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Nach der Kehrtwende marsch-marsch genau anderschtrum bin ich eines Tages hingesandt worden zu ihr. Die Idee war, eine Dorfchronik solle geschrieben werden. Es kam uns nach der Tausendjahrfeier im Wendejahr 90 ein, uns fehle so eine und wir ja noch ganz im Überschwang darüber, dass sich der Wohlstand in Ausmaßen ergießen würde über uns, wie wir ihn bis dahin noch nicht gekannt hatten. Trotzdem auch schon Nachdenklichkeit herrschte. Aber die wurde von schwarz-rot-gelben-CDU-Plakaten überklebt. In die Ortschronik sollten nun jene Jahre in der Diktatur, im Unrechts-Regime, hinein und wie man das noch betituliert, was für uns vorher bloß »bei uns« hieß oder »bei uns in der DDR«. Jehe du man bei ihr, frächst se, wie sich das domals werklich verholtn hat, sagte man zu mir im Wissen, ich war verwandt mits ihr.

Meine Tante Hildegard hat ihren Hof vom Vater her oben am Barch. Nach dem Kirchberg steigt Sylken Richtung Mansfeld/Hettstedt noch einmal an. Zwischen Gasse und Dorfstraße fast am Ende des Dorfes befindet sich ihr Hof. Ich greife vor ins jetzige Leben, denn ich möchte euch die alte Frau nicht vorenthalten, wenn ich schon von der jungen nichts weiter sagen kann, weil sie kaum in mein Blickfeld geriet, da sie ehmt immer auf Kleeje war als Krankenschwester in Aserschlehm, und denn hatte sie auch noch mits dem Hof und ihren Mächens zu tun.

Ich schackerte also zu ihr die Lindberg-Gasse rauf, klingelte am Tor. Als niemand hörte, ging ich durch den Hof. Der Hof nicht eben groß. Der Onkel Ernst hätte einen größeren haben können, weil er gut wirtschaftete. Denn kam der Krieg. Nachhert war sein Geld nichts mehr wert. Wie ich so ging, waren meine Gedanken damits beschäftigt, wie meine Tante mein Anliegen aufnehmen würde. Tante Hildegards Töchter alle weggemacht. Sie lebt allein und abgekapselt. Wer weiß, würde sie, Menschen nicht mehr jewohne, mich gleich wieder rausbefehlen. Doch dann meldete meine Nase mir im Haus einen süßen Duft, der Festtag verhieß. Und wo Festtag in Vorbereitung ist, ist Freude und somit eher freundlicher Empfang zu erwarten. Mits schon mehr Mut ausgestattet, trat ich in die Küche ein.

Ach du, Fritzchen!, sagte meine Tante Hildegard. Jerade bin iche baim Backen vonnem Matzkuchen. De Annett kommt, mane Enkelin aus Quedlingburch!

Ach was, sagte ich.

Ja, die besucht miche immer mal. Manichmal fährt se zejor mits es Rad de janze Strecke. Vieranhalb Stundn. Stelle dir das mal vor, Fritzchen!

Das is awer lieb vonner!, sagte ich und konnte die Enkelin verstehen, denn nun bemerkte ich: Nicht nur sieht meine Tante Hildegard immer noch hübsch aus wie sonst keine alte Frau, die ich kenne, mits fast noch schwarzen Haaren. Sie kann lächeln! Es schmilzt einem das Herz. Sicher raubte sie in anderen Zeiten den Männern, die in ihre Nähe kamen, damits ihren Verstand. Die Nachrede von den Nappern konnte ich nun verstehen. Ich rückte mits der Sprache heraus, dass wir eine Dorfchronik schreiben und dazu von ihr wissen wollten. Musste aach jornischt saren, Dante Hildejord!, beschwichtigte ich sie. Nur ehmt, ich soll des dir als Anliejen vortraachn!

Das dausendjährje Siehleken!, erwiderte sie. Und statts mich vor die Tür zu setzen, überzog ein spöttisches Lächeln ihr rotbäckiges, feines Gesicht. Ihre dunklen, fast schwarzen Augen glitzerten gar nicht altweiberhaft. Na ja, denne. Setze dir un kost von maim Matzkuchen. Oder wolln mer hoch in die Schtuwe?

Nein, das wollte ich nicht, ist es doch so heimelig, wo gekocht, gebacken wird. Auch wollte ich durch ihr kleines Rotnessel-Blumen-Fenster hinaus auf ihren Hof gucken. Wie hatte sie den hergerichtet, nachdem nun weder Jäule noch landwirtschaftliche Geräte ihn bevölkerten. Bäume, Bäumchen wuchsen, Steinpflanzen. Kaum noch Platz, dass Blumen gediehen. Das war kein Garten, das war schon wildwuchernder Dschungel, versteckt in Mauern zwischen Ziegelscheune, Stall und Haus. Ich war stark beeindruckt. Gärten hatte man in Sylken außerhalb vom Dorf, am meisten Schrebergärten oder ein Stück Land, was einem gehörte. Sylken selbst Hof an Hof, Hoff an Hoff, wie man bei uns sagt, die Gassen, Straßen rundum und hinauf, hinab. Man lässt sich nicht reingucken, ehmt wie kleine Festungen sind sie aus Ziegel oder Fachwerk-Lehmbauten. Das Pfarrgehöft in der Dorfmitte mits seinen Gärten, seinen Linden, Nussbäumen und so weiter erschien uns Kinnern deschertwejen als etwas so Besonderes. Es war ein Wunder, warum wir trotzdem in der Mehrzahl nicht an das Paradies glauben wollten. Aber die Mansfelder Seele ist wohl zu hartgesotten, als dass sie sich in Spintisiererei verliert, bloß weil sie mal was Schönes zu sehen kriegt. Schon der Martin Luther hat ja seine Schwierigkeiten mits der Kerche gehabt. Nur war damals die Religion so gang und gäbe, dass man nicht ganz herausfallen und Atheist werden konnte. Nun wuchs und gedieh es also hier im ausgedienten Hof. Eine Herzenslust war es, das mits anzusehen!

Tante Hildegard machte uns Kaffee. Ich langte beim Matzkuchen zu, wie man bei uns zu Quarkkuchen sagt. Meine Tante gab Auskunft. De Friedensdante, saachste? Fritzchen, da biste aufm Holzwäch. Im Jrunde war se ne arme Verrickte. Die hat die draie niche ins Kittchen jebracht. Oder saren mir so: Deschertwejen sin se niche ins Kittchen, wail se der ollen Frau mitjespielt ham. Die Jeschichte hat es Fass bloß öwwerlaufn lassn. Schuld war der Laichtsinn manes Mannes, dasser dachte, ihm kann jor nischt passiern. Ihm doch niche. Er is ja so beliebt. Trotz sane Verwundunk isser offenbar in saner Nachrichten-Anhait immer noch zu jut öwwern Kriech gekomm, dasser sich ne Lehre anjenomm hätte. Aus de russische Jefangenschaft ham se ihn aach vorzaitch entlassn aus Dankbarkeit, weil er ehmt so jeschickt war un den Russen jeholfn hat beim Widderaufbau von ihre Kraftwerke. Er hat ja bai Junkers Ingenieur jelernt. Un das Verrickte, Fritzchen, se ham ihn zejor nachhert im Kittchen widder for sane juten Laistungen zum Aktivisten der Sozialistischen Arwait jemacht!

Ein Lachen flitzte in mein Gesicht, weil ich von so was bisher nicht gehört hatte, dass man sogar im Kittchen als Gefangener zum Helden geschlagen wurde und von da an als ausgezeichneter Aktivist herumlief. Werklich wohr?, fragte ich.

Du iche miche so was ausdenkn?, sagte meine Tante.

Nee, nee, sagte ich eilig.

Tante Hildegard redete weiter: Er hatte ehmt was Jewinnendes un Verstand zu tifteln un was widder in Jank zu bringen. Der Fähler war, dass de Russen ihn als Schulzen anjesetzt ham. Dardarzu warer niche jeaichnet. Zu laichtes Blut, ja? Sie sah mich an, ob ich richtig verstehe. Und ich gab ihren Blick zurück. Immer in de Knaipen, hat in de Harzderfer owen mitter Quetschkommode zum Danze offjespielt. De Leite ham ihn jemocht. Awer aner is immer dabei, Fritzchen, du waßt. Ich hawwe viel dröwwer nachjedacht. Es hat ehmt jeder san Schicksal, san Päckchen zu traachn, ja? Tante Hildegard blickte mir wieder in die Augen, um sich zu vergewissern, ob ich ihre Meinung teile.

Tante Hildegard sinnierte vor sich hin. Und ich ruhte mich im Zuhören aus, erstaunt wie erfreut, dass sie so frei mits mir redete, da ich auf das ganze Gegenteil eingestellt gewesen war.

61 im Sommer wollden mer röwwer, redete sie weiter. Wie man Vader, dan Jroßonkel Ernst, in Rende jink. Iche, mane Jroße un mane Klane. Die Siechlinde niche, die wollde baim Jroßvader blaihm. Man Jott, was hat das Kind anem jehangn! Du kennsten ja aach noch. Iche hawwe man Mann öfters in Berlin besucht. Iche allane un mits de Mächens. Zur Siechlinde hatter gesaacht: Du brauchst kan Vader, du hast dan Jroßvader. War so. Im Westen hat man Mann denn bai Siemens ane jute Arwait jehabt. Was ich ihm anerkannt hawwe: Er hat sich niche als Opfer darjestellt, als er da dröm war. Trotzdem er sich in Bautzen ane offene Debece jeholt hat wie die annern Männer aach, un schließlich starb er dardardran. Na ja, konnte sane Raacherei niche offjehm, hat aach sonst unverninftich jelebt da dröm. Also, wenn man Vader in Rende jink, wolltn mir röwwer. Awer im Mai 61 is man Vader jesterzt, vonner Schoßkelle runger inne Ackerfähre. Bis mern jefundn ham! Denn hawwe iche de Ernte anbringn missn. Das war ne Schungerei.

Allane?, fragte ich.

Fast. Nappern ham mer jeholfn, de Arnolds zum Baispiel.

Trotzdäm, sagte ich. Dass de diche da hast abschinden missn, kann iche mer vorstelln.

Dan Vader hat aach jetan, wasm meechlich wor, erwiderte Tante Hildegard. In dem Sommer kam de Mauer. Iche denke, es hat so sollen san. Man Mann hat ja denn aach niche mehr lange jemacht. Un ich denn allane mits de Mächens dröm, ja? Un früher ihm nach? Konntch mir offn verlassen? Ich mane, warum isser wech? Hätt mer doch besprechn könn! Mits de Amnestie 56 hat er sane Strafe abjebießt un hat sich zejor ausjezaichnet. Er hätte widder neu anfangn können in san aijentlichen Beruf. Iche denke, er hat uns nischt jesaacht, weil er jedacht hat, mir sin niche dafier. De Frau von dem Arnröder, na jut, die wor niche von hier un hatte niemand, was sollde se machn, un der Mann war schon älter, war schon im erschten Krieje Offzier, die is jlaich mitm Mann und mits ihre zwai Kinner mits. Der Jroße schon mits Awitur. Awer Jlick hat se aach niche jehabt. Iche war bis zuletzt noch mitser im Kontakt. Un ehmt: Ich wollde man Vader niche im Stiche lassn. Der hat for mir un die drai Kinner jesorcht, wie man Mann niche da war. Un öwwerhaupt, mane Eldern hawwen mer alles ermeglicht. Jeld war ja da. Iche de anzije. Trotzdem, annen Hoff ham se mir niche jefesselt. Winters bin iche jeraist un bin in Stellunk jejangn, um zu lern. Un schon als Kind bin ich jerne nach Berlin zu mane Scharlottenburjer Verwandten. Die ham sich mitm Jedankn jetraachn, ob se mir niche adoptiern wolln. Berlin vorm Kriech war scheen. Hat miche jefalln. Awer, Fritzchen, janz in de Stadt? Nee, iche bin an Bauer! Wie was underweechs war, da hat man Vader jesaacht: Du mußtn niche hairatn! Ziehks Kind allane jroß. Mir sin doch da. Musste dir vorstellen, Fritzchen! Damals! Da hat mer noch viele Johre lank an uneheliches Kind als ne Schande betracht. Man Vader hat jeahnt, man Mann passt niche. Er is kan Bauer. An Bruder Lustich. Janz anderscht als wie iche. Iche war niche fors Faiern. Iche muß mits de Hände in de Erde, was pflanzn, säen und glupschen, was rauskommt. Un Fritzchen, nach so vielen Johrn kann ichs saren: Mane jroße Liewe warer aach niche. Das war man Verlobter, der im Kriech jebliehm is. Man Mann war lebensfroh un jut aussehend. Da isses passiert. Es is ehmt ans nach dem andern verkehrt jeloofn. Den Anfang war im Kriech. Un wer dardardran schuld is, waßt du. Woll mir uns mal ehrlich san, de Polen niche un de Tschechen niche oder die Russen. Awer ausbadn missn dies nach so viele Johre immer noch.

Du hast werklich wechmachn wolln?, fragte ich.

Ja. Awer wie die Mauer kam, war ich aus mane Frarerei, was nu richtich is, raus. Man Vader hat sich nochemal jerappelt. Im Herbst isser denn furtjemacht. Leukämie. Der Arzt hat gesaacht, die paar Monate bei dem Alder, das is unjewehnlich, das musser schon lange mits sich rumjeschleppt hawwen. Un wie de Pfäre um ihn jetrauert ham, Fritzchen! Das ane hatn doch offn Friedhoff jezochn. Am Ahmd musste iche das ane das mits Nappern rejelrecht vom Jrabe wechtreckn. Zun Menschen jabs vonnem sowieso nie an böses Wort. Hawwe ich zwischen man Vader un mane Mudder nie jeheert. Un trotzdem er so jrob zu die Zottn war, ham se wohl sane Liewe jefiehlt, wasser werklich forn Mensch war.

Ich dachte an meinen Vater. Der in der Art vielleicht von seinem Onkel was hatte. Und hat ja auch die Jäule manichmal traktiert, wenn sie nicht wollten wie er. Aber trotzdem!

Meine Tante guckte mits offenen Augen in sich hinein. Bei der Betrachtung wollte ich nicht stören. Ich erinnerte mich an meinen Großonkel Ernst, was der für einer gewesen war. Offenbar ein Mann mits viel Liebe und Zartheit für seine einzige Tochter. Ich sahk ihn vor mir, wie ich ihn am liebsten hatte: als stattlichen Mann im Sonntagsstaat. Die Sonntage oben auf seinem Hof so ganz anderscht als wie bei uns: Er ging nicht zur Kirche. Doch er kleidete sich feiertäglich. Wenn er um Feldarbeit nun gar nicht drumrum kam, so hat er sich nachhert noch gewaschen und ist in seinen Anzug gestiegen, sodass er fein aussah. Auch meine Großtante, was eine liebe Frau war, und die ganze Familie am Sonntag fein angezogen. Manichmal habe ich mich hingeschlichen, damits ich an so einer Familie teilhatte, die den Sonntag feierte und von allen Tagen sonst unterschied. Ich aß mits vom frischen Blechkuchen und ließ es mir wohl sein. Ich sahk auch die drei Mächen gerne an, wovon die älteste hellblonde Haare hatte und blaue großtraurige Augen, die mittelste, die Sieglinde, goldene fast kupferne lockige Haare. Die leuchteten! Sieglinde gefiel mir am besten. Heute ihre vielen Haare auch dunkel und kurz. Als eine der wenigen von unse Verwandtschaft hat sie mits ihren kleinen, schrägstehenden Augen und ihren hohen Wangenknochen und breitem Gesicht Ähnlichkeit mits dem Martin Luther, der der Bruder von unsem Urahn sein soll. Die Jüngste, eine kleine Schwarze, ist mir damals bisschen tücksch vorgekommen. Heute ist sie eine regelrechte Schönheit auf andere Art als ihre Mutter vorzeiten, mehr herbe, doch hat sie von ihr die Schwärze der Haare und Augen.

Mächtigen Respekt hatten ich und alle Menschen vor meinem Großonkel. Er ein studierter Bauer, was man damals sonst nicht oft hatte. Der hatte sich viele Gedanken gemacht, was dem Boden guttut und damits den Menschen. Er hatte eine hohe Vorstellung von seinem Beruf. Trotzdem er nicht der älteste Sohn war und kein Hoferbe, hat er sich dem Bauernsein zugewandt und mits dem, was ihn unser Großvater ausgezahlt und was er in seinem ersten Beruf selbst verdient hat, einen Hof oben am Barch gekauft und hätte sich nachhert noch einen größeren kaufen können. War er aber zu vorsichtig. Und nach der Währungsreform wars Geld weg. Sagte ich woll schon. Im Dorf hat er viel geholfen, mits Rat und Tat, mits Geräten, den ganz Armen auch mits Nahrung. Von einer Frau, die nicht in der Lage war, ihr Leben zu meistern, hat er nach dem Krieg die drei Kinner durchgebracht. Ist er nach Aserschlehm rein, hat er sich mits Kanter Köhler abgesprochen und rückwärts immer eine Fuhre, Kohlen für die Leute, Dünger und was sonst so anfiel, mitgebracht. Hinwärts die Fuhre leichter als rückwärts den langen Aserschlehmer Barch hoch. Mein Vater hat sich viel mits ihm beraten und auf ihn gehört wie auf niemand sonst. Mein Vater war zunächst fürs Bauernsein nicht bestimmt, trotzdem er in der Kindheit und Jugend auch hat ran müssen. Das Bauernsein ist erst über ihn gekommen nach dem Unglück, bei dem sein Vater und sein älterer Bruder ums Leben kamen. Mein Großonkel Ernst war sozusagen die Ansprechstelle in der Familie für das Landwirtschaftliche. Vielleicht war mein Großvater wie er. Ich weiß nichts von ihm. Es muss damals so schlimm in unse Familie eingeschlagen haben, warum der Vater nicht den Mund mehr aufkriegte über ihn, und selbst unse Oma nicht und selbst nicht Tante Ruth, die Schwester von meinem Vater.

Man Mann war for das Amt niche jeschaffn, das wars, fuhr meine Tante im Erzählen fort. Jrade damals niche, wo alles jlaich bolitisch wurde. Er war ja kan bisschen ernsthaft, jede Voraussicht hatm jefehlt. Hattn Leitn vertraut. Dass immer an schlechter Mensch dabei is, jink anfach niche in san Kopp, da konnt ich reden, was ich wollde. Im Jrunde kann man das, wasser jemacht hat, niche mal als was Bolitisches ansehn. War rane Dummhait.

Un weswejen sin die draie nu abjewandert?, fragte ich. Mits de Friedensdante hattes doch zu dun?

Endlich kamen wir auf den Punkt. Ich von dem Vor und Zurück, dem Hüben und Drüben schon ganz dumm im Kopf.

War 53. Wir gerade in der ersten Klasse, lernten bei unse Frau Münz auf Schiefertafeln die Buchstaben schreiben. Ein Geschmiere war das. Immer wieder mits dem Schwämmchen rüwwer und denn die Griffel dauernd abgebrochen. Ein Tag im März Stalin tot. An die Nachricht kann ich mich nicht erinnern, an kein Geheule oder Zusammenbrechen von Menschen. Auch nicht an heimliche Freudenausbrüche. Aber doch hat es eine Freude gegeben. Oder die drei, der Sylkener Schulze, der Arnröder, sein Stellvertreter, und der Buchhalter saßen ehmt so in der Kneipe. Doch ich nehme mal an, sie haben auch aus Freude einen über den Durst getrunken. Wie sie da hocken und einen heben, taucht die Friedenstante, viel schöner auch Friedenstaube geschimpt, in der Kneipe auf, groß, in ihren abgetragenen Sachen, ein Strickmützchen auf dem Kopp. Sie hatte wohl gehört, da könne man die drei Männer finden. Menschenscheu, wie sie war, muss es sie große Überwindung gekostet haben, überhaupt nach Sylken hoch zu gehen und noch dazu in die Kneipe. Sie sieht die drei fröhlichen Zecher und geht demütig, bloß ehmt eine alte Frau mits allerdings festen Ansichten und einem sehr, sehr dringenden Wunsch, einem Herzenswunsch, auf die drei zu. Was is, Olle?, fragt der Buchhalter. Kommste in alten Taren noch offs Saufen? – An Schnaps for unse Börjerin, ruft der Sylkener Schulze, mein Onkel, dem Wirt zu. – Sie will etwas, sagt der Arnröder, was ein alter Offizier ist, mal ein hohes Tier gewesen in der Wehrmacht, verwickelt in die Geschichte um den 20. Juli, wobei er da gut rauskam und man ihm dardarschwejen auch nach dem Krieg nicht an den Kragen ging. Der war keiner aus der Gegend und mehr feiner, denke ich mir. Die alte Frau tut also beherzt einen Schritt nach dem anderen auf die Männer zu, die über ihren Anblick in immer größere Freude geraten. Sie ist nun am Tisch angelangt und spricht sehr gefasst gegen die drei. An den übrigen Tischen wird es still, weil man hören will, was die Frau zu sagen hat. Wird wieder was ganz Verrücktes sein, da ist man schon darauf eingestellt. Ich will nach Moskau reisen, sagt die alte Frau. Sicher doch, sagt der Sylkener Schulze, mein Onkel. Unsen Sejen haste! Jrüße de sowjetischen Jenossen von uns. Die bekümmerte Miene der alten Frau aber hellt sich nicht auf, denn um eine Delegierung einfach so geht es ihr nicht. Aber das Reisegeld!, gibt sie zu bedenken. (Ich nehme mal an, sie ist nicht aus unse Gegend, sondern wegen dem Krieg auf dem Wiepstein gelandet.) Ich kann das viele Geld nicht aufbringen. – Aber klar doch, das bekommst du, sagt der Arnröder augenzwinkernd zu dem Sylkener. Die Frau schaut zu dem Sylkener, ob der auch einverstanden ist, denn der ist ja der richtige Schulze. Mache diche kane Jedankn, sagt der. Unnen Blechkranz spendiern mir darzu, damits der Stalin hört, wenns rejent! Der rote Kopf von meinem Onkel wird noch röter, und auch die der anderen kriegen Feuerfarbe vor Anstrengung, nicht laut rauszulachen. For so ne Raise muss Jeld san! Wenn mirs uns aach aus unsen ajenen Rippen schnaiden missten, gibt der Buchhalter Seins dazu. Die Friedenstante zieht ab. Vorfreude quillt in ihr auf, macht sich zwischen der Trauer breit. Die Liebe in ihrem Herzen zu dem großen Stalin und der Sache des Kommunismus hat ihr nach vielen Entsagungen, Spott und Hohn nun doch einen Lohn eingebracht. Sie hat die Ehre, als Abgeordnete der Gemeinde Sylken/Arnrode ins Freundesland zu reisen, wenn der Anlass auch erschütternd ist und sie über den Verlust dieses ausgezeichneten Genossen Stalin wohl nie hinwegkommen wird.

Tage vergehen. Auf der Burg lässt sich keiner mits einem Geld, einer Fahrkarte nach Moskau blicken. Die Friedenstante hat schließlich Geduld genug gehabt, geht aufs Bürgermeisteramt, bloß den Berg runger ins Unterschloss, muss dieses Mal nicht bis in die Kneipe laufen, um den Schulzen anzutreffen. Ich warte auf meine Fahrkarte, mahnt sie den Schulzen.

Was for ne Fohrkorte?, fragt der.

Die Fahrkarte nach Moskau zum Genossen Stalin, meint die Friedenstante.

Erinnert sich der Schulze, mein Onkel? Er sagt jedenfalls nichts davon. Iche waß von kaner Fohrkorte, antwortet er. Wo solln mir das Jeld hernehm, sare mir das?

Aber ihr habt es mir versprochen!, erwidert die alte Frau und steht in Tränen vor dem Schulzen über solchen Wortbruch. Was auch immer die Friedenstante oder Friedenstaube noch vorbringt, er will es nicht hören und weist ihr die Tür. Doch die draußen vor der Tür kriegen mit, was die Alte von der versprochenen und nun nicht ausgehändigten Fahrkarte nach Moskau redet. Bittere Anklagen erhebt sie, wo auch immer ihr Menschen begegnen. Ein solcher Gram zehrt an ihrem Herzen. Man wird aufmerksam auf sie, von welcher Seite auch immer. Man untersucht. Einer findet sich, der bestätigt, man habe mits der Frau in der Kneipe so und so geredet. Seinen Namen, sein Gesicht wird niemand erfahren. Den Herzenswunsch erfüllt man der alten Frau nicht. Den Genossen Stalin bekommt sie nicht zu sehen, trotzdem er noch lange einbalsamiert gerade für solche wie sie bereit liegt zur Besichtigung im Moskauer Mausoleum. Aber die drei Männer werden bestraft, die sich bei seinem Abgang in zu fröhlicher Laune befanden. Sie wandern dafür ab nach Bautzen, bis eine Amnestie sie nach zweieinhalb statts nach vier Jahren auf freien Fuß setzt.

Irjendwer muß die draie anjezaicht ham, sagte meine Tante. Ich hawwe aach ne Ahnung, wer. Aner neulich hat mich so neujierig gefracht, ob ich die Jauck-Akten ansehn will. Dem is sicher niche jut jewesn! Awer iche will kane Rache. Iche wills ehmt bloß wissen. Das Verrickte: Aner im Kreis vonner Staatsicherheit hat Wind davon jekricht, dass mer die draie verhaften will, und man Mann anjerufen, er soll abhaun. Un der Arnröder soll aach jewarnt worden san. Awer man Mann hats niche jloobn wolln. Awer doch niche wejen die ollen Dante!, hatter gesaacht. Un ich hawwe jeantwortet: Awer Jünder, doch niche wejen die ollen Dante!

Un warum denne, wenn niche wejen die?, fragte ich.

Ich will dir mal was saren, Fritzchen, wer anjelocht wurde, der hatte mehr offm Kerbholz jehabt, als dasser mal an Witz jemacht hat. Da war immer noch was anderschtes im Hindergrund.

Awer was sollsen jewäsn san bai die draie?, fragte ich.

Is nich so anfach for miche, das zu saren, Fritzchen. Iche war ja janz anderscht anjestellt jejen Hidler als wie man Mann. Wie iche in Berlin in Scharlottenburch war, da hawwe iche de Hitlerai erläbt, die janzen Aufmärsche. Rejelrecht jejraust hat mersch dardavor. De janzen Fackeln un der Pomp. Da konnte mer doch sehn, wohin das fiehrt. Awer man Mann un der Arnröder, die ham sich was drauf anjebildet, dasse Offziere jewesn worn, und ham sich bai wem im Harz ohm immer noch jetroffn. Un der Arnröder wor noch verrickter, hatn NDPD-Ortsverband jejründet un war aach im Kraisverband, hat vellaicht aach den jejründet. Das waß man doch, dass in die NDPD damals bloß die ollen Nazis rainjingen. Jut, war erlaubt. Awer se ham sich ehmt aach noch haimlich jetroffen. Ich hawwe reden könn, hat nischt jenitzt. Was mir dabai so jeärjert hat: Wenn er werklich innerlich so anjestellt war, denn hätte sich man Mann doch aus Kriechsjefangenschaft niche ausjerechnet in de russische Zone entlassn lassn sollen! Kan bisschen Öwwerlejunk, das war man Mann. Das mits de Friedensdante, das war das Quentchen zuviel. Wenn se nu ne Chronik schraihm wolln, Fritzchen, denn kenn se sich mits maim Mann niche schmickn.

Da hatte ich die Erklärung, warum meine Tante so freigibig mits mir redete. Sie war ihrem Siehleken nicht so wohlgesonnen, dass sie ihm einen Märtyrer gönnte!

Wer machtsn so was, wejen an Scherz de Existenz von seine Familie offs Spiel zu setzen!, ereiferte sich meine Tante. Mane Kinner hams ihm schwer ieweljenomm. Un se sin niche mal jejen den Staat jewesn trotz alle Benachtailijungen. Nachhert durften mane Siechlinde und mane Gudrun manichmal mits mir röwwer nach Frankreich. Na, das mits unse Raisefraihait hat sich bis zu dir rumjesprochen, Fritzchen. War vellaicht son bisschen als Widderjutmachunk vom Staate jemant, ja? Un mir ham ja aach bießn missn for man Mann san Entschluss. Mane Siechlinde, die durfte nachert niche auf Owerschule, wo se doch unbedingt wollte Viehdoktorn wern. Der Schullaiter bei uns damals hat gesaacht, das kanner nich befierworten, trotzdem se de Beste war in ihre Klasse. Un sin welche auf Owerschule jekomm, den hats jar nischt jenitzt, weil se vors Awitur abjejangn sin. Awer denn hat sich for Siechlinde ihr Lehrer von der Mansfelder Mittelschule anjesetzt, dasse denn ans Lehrerbildunksinstitut jejang is un is denn Unterstufenlehrerin jeworn. Meine Tante lachte. For de Schwaine war se nich jut jenuch, aber for de Kinner bis zur vierden Klasse! Sare du mir den Verstand dardardrin. Manichmal hat mer sich niche zwischendurch finden kenn. Hat bloß immer an anzelne Person jehangn. Der ane hat sich niche jetraut, der andere hat sich niche jeschärt, was mits ihrm Vader war. Un aach niemand darnach, saacht se. So war das. Awer wem erzähle ich das? Du waßt ja nu am besten, was jink und wies jink, ja?

Wieder nahm sie sich eine Zeit zum Nachdenken, ehe sie weitersprach.

So off de Waite ham man Mann un iche uns jut verstandn, sagte sie dann. Bis de Mauer kam, ham mir ane Urlaubsehe jefiehrt. Worn herrliche Tare da in Berlin. Un nu hock iche in Siehleken allane offm Hoff vonem Vader un bin ne olle Frau jeworn. Ja, so is das, Fritze. Wieder lachte meine Tante. Es war etwas ganz Unheimliches drin, als ob sie sich selbst und das Leben auslachte, als sei sie im Alter zum Ergebnis gekommen, alles sei für die Katz, aber doch sei es ein Heidenspaß gewesen und die Anstrengung wert, dahinterzukommen, dass alles für umsonst ist.

Noch ein letztes Mal nahm die Tante den Faden auf. Wenn iche dir das alles erzähle, Fritze, so musste wissen, dass ich jetz aach alles mits kritische Augen betrachtn tu. Die jroße Fraihait, die se uns jebracht ham, manst du, es jeht anderscht zu wie frieher? Irre dir niche, Fritze. Raißt du dan Maul auf, haste immer die Foljen zu traachn. So isses. Die vorher stille worn, die sins jetz aach. Un die sich vorhert was jetraut ham, traun sich aach jetz. So welche wie dan Vader. An so sturer Hund! Sie lachte wieder in krächzenden, hexischen Altweibertönen. Mitm Kopp durch de Wand. Dan Vader hat den aus Siehleken was anjebrockt! Dafor hawich ihn schon bewundert. For uns stand ja niche die Frare, LPJe oder niche. Man Vader jink ja sowieso in Rende un iche arbaitete im Krankenhaus.

Wieso haste Krankenschwester gelernt, wo du doch jerne Bauer worst?

Rotkreuz im Kriech. Daher. Nachhert wollten se mir niche lassen. Willste noch heern, wie ich zu mane Arwait kam?

Das wollte ich und erfuhr:

Meine Tante sitzt auf dem Hof mits ihren drei Mächens, nachdem der Ernährer im Knast sich bewähren tut. Sie hilft dem Vater, hilft der Mutter. Arbeit ist übergenug. Aber Geld nicht wie gesagt wegen der Währungsreform, wo zehn Mark auf eine umgetauscht wurden. Und mein Onkel Ernst hatte sich nicht wie andere Bauern an der Not anderer bereichert. Auch leidet meine Tante nicht, dass sie ihrem Vater immer auf der Tasche liegen soll. Doch umsonst bewirbt sie sich im Krankenhaus. Zornig wird sie. Man Mann is man Mann, denkt sie. Un iche bin iche. Und da wendet sie das äußerste Mittel in diesem Staat an: Sie fährt zu Ulbricht. So und so, sagt sie in Berlin. Sippenhaft, das wor emol. Iche will mane Arwait. Iche hawwe an Recht dardardrauf. – Das haben wir nicht zu entscheiden, sagen die Herren und Damen in den Vorzimmern. Das hawwe ich mir aach schon jedacht, sagt sie. Wort iche ehmt aufn Jenossen Ulbricht, zu demm wollt iche sowieso. Sie sagt Genosse, trotzdem sie nicht berechtigt dardarzu ist. Aber Herr Ulbricht klingt zu eigenartig und ist zu der Zeit ganz aus der Mode gekommen. Und Kollege, wie man sich sonst ringsum benennt, kommt ihr zu wenig ehrerbietig vor. Genosse klingt ihr angemessen. Gute Frau, sagt einer. Juter Mann, antwortete sie. Jehm sich kane Miehe, iche sitze hier un hawwe janz viel Zait mitjebracht. Iche waß ja, Jenosse Ulbricht hat so wenich dardarvon. Er muss ja an Ohr for so viele Börjer ham und sich kimmern. Schlaue Worte sagt sie. Zu laawern, darin übten sich unse Menschen, wie damals das Volk genannt wurde. Die Laberei gehörte dazu, das Einseifen, wenn man was erreichen wollte. Man machte einen Diener, zog seinen Hut, zeigte sein grundsätzliches Einverständnis, denn die Genossen waren ja immer so unsicher, ob wir Bürger auch wollten, was sie gemäß einem Beschluss von ganz oben, vom Politbüro, für richtig zu befinden hatten. Bis zum Abend lässt man meine Tante sitzen. Den nächsten Tag kommt sie wieder. Den darauffolgenden auch. Sie beginnt zu gefallen. Man denkt vielleicht an all die Menschen, gut ausgebildete Fachkräfte vor allem, die Jungen mits einem kostenlosen Studium vom Arbeiter-und-Bauern-Staat, die der Republik massenhaft den Rücken kehren. Und hier eine junge schöne Frau, gelernte Krankenschwester sogar, die bleiben will, trotzdem ihr Mann in Bautzen war und nun im Westen ist. Will man sie in die Arme des Klassenfeindes treiben? Am dritten Tag lässt man sie zum Genossen Ulbricht vor. Sie spricht zu ihm, wie sie vorher in seinem Vorzimmer gesprochen hatte. Von dem Recht auf Arbeit, das bekanntlich alle hatten, nur ihr verwehrt man es. Und sie sagt wieder: Man Mann is man Mann, un iche bin iche. Angst hat sie nicht. Sie ist eine geborene Luther, und von dem Schrot und Korn, ob nun verwandt oder unverwandt mits dem entlaufenen Mönch. Aus Mansfeld biste?, sagte Genosse Ulbricht mits seiner sächselnden Fistelstimme, bekanntlich aus Leipzig stammend, was von Halle an der Saale, unse Bezirksstadt damals, nur 30 Kilometer entfernt liegt. Trotzdem oder gerade dardardrum können sich die beiden Städte nicht leiden. Den Hallensern ist das Leipziger Gesinge abhold wie den Leipzigern die raue Hallenser Sprache. Und Leipzig ehmt das eine Sachsen und Halle das andere, lange zu Preußen gehörend mits dem kleinen Land Anhalt um Dessau drin. Gute Leute dort, ja?, sagt Genosse Ulbricht. Das rote Mansfeld. Otto Gotsche, unser großartiger Schriftsteller, ja?, der lebt dort. »Die Fahne von Kriwoi Rog« hat er geschrieben, ja? Kennst du »Die Fahne von Kriwoi Rog«? – Die Kinner sicher, redet meine Tante sich heraus. Aus Sylken komme iche, dicht daneben. Unse Kinner fohrn zur Mittelschule nach Mansfeld. Mir zur Arwait mehr nach Aserschlehm oder Hettstedt ins Kupferwalzwerk, ja? Meine Tante schaut den Genossen Ulbricht an, ob er sie versteht. Massenhaft verwendete bekanntlich der Genosse Ulbricht sein »Ja?«. Kurz und hoch herausgestoßen nach fast jedem Satz. Ob aus einer Unsicherheit heraus, die er sich selbst nicht eingesteht, warum er immerfort Einverständnis einfordert. Aber meine Tante sagt es nur wenig. Ja?, mits Schlangenlinie. – Hettstedt, großartig, ja!, sagte Genosse Ulbricht. Mir alles bekannt, alles bekannt. Deine Sache geht in Ordnung. Und grüße die Genossen dort, ja?, sagt er, nicht bedenkend, dass meine Tante zwangsläufig wenig und nicht sehr herzlichen Umgang mits seinen Genossen hat. Der Genosse Ulbricht gibt meiner Tante die Hand. Und vielleicht denkt er sich: mehr von der Sorte könnten wir gebrauchen. Weil sie sich etwas getraut und weil sie schön ist und er ein Auge für Schönheit hat, vermute ich mal. Wie man heute weiß, war er kein Dussel. Man darf ihn nicht nach seinen Reden beurteilen, die waren ja wohl wirklich recht lächerlich, ja?

Sin alles bloß Menschen!, sagte meine Tante und schloss ihren Bericht ab. Dardarnach hatte ich meine Arwait. Iwrijens: die CDU wähle iche niche, wies jetzt in Siehleken Mode is. Trotzdem iche frieher, als der Paschter Kratochwil noch da wor, in de Kerche bin un zun Bibelstundn. War aach wejen mane Schulfreundin, die Feli Adler, die da die Kinner in Relijon underrichtet hat, bisse nach Halberstadt versetzt wurde un for de Katecheden im Krais zuständich wor.

Frollein Adler, kenne ich, klar, erwiderte ich. Scheenes Wiepchen. Jroß un mits so blaue Ooren. De Dochter von Doktor Adler in Alterode.

Iche hawwe de ollen Wiepchen offjehetzt, dasse mer immer richtich wähln. Kannste ratn, welche Partai! Denen zum Dorte! Meine Tante lachte. Wieder ganz hexisch, trotzdem ihre Stimme noch jung war und in ihr schwarzes Haar hatte sie bloß einige weiße Fäden drin. Ihr feines Gesicht war mits einem Mal voller junger Lustigkeit. Un wer was jewählt hat, hawwich rausjekricht. Ich kenne mane Sylkener. Iche waß, wasse vor 45 jemacht ham un was nachhert. Un iche waß, wie se vor 89 jeredt ham un wie nachhert. Un die Sylkener wissen, dass ichs waß, uns paßt ihnen niche. Un es is ihnen niche recht, dass iche saren kann, wer welche Fahne immer als erschter hat nach draußen jehangn. Nu, Fritzchen, kannste den erzähln, dasses aufschreihm, wenn se wolln.

Stunden saß ich bei Tante Hildegard, mampfte den frischen Matzkuchen, dass mir nachhert der Wanst spannte und ich sehr aufrecht nach Hause lief, und ich mits Staunen nachdachte, was meine Tante den Sylkenern alles so mitzuteilen gehabt hatte. Seither gehe ich manichmal bei ihr. Und immer nehme ich die kleine Rotznase mit, die ich mal war, damits die nachholt aus der Zeit, wo sie sich so eine Frau so sehr zur Mutter gewünscht hätte. Stizel, Kartoffelkuchen, hat sie mir auch schon gemacht. Reinewech vernarrt bin ich in meine Tante. Als Kind ist sie mir nicht aufgefallen. Da hatte ich vor allem Tante Ruth vor Augen, die Schwester von meinem Vater, die aber zu weit weg verheiratet war, in Quedlingburch. Tante Hildegard hätte mir schon gutgetan. Und wenn sich Margarete wieder mal nach unser olles Siehleken verirrt, denn kricht sie auch Stizel bei Tante Hildegard vorgesetzt. Soll die Tante ihr noch mal erzählen, was sie mir erzählt hat. Sowieso werde ich Jerard zu ihr führen, wenn er sich denn wirklich in unse Gegend blicken lassen sollte. Den werde ich richtig tief eintunken ins Leben bei uns, wie es sich entwickelte, seit er fortgemacht ist.

Aus der Chronik ist dann doch nichts geworden. Man war eben sehr obenauf in jenen Tagen.

Den Schandarmen, den Astel-Knastel, hatte meine Tante mits keinem Wort erwähnt. War der für sie auch bloß ausführendes Organ, vielleicht sogar nur ein Verrickter? Das Dorf hatte ihm jedenfalls nicht verziehen, dass er mitgeholfen hat, die drei Männer einzusperren. Mag die Friedenstante meinstwegen eine arme, verdrehte Frau gewesen sein und keine Hexe und Anschwärzerin. Doch den Astel-Knastel ließ ich mir nicht nehmen als den ganz persönlichen Feind meiner Kindheit, den Bluthund, der meinen Vater, Hermann und mich hetzte.

Aber manichmal waren auch wirs gewesen, die ihn gehetzt haben:

Morjen wern se uns beackern komm!, hatte Hermann am Sonnabend nach Schickedanzens Weggang gesagt und Agitprop-Truppen aus der Stadt gemeint, FDJler und Genossen, die ihren Sonntag hergaben, um für den Eintritt in die landwirtschaftlichen Genossenschaften zu agitieren, Propaganda dafür zu machen, was heute einfach unter Werbung liefe oder PR. Sie bekamen kein Geld dafür, hatten keinen Nutzen davon, hielten es für ihren gesellschaftlichen Auftrag und glaubten an die Sache (des Sozialismus) so fest wie Paschters seine Familie an Gott. Wie gesagt, bei uns fielen sie nicht massenweise ein wie woanderschert. Da beschränkte sich der Einsatz, weil wir in der Vergesellschaftung schon ziemlich vorangeschritten waren, und der sozialistische Frühling seine Blüten schon trieb, für dessen Einführung der Genosse vom Politbüro, Gerhard Grüneberg, verantwortlich zeichnete. Da wern wer ehmt an Ausfluuch machn!, sagte mein Vater. Offenbar hatte er auch schon über diesen Sonntag nachgedacht, an dem wir als einzigstes Objekt dringender Werbung für das Genossenschaftswesen übrigblieben.

Nachrichten aus dem Garten Eden

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