Buchhalter früher freigekommen, und Evchen machte mits ihrer Mutter ihrem Vater nach in den Westen. Die fünfte Klasse war vorbei, da verließ uns unser zeitweiliger Schulleiter und mits ihm auch seine in unse Klasse weilende Tochter Kerstin. Margarete verblieb als alleiniges Mädchen. In der Sechsten kriegten wir einen Neuen von den Leuten, die das »Grüne Röckchen« neben der Eine in Arnrode übernommen hatten, wo im Saal ein Barren stand, und ein gepolsterte Ledermatte lag für unseren Turnunterricht bei Herrn Münz. Der Junge war schon hängengeblieben und blieb es wieder und ging damits aus der Sechsten ab.

Margarete fand, wir müssen uns beistehen in unsem Erstaunen über Jerards fortdauernde Abwesenheit. Denn bin ich ehmt mal nich da!, sagte sie darüber, dass ihre Mutter sie diesen Nachmittag umsonst rufen würde, dies und das zu tun. Zunächst sahen wir uns genau die Verklebung am Schickedanz-Hof an. Die sin wohl bleede!, sagte ich, und Margarete schüttelte heftig den Kopf, trotzdem sie mehr als ich schon voraussetzte, dass die Behörden die Dummheit gleich tellerweise gesoffen hätten. Die Einstellung hatte sie von ihrem Vater her, der dem Staat nicht grün war, in keinster Weise. Was im Übrigen auf Gegenseitigkeit beruhte. Wir schlenkerten durchs Dorf, wir stromerten über die Felder. Die Kerschen auf den Bäumen am Feldrand leider noch nicht reif. Die waren so lange frei zu pflücken, bis der Öbster seine Bude aufstellte. Vorzuziehen den krepligen, wenn auch süßen auf dem Schiefergestein wildwachsenden Zippelbeern des Wiepstein, Nachkommen von schönen Kirschbäumen, wie sie auch mal auf dem Wiepstein gestanden hatten.

Damals wuchsen an den Feldwegen Obstbäume. Weißkirsche, Herzkirsche, Glaskirsche, schwarze Knacker, was weiß ich noch, Äpfel der verschiedensten Sorten, die nacheinander reiften, vom Staat gepflanzt und von einem Bauern gepachtet, dem Öbster. Während das Getreide reifte und nach der Getreideernte hatte er Muße für das Obst. Er stellte Frauen zum Pflücken ein, übernachtete in seiner Bretterbude, bei sich die Körbe und vor der Bude angekettet die Leitern. Das Obst verkaufte er an den Großhandel. Nicht nur die Feldwege waren genutzt, sogar die Chausseegräben, die waren vom Staat an die Zickenbauern verpachtet, die sich dort ihr Gras absensten. Und kurz blieb das Gras auch unter den Obstbäumen. Da ließ der Schäfer seine Tiere weiden. So war alles in bester Ordnung bei uns, bis die LPG kam und nachhert vor allem die Großraumwirtschaft.

Im Grase am Feldrain lümmelnd, dachten wir an Jerard und betrauerten uns als sozusagen Hinterbliebene. Bestimmt hat Jerard nischt jewußt, sagte ich. – Bestimmt, bestätigte Margarete. Sonst hätter was gesagt. Ne Andeutung wenigstens. Oder uns noch mal orntlich de Hand gedrückt oder so. Wir überlegten, ob uns etwas einfiele, womit Jerard uns ein kleines Zeichen gegeben hätte, kramten jedoch ganz umsonst in unsem Gedächtnis herum. Awer wenn ers doch jewusst hat, philosophierte ich. Dasser uns hat ehmt jar nischt saren derfn, kan bisschen, das muss for ihn aach niche anfach jewesen san!

Einfach war´s für ihn so und so nich, bestätigte Margarete. Un vielleicht hatter gar nich mitgewollt.

Der hat niche mitjewollt. Nee. Da isser doch aach bloß an Flichtlink ausm Osten. Ehmt noch hatte ich Jerard beneidet, und schon sahk ich im Gegenteil, was mein Bruder mir vorgehalten hatte. Werscht du mal abhaun?, fragte ich Margarete kleinlaut.

Mein Vater sagt, Gott hat uns hier hingestellt, antwortete sie.

Dan Vader, aber du, forschte ich.

Kann ich mer nich vorstelln, sagte sie. Muss auch hier noch Menschen gehm. Der Satz gab mir vorläufig Mut und Zuversicht.

Wie ich zurück ins Dorf kam, klebte am Schickedanzschen Hofeingang immer noch das Siegel. Wieder und wieder rannte ich zum Hof. Das Siegel blieb. Als wir abends mits dem Füttern und Melken fertig waren, ging der Vater mits uns Söhnen, um selbst nachzusehen. Was solln das?, fragte der Vater und deutete auf den roten gestempelten Wachs. Hawwe iche dir bei den Schulzen jeschickt, dasse an Siechl annen Hoff machen oder dass de Viechter versorcht wern? Ich gab ihm keine Antwort, weil die ja klar war. Gleich wurde mir auch deutlich, dass der Vater sich um kein Siegel scheren würde. Da darfste niche rain!, sagte ich. Pappa!, warnte auch Hermann.

Und ob ich da rain darf!, sagte der Vater, öffnete die Tür, ging zu den Ställen. Die Tiere brüllten. Nicht einmal Wasser hatten sie. Und mir tat leid, dass ich mich frühs von meiner Angst hatte übermannen lassen und sie nicht gefüttert hatte. Anzaijen bei de Behörde wer ich den Hund, den elendijen Krepel!, tobte der Vater. Den Hoff zuklehm mits son Dings, un de Viechter kenn verreckn! Denn man los.

Wern mer Ärjer kriejen!, gab Hermann zu bedenken.

Un was iche for an schon hab, das kannste dir niche denkn!, entgegnete der Vater. Aber wir dachten es uns schon: Halbtot schlagen würde er den Astel, bekäme der Vater ihn unter die Finger. Dem Schickedanz, der sein Vieh im Stich gelassen hatte, würde es kaum anders gehen. Ich pumpte, Hermann und der Vater schleppten das Wasser. Ich tränkte die Pfäre. Wir fütterten notdürftig, denn mits Heu, Spreu, Hafer und Weizen allein ists ja nicht getan. Frisches muss sein im Sommer, nicht nur für die Karnickel. Ist im Sommer ja kein Raufutter, getrocknete Luzerne, Kartoffeln, geschnitzelte Rüben und so weiter im Sortiment wie winters über. Hermann und der Vater saßen unter den Kühen und stripsten – wie wenig sie nun auch an Milich hatten – gemolken werden musste. Mits einem Mal kam Astel-Knastel, der Schandarm, in den Stall.

Hawich euch erwischt!, brüllte er. Seine Stimme hielt nicht, deschertwegen das Weitere mehr ein wütendes Flüstern wurde. Sich an Jenossenschafts-Aijentum beraichern! Der Vater stand auf, Hermann auch. Ich sprang zu ihnen. Wie der Vater auf den Astel zu wollte und sich sein ganzes weiteres Leben verderben, stellte sich Hermann, der große, starke Kerl, vor den Vater, den auch sehr starken, packte ihn, ruckte mits dem Kopp mits der Bedeutung, auch ich solle den Vater halten, damits der merkte, seine Söhne waren sehr dardargegen, dass er dem Astel an die Gurgel ging. Ich gehorchte Hermann, stemmte mich mits gegen den Vater. Nun hatten wir die Kampfhähne einigermaßen auseinander. Der Vater wusste, was wir Gutes für ihn wollten, schrie erst einmal bloß: Haste uns aufjelauert, du Mistkrepel, du jemeines Sticke Dreck, du Matzbläke, du ausjeknaupelte Kerschkuchen-Lawwe. Direkt erfinderisch wurde mein Vater in seinen Ausdrücken. Un de Viechter, de kenn verreckn, das dut dir niche inderressiern!

Du bleeder Kerel, entgegnete Astel-Knastel dem Vater. Im Gesicht von Astel-Knastel ein Ausdruck größter Freude, aber von welch einer Art! Da hätte sogar ich gern in seine Lawwe unsanft reingelangt. Tuste unterschraihm, denn haste bloß de Jenossenschaft ausjeholfen, un kaner kann dir was vorwerfn! Die Worte des Schandarmen machten, dass der Vater mich zur Seite schleuderte und Hermann umwarf. Ane Falle haste uns stellen wolln!, rief der Vater. Noch während Hermann der Länge lang hinschlug, flehte er: Pappa, Pappa! Riehre ihn niche an! Er is de Staatsmacht! Hermann bekam die Füße des Vaters zu fassen. Weil der Vater trotzdem unbedingt fortwollte zum Astel hin, schlug es ihn nieder auf den glitschigen, mistigen Stallboden. Sein Fall schien mir ungeheuerlich. Doch in solcher Not konnte Hermann den Vater nicht vor Peinlichkeit bewahren. Mache dir fort, off der Stelle!, schrie Hermann dem Astel-Knastel im Liegen zu. Un wenn iche bis zum Ulbricht jeh, mir beschwern, dass anem Hilfsbereitschaft for die Jenossenschaft so ausjeleecht werd. Wie klug Hermann redete! Wer es richtig drehte, dem war schwer beizukommen, auch in unsem Unrechts-Regime. Die Drohung fruchtete. Astel-Knastel nahm seine Beine in die Hand und schackerte davon.

Der Vater und ich arbeiteten weiter. Hermann ging zum Schulzen hoch in die Gasse oberhalb des Görlitz-Borns. Der hieß so, war aber der Gemeindebrunnen. In der Gasse wohnte der Schulze mits Franke seiner Tochter, und da war die Post, wie gesagt, vom Franke dem SPD-Mann her. Hermann wollte einer Anschwärzerei von Astel-Knastel begegnen. Wie man sich denken konnte, saß der schon in der Wohnstube des Schulzen. Iche verstehe jor nischt, sagte der Schulze zu Hermann. Iche denke, de LPJe »Rote Scholle« hattn Hoff üwwernomm! Die muss doch aach das Viehzeuchs versorchn. Wie kannen so was passiern!

Wennern Hoff versiejelt, wer traut sichn da rain!, erwiderte Hermann.

Un warum haste den Hoff versiejelt?, erkundigte sich der Schulze beim Schandarmen. Haste noch alle Dassen im Schranke? Der Astel-Knastel zwinkerte dem Schulzen zu, als sei der sein Allerliebster. Aber der wollte nicht verstehn.

Das war im Staatsinderesse!, sagte der Schandarm schließlich.

An Strick haste uns drehn wolln, entgegnete Hermann. Wail mir noch Bauern sin un Verantwortunk fiehln! Darauf haste jesetzt! Hermann erzählte dem Schulzen, welches Angebot Astel-Knastel ihnen gemacht hätte. Der Schulze sahk Astel-Knastel an. Hermann kam der Eindruck, der Schulze müsse sich sehr anstrengen für ein Amtsgesicht, als hätte er auch so seine Gedanken über seinen Genossen Volkspolizisten, was dann später der ABV wurde, Abschnittsbevollmächtigter, in Nach-Astel-Zeiten. Da biste zu wait jejang!, sagte der Schulze. Das is wie zu ner Straftat anstiftn. Mache mir de Bauern niche verrickt! Das is niche im Sinne des Janzen! Mer solln de Bauern jewinn un niche jejen uns aufbringen. Schließlich sin mer an Arwaiter-un-Bauern-Staat! Das lasse man niche ausm Auge, Jenosse Astel! Weil sich beide in der Einheits-Arbeiter-Partei aufhielten, redete der Schulze den Astel-Knastel als seinen Genossen an. Der Schulze hielt also eine Ansprache an seinen Genossen, und Hermann merkte sich alles und erzählte es uns, als er vom Schulzen zurückkam.

Der Astel-Knastel aber nahm sich die Worte des Schulzen nicht sehr zu Herzen. Er war nun mal der, der er war. In seinem Amte hatte er Freundlichkeit von den Leuten sowieso nicht zu erwarten. Da sollte man ihn wenigstens fürchten. Denn er hatte die Macht, dachte man wenigstens damals, aus einem Mann, der frühs in eigenem Federbette aufwachte, einen zu machen, der von einer Gefängnispritsche aufstehen musste, mits Trillerpfeife geweckt oder wie auch immer in unfreundliche Tage hinein.

Wie war es denn gewesen mits dem vorchten, dem vorigen, Sylkener Schulzen und seinem Arnröder Stellvertreter und dem Buchhalter und deren Verhaftung, die Astel so ein übermäßiges Ansehen gab?

Ich will es euch jetzt sagen, wie es mir meine Tante Hildegard gesagt hat, die Frau Erb, die Frau vom vorchten Schulzen. Die ging mits ihren drei Töchtern, die eine etwas älter als ich, die beiden anderen um weniges jünger, nicht in den Westen wie Evchens Mutter und Evchen und deren viel älterer Bruder. Sie lebte mits ihnen weiter auf dem Hof von ihrem Vater, unsem Großonkel Ernst. Frühs brachte sie der Bus um sechs ins Aserschlehmer Krankenhaus, wo sie als Krankenschwester arbeitete. Kam sie nach Hause, wartete der Hof. Ob ein Bauer tagsüber auch in der Stadt arbeitet, Feierabend ist für ihn erst, wenn das Vieh versorgt ist. Und beim Dreschen gehts, bis das Licht nicht mehr ausreicht. Nachhert hatte sie mits Haushalt und ihren Mächen zu tun, denn alles konnte die Oma dort auch nicht. Sie arbeitete, bis sie ins Bett fiel. Nach dem Tod von ihrem Vater übernahm die LPG ihr Land. Sie durfte weiter in der Stadt arbeiten. Bei uns verhungerschte, hatten die von der LPG gesagt. Als Ausgleich hätte ihr Deputat zugestanden, was sie nicht in Anspruch nahm, weil sie keine Tiere mehr halten wollte. Woanderschert hat man für das Land, was man in die LPG einbrachte, 50 Marks je Hektar im Jahr bekommen. Das ging bis 15 Hektar. Ob das bei uns auch so war, ich habe es vergessen und Tante Hildegard auch.

Darüber, wie sich die Sylkener verhielten, als Astel-Knastel ihren Mann, den Sylkener Schulzen, abholte, habe ich zwei unterschiedliche Auskünfte. Von Sieglinde, was ihre mittelste Tochter ist. Die kommt manichmal nach Siehleken, ihre Mutter zu besuchen, deschertwejen man sich auf der Straße trifft und Worte wechselt. Sieglinde sagt, die Mutter hätte alle Nappern gemieden, und die Nappern mieden sie. Denn Unglück hafte wie Pech, warum man sich möglichst das anderer nicht an eigene Hände klebt. Die drei Töchter hätten auf dem Hof wie eingesperrt gelebt und wären bloß zu den Mächen vom Paschtern hin, die in dieselbe Klassen gingen und die nichts von ihrer Geschichte wussten und sie nicht aushorchten. Das Dorf schwieg zu Außenstehenden, wie es der gerade zugezogene Paschter einer war. Nicht einmal Margarete wusste, dass die Freundinnen ihrer Schwestern einen Vater hatten, dem es so wie Evchens Vater aus Arnrode ging und dass er in die ganze Geschichte verwickelt war.

Tante Hildegard dagegen sagt, sie habe ehmt bloß viel Arbeit gehabt, und Tanz sei ja gar nicht mehr gewesen außer zum »Tag des Genossenschaftsbauern« im Mai, wo sie aber nicht geladen war. Das Schützenfest zu Pfingsten mits Tanzerei und die Feiern sonst und die Geselligkeit wären zum Erliegen gekommen. So hätte sie sich nicht groß unter Leute begeben können. Aber das Dorf hätte sie sehr wohl unterstützt. Man hätte Unterschriften gesammelt wegen der zu hohen Haftstrafe, und sie sei dann mits den Unterschriften hin zum Kreis, wo man gesagt hätte, sie wolle wohl betteln. Aber betteln hätte sie nie gewollt, was ich unterstreichen kann. Tante Hildegard ist eine sehr stolze Frau. Awer niemand niche is mir zu nahe jeträtn!, sagt sie. Se hawwen mane Mainunk jewusst, die hawwe ich ihnen offen ins Jesicht jesaacht. Un so was war dän draimal liewer wie die, die wo dän zum Maule jeredet ham. Und sie hätte ja auch Verwandtschaft genug gehabt in Sylken, in Arnrode, in Alterode. Un iche hawwe ja aach öwwer mane Arwait jar kane Zait zum Jrüweln jehabt, sagt sie.

Aber vielleicht hat meine Tante aus ihrem Gedächtnis weggedrängt von dem, was sie doch auszustehen gehabt hat. Denn weil die Geschichte andauerte, hörte auch die Neugier nicht auf. Viel war darüber mits den Nappern zu überlegen, wie es um sie stünde mits einem Mann im Westen und sie hier mits drei Mächens und ob sie denn nicht wohl doch nach dem Westen machen wolle und wie sie es hier mits Männern hielte, denn sie war eine so schöne Frau wie keine weit und breit, schwarzhaarig, schwarzäugig, feines Gesicht und zierlich. Sieglinde sagt, die Männer im Dorfe, ob auch verheiratet, hätten keine Ruhe gegeben, besonderst einer. Weil sie nicht erhört wurden, erfanden sie und prahlten aus Rache mits was, was gar nicht gewesen war. Es gab ein Getratsche. Sie hätte sich mits keinem Manne sehen lassen dürfen, und kein Mann durfte ihr auf den Hof. Und wie ihr Mann drüben gestorben war und sie täglich, jährlich Beweise für ihre Unzugänglichkeit geliefert hatte, wetzten die Nappern erneut die Zungen. Denn nun hatte ihre Älteste einen Franzosen geheiratet. Einen Kommunisten. Was anderes ließen sie ja nicht in unser Land rein. Sie und ihre beiden jüngeren Töchter durften hin nach Frankreich reisen. Nicht nur ein Jahr, sondern das Jahr darauf wieder und noch wieder. Wo gab´s denn so was! Was sollte man sich da denken! Ob sie doch umgedreht war? Ich meine auch, so frei war sie nicht, wie sie heute denkt. Vielleicht hatte sie zunächst Unterstützung vom Dorf erfahren, waren die Sylkener so feige Hunde doch nicht, aber dann hat ihr die Neugier und das Getratsche sehr zugesetzt. Und wenn sie über der Arbeit zu keinem Nachdenken gekommen ist, so haben es doch ihre drei Mächen deutlich gespürt.

Nachrichten aus dem Garten Eden

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