Читать книгу Tarantella - Beate Morgenstern - Страница 4
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ОглавлениеIch zog die Vorhänge zu, entzündete Kerzen, legte eine Platte nach der anderen mit Julia auf Es ritten drei Ritter zum Tore hinaus! Ade! Ade! Feinsliebchen, das schaute zum Fenster hinaus! Ade! Ade! Ade! Und wenn es denn soll geschieden sein, so reich mir dein goldenes Ringelein! Ade! Ade! Ja Scheiden und Meiden tut weh, tut weh! Ade! Ade! Ihre Stimme umgab meinen Leib, meine Seele wie ein kleiner Dom. Meine Tränen flossen vor Schmerz im Allgemeinen und im Besonderen und vor Glück auch. Ein starkes Pochen endlich machte mich auf einen dünnen Klingelton aufmerksam, den ich zuvor als kleines lästiges Nebengeräusch gehört hatte. Man begehrte Einlass. Ich schaltete den Plattenspieler aus. Mein Gehäuse fiel in sich zusammen. Ich befand mich wieder in meiner Alltagswelt.
Mein Nachbar stand vor meiner Tür, nett, in buntkariertem Hemd, etwas über eins sechzig messend oder darunter. Jedenfalls erheblich unter meiner Körperhöhe, was in mir ein Gefühl von Hilflosigkeit hervorrief, obwohl nicht ich, sondern er der Winzling war. Da wir alle etwa gleichzeitig in das Haus eingezogen waren, kannten wir uns recht gut, die meisten schienen sowieso Kollegen. Auf ihre Frage, wo sie arbeiteten, wollten sie allerdings nicht recht mit der Sprache heraus, murmelten Staatliche Planungskommission und Ähnliches. Nun ja. Obwohl mein Beruf zunächst bei den übrigen Mitgliedern der schnell offiziell ins Leben gerufenen Hausgemeinschaft Befremden hervorgerufen hatte, nahm man mich wohlwollend auf. Glücklich über die gerade uns von unserem sozialistischen Staat bereitgestellten Komfortwohnungen, hatten wir freundlichsten Umgang miteinander wie kaum in der eigenen Familie. Bisweilen ging es bei uns zu wie in einer Kommune, man passte gegenseitig auf die Kinder auf und borgte sich Mehl oder Brot oder was sonst dringend Benötigtes. Es war nicht anders als in Marzahn oder Hellersdorf. Entschuldigen Sie die Störung, sagte mein Nachbar, sichtlich verlegen. Aber meine Frau bekommt Schreikrämpfe.
Tatsächlich hörte ich jetzt ein Kreischen hinter seiner Tür. Die Frau schien arg mitgenommen.
Wenn Sie vielleicht eine andere Musik einstellen könnten, sagte mein Nachbarlein höflich. Volksmusik zum Beispiel. Heino lieben wir, Shanties, oder Rex Gildo oder das mit Roy Black und dem kleinen Mädchen. Mein Nachbar begann mit dünner Stimme, die gemeinten Töne um höchstens ein Achtel bis Sechzehntel verfehlend, zu singen: Schön ist es auf der Welt zu sein, sagt die Biene zu dem Stachelschwein. Ich und du, wir stimmen ein, schön ist es auf der Welt zu sein. Es war ein westdeutscher Hit. Und mein Nachbar auf jeden Fall Genosse. Aber heutzutage war denen wohl auch freie Wahl im Äther erlaubt.
Sie werden sich nicht mehr beklagen müssen!, sagte ich. Bitte entschuldigen Sie mich!
Nein, nein. Das kann vorkommen, sagte mein Nachbar. Die Wände sind so hellhörig.
Ja, offenbar. Auch hier ist nicht alles perfekt.
Im Ganzen kann man sich nicht beklagen, beeilte sich mein Nachbar zu sagen. Vielleicht hatte ihn der schlechte Nervenzustand seiner Frau, die gerade wieder aufschrie, in so starke Defensive gebracht.
Wir verabschiedeten uns mit Handschlag wieder und wieder, uns sozusagen weiter feste, geschwisterliche Freundschaft schwörend.
Da ich den Musikvorschlägen meines Nachbars nicht folgen konnte, kaufte ich Kopfhörer, lief mit ihnen durch die Gegend. Das Herz wurde mir weit von Julias Gesang. Ade! Ade! Ade! Ja Scheiden und Meiden tut weh, tut weh! Ich lebte mit ihr wie in einer Klangkathedrale, sagte ich schon, meinen Kummer über allgemeinem Weltschmerz fast vergessend.
Und?, fragte Freundin Ute.
Nichts und!, antwortete ich.
So kommst du mir nicht davon. Meine reizende Freundin bat um Aufklärung. Das ist natürlich so eine Sache, sagte sie dann. Schön ist sie, klug ist sie und angenehm dazu, aber sie kann nicht schlafen. Sie nimmt Tabletten.
Ja Tabletten!, sagte ich empört.
Eine Ärztin sollte das doch abschätzen können, meinst du nicht?, entgegnete Ute zweifelnd. Mir würde das nichts ausmachen. Sie nimmt welche. Und du nimmst keine.
Wie schnell man da reinrutscht. Nein, nein. Ich hab Leute kennengelernt.
Wenn ich bloß nicht alle Briefe weggeworfen hätte, klagte Ute.
Wir waren in einer Zwangslage, tröstete ich.
Trotzdem. Ich hab dir einen schlechten Dienst erwiesen.
Ich bin dadurch wieder gesund geworden.
Da hast du auch wieder recht. Schnell ließ sich mein Utchen trösten, das liebe ich so an ihr.
Erst hatten wir ein Überangebot und nun einen Mangel, sagte sie. Was jetzt? Noch eine Annonce? Ich bezahle sie dir selbstverständlich.
Mir wurde schwindlig bei dem Gedanken an eine erneute Briefflut. Und dieses Mal würde Ute von denselben Zweifeln befallen wie ich und mir kaum helfen können. Gehen wir's langsam an, sagte ich. Ich kann ja auf Zeitungsannoncen antworten.
Unter der Rubrik Verschiedenes fand ich lediglich Frauen, die sich anboten, zum Nähen, Fensterputzen ins Haus zu kommen. Offenbar waren die offiziellen Bedingungen unter der Rubrik Bekanntschaften noch einmal verändert worden. In der Folge ließ ich mir mehrmals die Fensterfront putzen, kein ganz billiges Vergnügen, und fand es sehr in Ordnung, dass die Frauen keinen Kaffee von mir verlangten, denn sie waren nicht so, wie ich mir meine zukünftige Einzige vorstellte.
Eine junge Näherin erschien. Blond, glatte Haare, große blaue Augen. Etwas dünn und bleich. Die ließ sich bereitwillig zum Kaffee einladen und schien es in keiner Weile eilig zu haben. Sie sah sich in meinem Appartement um, bewunderte meine Bibliothek, und ich machte sie auf drei kleine Landschaftsbilder, hervorragende Kopien aus dem neunzehnten Jahrhundert, meinem Spezialgebiet, aufmerksam.
Daraufhin erkundigte sie sich nach meinem Beruf. Das hätte mich auch interessiert!, sagte sie, und ihre blauen Augen bekamen Glanz. Ich hab meine Stelle in der Soziologie hingeschmissen.
Warum?
Hat mir nicht gefallen. Schon mein Professor, ein solcher Idiot, verstehen Sie? Arbeiten, nur um zu arbeiten, nicht mit mir.
Und da nähen Sie jetzt?
Ich mache alles Mögliche, sagte sie vieldeutig.
Plötzlich hatte ich die verwegene Idee, das Mädchen täte für Geld manches. Gerade diese harmlos aussehenden Geschöpfe soll man nicht unterschätzen.
Ihr Freund ernährt Sie? fragte ich aufs Geratewohl.
Bleiben Sie mir mit den Kerlen vom Leib. Von denen hab ich genug!
Nach dieser Aussage war ich mir fast sicher, das Mädchen war nicht zum Nähen gekommen. Ich begann zu überlegen, wie alt es sein könnte. Immerhin hatte sie Hochschulbildung und eine vorzügliche Aussprache.
Und was haben Sie sich für die Zukunft gedacht?
Weiß nicht. Sie zuckte die Schultern. Irgendwas mit Kunst vielleicht. Ich fühle, dass ich Begabung habe. Ich könnte auch schreiben. Ja bestimmt. Wenn ich will, kann ich alles.
Daran wird es liegen, dachte ich. Das Mädchen, eine Aussteigerin offenbar, war mir sympathisch. Aber meine zukünftige Einzige stellte ich mir denn doch etwas anders vor.
Und an was haben Sie so gedacht?, fragte sie.
Ich weiß nicht.
Bluse, Hose, Kleid. Ich nähe gesteppte Jacken. Alles aus Baumwolle. Ich nehme Laken dafür, die sind billig. Ich färbe sie natur, pink, wie Sie wünschen. Einkaufsbeutel können Sie auch haben. Übrigens, ich würde auch bei Ihnen saubermachen. Eine Arztpraxis habe ich schon.
Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass ich mich nicht weiter erklären musste. Ich gab eine gesteppte, pinkfarbene Baumwolljacke in Auftrag, wie sie selbst eine trug. Die war etwas alternativ, würde man heute sagen.
Meine Kolleginnen bewunderten mich. Eine nach der anderen ließ sich zu meinem Ärger eine solche Jacke nähen. Ich gab Kleider, Blusen, Hosen in Auftrag, alle hatten einfachste Burda-Schnittformen. Das Mädchen konnte sich kaum vor Aufträgen retten. Einige Kolleginnen fingen selbst an zu nähen. Eine gab ihren Beruf auf, ging auf Märkte, die damals wie wild aus dem Boden schossen. Eine Gewerbeerlaubnis war nicht vonnöten. Man war ja behördlicherseits froh, wenn die Menschen sich selbst aus Engpässen halfen, und es herrschte mehr Mangel an Arbeit als an Leuten, obwohl in der Bevölkerung immer noch das Wort auf die Frage, woran es denn nun bei uns fehle, in Mode war: Keine Leute! Keine Leute! Vor allem Hochschulabsolventen trampelten sich gegenseitig auf einer Stelle tot, die kurzerhand mit dreien besetzt wurden. Weil: Arbeitslosigkeit durfte es ja nicht geben. Zu jener Zeit brach in der Republik ein regelrechtes Fieber unter den Frauen aus. Man nähte sich selbst, strickte wieder, rannte in Keramikkurse. Es war eine Sucht nach Individualität. Wer selbst nicht tüchtig war, ging wenigstens auf Märkte oder in Läden, in denen Absolventinnen der Kunsthochschulen ihre Arbeiten verkauften. Auch Ute trug nun Kleidung meiner Schneiderin und versuchte, das eine oder andere Stück nach Vorlage meines Schnitts selbst zu nähen.
Wir beglückwünschten uns zu der Annonce.
Als mein Schrank gefüllt war, kehrte Leere in meine Seele zurück. Zwar war ich froh über Utes Anwesenheit, die die Sonntagnachmittage regelmäßig mit mir verbrachte und - wie schon geschildert - auch sonst alle Werktage während des Dienstes an meiner Seite weilte. Aber nicht einmal in Gedanken durfte ich meine Wünsche, sie betreffend, äußern. Das hätte mich ins dauernde Unglück gestürzt. Glaubte ich damals zumindest.
Wieder machte ich mich zur Annoncen-Abteilung der republikweit erscheinenden Zeitschrift auf. Die Vorschriften hatten sich erneut geändert, diesmal gelockert. Man durfte auf dem Wege der Annonce nach einem Briefpartner, einer Briefpartnerin suchen. Ich hielt meine Anzeige mit Bedacht sehr bescheiden. Berlinerin, 40, sucht Kontakt. Entsprechend mager war die Ausbeute. Ich musste Ute gar nicht erst um Hilfe bitten, wechselte mit einer jüngeren Frau Briefe. Sie benutzte lila Tinte, wenigstens nicht grüne oder rote. Ich benutzte schwarze. Sie ginge gern ins Theater, hätte einen fünfjährigen Sohn und sehne sich nach Glück, Erfüllung, Zweisamkeit, schrieb sie.
Nachdem Fotos ausgetauscht worden waren, machte ich mich zu meiner eventuell Zukünftigen nach Dessau auf, ging durch das Städtchen, fand unter der angegebenen Adresse eine Villa vor. Über einen Seiteneingang gelangte ich in das Dachgeschoss. Meine eventuell Zukünftige öffnete mir. Sie war mittelblond, gelockt, landläufig hübsch, trug ein langes dunkelviolett-samtenes Hausgewand, in dem das entscheidende Darunter nicht recht auszumachen war. Violett schien ihre Lieblingsfarbe. Und als sie langsam die Augen aufschlug und mich mit einem langen, forschenden Blick bedachte, schienen mir auch ihre Augen blauviolett.
Ein Geruch von gedämpften Paprikaschoten stieg mir in die Nase und beseitigte meine aufkommende Unruhe.
Ich habe mit dem Essen auf Sie gewartet, sagte sie. Es gibt gefüllte Paprikaschoten. Ich hoffe, Sie mögen gefüllte Paprikaschoten.
Oh ja!, sagte ich, erleichtert über das nette anhaltinische Sächsisch aus ihrem Munde, oder sagt man nicht Sächsisch zum Anhaltinischen, und die unverfängliche Ansprache. Gefüllte Paprikaschoten waren übrigens ein Lieblingsessen in meiner Familie. Ich hatte mich leidlich auf die Zubereitung verstanden.
Ein fünfjähriges Söhnchen wurde mir vorgeführt, ein braver, kleiner Kerl. Der Raum, in dem wir uns aufhielten, war gleichzeitig Wohn-, Schlafzimmer und Küche. Mein Blick fiel auf ein Ölbild. Von meinem geschiedenen Mann!, sagte sie stolz. Ich beschloss, dieses Bild sehr bald auszutauschen, ebenso wie die Reproduktion eines Akts von Modigliani, überdeutlicher Hinweis, wie die Couch darunter zu benutzen sei. Ebenfalls hatten die roten Plüschmöbel im Falle meiner längeren Anwesenheit ersetzt zu werden und auch die langen rotsamtenen Vorhänge.
Sie tat das Essen auf. Haben Sie eine gute Reise gehabt?, fragte sie höflich. Gefällt Ihnen Dessau? Lieben Sie Tschaikowski? Lieben Sie auch Schumann?
Zufällig liebte ich Tschaikowski und auch Schumann.
Und in Berlin können Sie ja in die Oper gehen!, schwärmte sie.
Die Paprikaschoten waren gut zubereitet. Doch irgendwie missfiel mir, dass sie Tschaikowski, Schumann und die Oper liebte. Lag es an ihren Augen, die beständig von anderem als Tschaikowski und Schumann redeten, mich förmlich verschlangen, während ich doch mit meinen Paprikaschoten beschäftigt war, die ich in kleine Bissen aufteilte. Denn ich fürchtete mich vor allzu raschem Dessert auf der Couch, war ja immerhin zwei Jahre lang aller Liebe entwöhnt und zudem unsicher, was allgemein gewünscht wurde. Noch saß das Söhnchen am Tisch. Artig bat es, aufstehen zu dürfen. Fast zu sehr wusste es sich zu benehmen. So klein er war, hatte er wohl schon im Bewusstsein, dass seine Entfernung durchaus erwünscht war. Ich schloss daraus, nicht zum ersten Mal weilte eine Dame meiner Art in der kleinen Wohnung. Er verzog sich in eine Kammer nebenan, offenbar sein Rückzugsgebiet für alle Fälle.
Violetta, so beliebe ich sie wegen der Bevorzugung von Violett in meiner Erinnerung zu nennen, goss mir und sich ein Likörchen ein, ein zweites rasch nach. Ihre Augen verdunkelten sich. Warm wurde mir.
Es wird wohl gewittern!, sagte ich, ließ meine an sich dunkle Stimme hell klingen. Ich muss sehen, dass ich rechtzeitig zum Bahnhof komme! Ich stand auf.
Ein Gewitter, wieso Gewitter?, fragte Violetta bestürzt.
Ich muss zum Bahnhof. Entschuldigen Sie. Ich habe vergessen, meine Fenster zu schließen. Mein Kater hat furchtbare Angst vor Gewittern.
Ihr Kater? Die gute Violetta war nicht mehr reaktionsfähig. Hatten sie die zwei Likörchen außer Gefecht gesetzt? Oder übte ich eine geradezu hypnotische Wirkung aus?
Ja, er ist so schreckhaft. Es ist einfach furchtbar. Wenn ihm etwas passierte, ich würde es mir nie verzeihen, nie! Ich nahm meine Jacke. Entschuldigen Sie, das gute Essen, die freundliche Bedienung. Es hat mich alles unendlich gefreut, und ich bin auch unendlich betrübt, dass mir dieser Fehler unterlaufen ist. Wie konnte ich die Fenster offenstehen lassen. Ich fasse es selbst nicht!
Aber, aber... Violetta hatte es die Sprache verschlagen. Sie eilte zu einem Kommödchen. Hier, ein Geschenk für Sie! Sie überreichte mir einen schweren Packen. Da Sie doch Kunstwissenschaftlerin sind. Ich hoffe, Sie besitzen sie noch nicht. Ich habe gute Kontakte zum Seemann-Verlag.
Oh nein, das kann ich nicht annehmen. Es verpflichtet. Ich bitte darum, schenken Sie es einer guten Freundin zu Weihnachten, zum Geburtstag.
Ihre Haare... sie sind ganz wundervoll, stammelte Violetta, berührte meine roten Locken, und mir wurde so bange, dass ich, die Bücher in der Hand, die Flucht ergriff.
Das nächste Mal schließen Sie die Fenster!, rief sie mir nach. Und grüßen Sie ihren Kater! Wie heißt er?
Philoktet, schrie ich, nun schon aus großer Entfernung.
Aber Sie wissen doch gar nicht, ob ein Zug fährt, hörte ich noch. Und dann einen letzten Satz. Es gewittert doch gar nicht!, schrie sie.
Tatsächlich waren es noch Stunden bis zum nächsten Zug. Ich konnte mir lieblichere Aufenthaltsorte denken als den Bahnhof, hatte zudem Sorge, Violetta würde mir noch folgen, und begab mich eilends aus dem Städtchen. Bald befand ich mich in einer Auenlandschaft. So schön und scheinbar unberührt, wenn auch Menschenhand immer am Werke war, selbst wo wir es nicht mehr vermuten. Buschwerk, Erlen wohl, die das Wasser lieben, zur Flussseite hin, so dass ich das Wasser nie sah, doch immer roch und irgendwie auch schmeckte. Ich ging durch Wiesen - Äcker kaum zu finden - einen Weg, der immer weiterführte, als wolle er mich irgendwohin geleiten, während ich gefasst gewesen war, dass er bald aufhörte. Denn Pfade, Wege verschwanden. Man ging nicht mehr einfach so über Äcker, durch Wiesen und nicht durch Wildnis einen Fluss entlang. Die Menschen hatten sich aus der Natur zurückgezogen, so dass Wege überwucherten oder umgepflügt wurden. Der Fluss zog sich, wie er wollte und niemals geradewegs, als nähme er sich bis zu seiner Mündung, so viel Hunderte Kilometer später, gerade recht viel Zeit. Wenn auch alles in etwas mündet, so hat man doch seltener Lust auf diese Folgen. Ehe ich es mich recht versah, geriet ich in einen Landschaftspark englischer Art, Brücken über Gräben, ein See wand sich. Man lockte mich auf verschlungenen Pfaden zu Inseln und immer wieder Ausblicken von kleinen Höhen. Verschwiegene Stellen, zu mancherlei Spielen geeignet. Nichts war denen fremd, zu deren Lust und Freude der Park angelegt war. Natürlich wusste ich, wo ich mich befand. Im Geiste dankte ich Violetta für ihre Einladung zu ihr, wie ihr freundlich-dringlich-sinnliches Begehren, das mich hatte entfliehen lassen, und erging mich, als sei der Park mir allein zugedacht, denn es war ein Wochentag und das werktätige Volk werktätig. Ich verbrachte herrliche Stunden, allein beschwert durch das Bücherpaket und ein wenig von meinem Gewissen. Aber hätte ich Violetta die Bücher vor die Füße werfen sollen? Kränkend wäre dies gewesen!
Zu Hause machte ich mir Gedanken um Violetta und um mich selbst auch. Zum zweiten Mal war ich davongelaufen. Warum eigentlich dieses Mal? Amanda, sprach ich im Geiste zu Amanda, vielleicht kann man alle Frauen haben. Aber sowie sich mir eine Frau nähert, eilen meine Füße davon, als steckten sie in des kleinen Mucks Pantöffelchen! Das nächste Mal will ich es wissen. So oder so! beschloss ich. Meine Fluchtneigung artet aus. Sie ist zu bekämpfen. Es muss auch nicht meine zukünftig Einzige sein. Arme Violetta! Ich gedachte ihrer mit Reue, hatte sie mir doch immerhin gefüllte Paprikaschoten bereitet und mich mit hervorragenden - sicher als Hochzeitsgabe gemeinten - Bildbänden beschenkt.
Etwa zehn Tage danach, an einem Sonnabendabend, klingelte es. Die Sprechanlage funktionierte nicht. Ich drückte auf den Summer in der Hoffnung, Ute benötige schon einen Tag vorfristig meine Gesellschaft. (Das Meiden, das Meiden tut weh!...) Vor meiner Tür erblickte ich ein Wesen, klein, etwa so breit wie hoch, die Haare borstenkurz, die Brille stark geschliffen. Ich sah auf die Hände, die auch klein, die Schuhe ebenfalls, schaute auf die Knöpfung des Wildlederjacketts, auch die Hosen waren übrigens aus Wildleder, und kam zu dem Schluss, dass es sich um ein weibliches Wesen handelte. Entschuldigen Sie meinen Besuch, sagte die Fremde. Ich hätte ein Anliegen. Ihre Stimme hätte im Chor durchaus alle männlichen Parts übernehmen können, eher den Bass als den Bariton. Da sie sehr laut sprach, war sie offenbar nicht nur kurzsichtig, sondern auch schwerhörig.
Und welches?
Es geht um… Sie dämpfte ihre Stimme und sagte den bürgerlichen Namen von Violetta.
War Violetta etwas zugestoßen? Hatte sie es sich so sehr zu Herzen genommen, dass ich ihre inniglichen Briefe nicht beantwortete?
Ich ließ das fremde Wesen ein.
Mit gemessenen, seinen den kurzen Beinen angepassten Schritten, betrat es meine Wohnung.
Sie rauchen?, fragte überlaut Bromelia, wie ich sie nun nennen werde.
Ich verneinte.
Aber ich darf? Sie machte es sich auf der nächsten Sitzgelegenheit bequem, streckte ihre kurzen Beine aus, suchte sich einen Teller aus, den sie als Ascheablage benutzte. Hübsch haben Sie es!, dröhnte sie.
Ich denke auch. Was ist mit... ? Ich nannte Violettas bürgerlichen Namen.
Nichts, nichts Besonderes.
Das fand ich nun sehr hübsch. Mich plagten Gewissensbisse, nur weil mich Violetta dauerte, saß dieses Menschenkind in meinem Appartement. Und nun fehlte Violetta gar nichts. Ich beschloss, eine Weile höflich zu bleiben. Sie sind befreundet?
Wie man's nimmt!, brüllte sie. Spielen Sie Karten?
Nein.
Ich ja. Ich spiele Skat, Canasta, 66. Ich habe schon im Preisskat gewonnen! Ich kann Ihnen auch eine Patience legen.
Um Gottes willen. Ich wusste, dass Patienten wie Patiencen viel Geduld, also Zeit benötigten. Ich aber war nicht bereit, mehr als eine Viertelstunde zu opfern.
Ich habe Karten dabei! Bromelia hatte offenbar meinen Einwand nicht gehört. Sie packte ohne Weiteres Karten aus ihrem Einkaufsbeutel, begann sie auf meinem Tisch auszubreiten. Dringlich wünschte ich mir meinen Kater Philoktet, dass er alle Karten durcheinanderbrächte und ihm auch sonst noch allerlei Unfreundlichkeiten einfielen. Aber er war in diesem Fall nicht zu gebrauchen, da er ja lediglich in meiner Einbildung existierte.
Bromelia stellte eine Flasche Nordhäuser Doppelkorn auf den Tisch, einen guten Klaren, den man nicht so ohne Weiteres bekam. Als sie meinen zweifelnden Blick sah, schrie sie: Wir müssen den ja nicht niedermachen.
Sie legte die Karten, brummelte vor sich hin. Ich begann mich an sie als vorübergehend bei mir abgegebenes größeres Haustier zu gewöhnen, das beliebte, Karten zu legen und sich hin und wieder Schnaps einzuschenken. Ich selbst enthielt mich.
Und wie sind Sie mit der Dame aus Dessau bekannt?, fragte ich nach einer Weile. Wieder hörte sie nicht. Ich wiederholte meine Frage in einiger Phonstärke.
Sie blickte auf und sah mich ruhig an. Sie müssen nicht so schreien, brüllte sie. Ich kann von Ihren Lippen ablesen. Sprechen Sie nur deutlich.
Ich nickte.
Sie sind ein anständiger Mensch, dröhnte sie. Noch unwissend, schätze ich. Sie sind ihr neulich davongelaufen. Sie lachte. Das haben Sie gut gemacht.
Ich gewöhnte mich auch an Bromelias lautes Reden. Doch da ich nicht wusste, ob die Nachbarn genauso an der Weiterführung des Gesprächs wie ich interessiert waren, drehte ich das Radio auf. Dann erst stellte ich meine nächste Frage. Wie gut kennen Sie sie?
Na ja ... ich fahre regelmäßig hin.
Ich versuchte überhaupt kein Gesicht zu machen.
Da ich nichts weiter sagte, fühlte sie sich nach einer Weile zu einer Erklärung bemüßigt und sagte: Schließlich hat es jeder Mensch nötig. Auch wenn er so aussieht wie ich. Hinter ihren Brillengläsern funkelten ihre Augen, klein wie Stecknadelköpfe schienen sie.
Ich senkte meinen Blick. Wieviel hatte sie jener Violetta voraus. Sie war eine Frau, die ihr Schicksal annahm und - wie man so sagt - das Beste daraus machte, was in der Liebe immerhin schlimm genug war.
Und wie sind Sie zu meiner Adresse gekommen?
Es liegen immer Briefe unter ihrem Couchtisch.
Nun plagten mich keinerlei Gewissensbisse mehr wegen der zwei Kunstbände. Meine Briefe werden zur allgemeinen Besichtigung freigegeben?, vergewisserte ich mich.
Wie alle. Bromelia zuckte mit den Schultern. So ist das Leben. Sie nahm einen starken Schluck aus der Flasche, so dass ich ihr dann doch lieber ein Glas anbot, legte an dem Abend noch eine Patience und noch eine. Keine ging auf. Es schien, sie fühlte sich äußerst wohl bei mir. Dennoch hielt ich mich nicht an mein gerade gegebenes Versprechen, auf die nächste Frau zuzumarschieren, als gälte es, Feindesland einzunehmen. Irgendwann erhob sie sich von meinem Stuhl. Schöne Bücher haben Sie, tolle Bildbände, sagte sie und besah sie sich der Reihe nach. Auf meine hervorragenden Landschaftskopien aus dem neunzehnten Jahrhundert machte ich Bromelia nicht aufmerksam.
Kann ich mir ein Buch ausleihen?, fragte Bromelia.
Ich nahm die Frage freundlich auf, da ich auf geistiges Interesse schloss, und nickte.
Sie sind eine schöne Frau, sagte Bromelia. Das wusste ich. Leider konnte ich das Kompliment nicht zurückgeben. Es hat mich gefreut, sagte ich. Aber...
Wenn ich mir hin und wieder ein Buch ausleihen dürfte. Das genügt mir schon. Bromelia schritt tapfer und leicht trunken auf die Wohnungstür zu. Ich gab ihr die halbgeleerte Flasche Nordhäuser Doppelkorn mit. Ein Trost sollte ihr bleiben.
Bei dir stinkt es, sagte Ute am folgenden Nachmittag. Alkohol und Zigaretten. Pfui Teufel.
Ich habe Besuch gehabt.
In ihrem Gesicht begann ein freudvolles Fragen. Und weil ich so gar nicht darauf einging, sagte sie: Na, ich hab's gewusst. Wo hast du ihn kennengelernt! Oder ist es etwa ein Nachbar?
Ich schüttelte den Kopf.
Wieder eine Annonce?
So ungefähr.
Und mir sagst du nichts davon!
Warum sollte ich. Du kannst mich doch nicht verstehen. Du willst doch nur einen Mann für mich.
Lieber, gab Ute zu.
Dabei kannst du es nicht beurteilen, sagte ich. Du weißt nichts von Frauen. Die Liebe mit ihnen ist so unerhört, so einmalig. Ach mein Utchen, sagte es zärtlich in meinem Herzen, wenn du wüsstest, auf Händen würde ich dich tragen.
Mir hat's nichts gebracht, sagte Ute trocken.
Was?
Ich hab's ausprobiert. Man muss alles kennenlernen. Aber ich kann nichts dran finden. Ein bisschen schmusen ist doch nicht alles. Ich brauche Sex, richtigen Sex.
Den kriegst du auch mit einer Frau.
Ich nicht. Ich brauche einen Mann, ich brauche ihn ganz und gar, ihn ganz besonders, aber auch alles andere, seinen ganzen festen Männerkörper, die Haare, wo sie auch wachsen, alles macht mich rasend. Ich bin verrückt auf Männer.
Ich hoffe nur auf die eine, sagte ich kraftlos und geschockt davon, wie jung und schon so erfahren meine Freundin war.
Natürlich will ich nur meinen Freund. Er ist der herrlichste. Ich hab den Vergleich, ich kann es beurteilen. Ich liebe ihn. Und in ihm liebe ich alle Männer zusammen.
Mein Kopf schwamm groß auf einer Nebelwolke, meine Beine trugen mich nicht mehr. Ich glitt zu Boden, sehr elegant, wie ich noch bemerkte, das Tablett in meinen Händen rettete ich neben mich.
Was ist dir?, rief Ute,
Nichts, hauchte ich. Du hast soeben mein Todesurteil verkündet.
Aber nicht doch.
Aber nicht. Oder aber doch, scherzte ich, auf dem Boden liegend, um die Peinlichkeit meiner plötzlichen Schwäche zu mildern.
Wasser? Alkohol? Nun sag schon, was du brauchst! Mein liebes Utchen war ganz außer sich vor Sorge. Das wiederum genoss ich. Sie brachte mir ein Glas Wasser, setzte es an meinen Mund. Ich rappelte mich, ließ mich auf die Liege fallen.
Es tut mir so leid, sagte Ute. Tränen standen in ihrem erröteten Blondgesicht. Ich war so taktlos. Das passiert mir sonst nie. Natürlich respektiere ich, wenn du Frauen liebst. Ich kann es nicht verstehen. Aber ich respektiere es.
Ich versteh mich selbst nicht, sagte ich.
Ja, nun, sagte Ute weise. Wie die Natur es will. Und wenn es deine Natur ist. Wie du glaubst. Ich glaube es übrigens nicht. Ich glaube, dass du nur noch nicht den richtigen...
Ute, röchelte ich.
Ich bin ein Tollpatsch, sagte Ute. Entschuldige. Ich bin heute unmöglich. Wie kann ich es wiedergutmachen?
Gar nicht. Ich begann zu weinen. Mir war ja klar, dass ich nie hoffen durfte, Ute würde jemals meine Gefühle erwidern. Sie gehört zu den dreißig Prozent Frauen, die nur auf die Art zu ihrem Höhepunkt kommen, der siebzig Prozent der Frauen wenig oder gar nichts abgewinnen können. Wir Frauen haben ja die Wahl und vielfaches Vergnügen, würde ich sogar behaupten. Über meinen gestrigen Besuch schwieg ich mich aus, ließ nur verlauten, dass ich, was ich gesucht, nicht im entferntesten gefunden hätte.
Zwei Wochen vergingen, in denen ich mich abends an Julias Arien und Liedern ergötzte, nun Kopfhörer übergestülpt, mit Rücksicht auf meinen andersorientierten Nachbarn und vor allem seine nervenzerrüttete, schreiwütige Frau. Ade! Ade! Ja Scheiden und Meiden tut weh, tut weh! Julias Bild hatte sich mir so eingeprägt, dass ich die Plattencover nicht benötigte. Ich sah, wie sie sich bewegte, ihre Hände, ihr Gesicht. Ich schwelgte in Klängen und Vorstellungen aus der Lieder- und Opernwelt und wartete darauf, dass meine Tränen vor Glück und Schmerz flossen, was sich - zugegeben - nicht immer einstellte.
Aber dann wurde ich heil wie nach Erlebnissen, die in ferner Erinnerung lagen. Ich dachte, Erfüllung meines Lebens könnte sein, Julia einmal auf der Bühne zu sehen. So ungefähr: Julia sehen und dann sterben...
Unschuldig träumte ich dahin, als es eines Sonntagabends klingelte. Ute war gerade gegangen. Die Sprechanlage gab ein schnarrendes Geräusch von sich. Bromelia!, sagte ich mir. Nun gut, sie ist ein Mensch, aufrecht und ohne Falsch. Soll sie mir Patiencen legen. Denke ich sie mir in ein Bernhardinerfell, wird mir ihre Gesellschaft vielleicht sogar angenehm.
Doch nicht Bromelia stand vor meiner Tür, sondern eine junge Frau, schmal, dunkelhäutig, zigeunerisch, kurze, sich krümmende Haare. Die braunen Augen groß, etwas heraustretend, die Nase leicht gebogen, der Mund schön geformt, der Kopf ein vollkommenes Oval. Ihr Mund verbreiterte sich ungeheuer und ließ makellose weiße Zähne sehen, so dass ich mich fragte, ob sie gekommen war, mich kurzerhand aufzufressen. Auf jeden Fall wollte sie weder Kleider für mich nähen noch mir Patiencen legen.
Entschuldigen Sie, sagte Olivia, ihre Aussprache stark artikuliert.
Ich winkte ab.
In der Wohnung begannen Olivias Augen zu funkeln. Sie liefen das Regal auf und ab. Schöne Bücher und was Sie alles noch haben!, sagte sie. Ich dachte an die zwei Bildbände von Violetta, wurde aber nicht rot.
Sie wundern sich über meinen Besuch, sagte Olivia.
Etwas, erwiderte ich nicht wahrheitsgemäß, denn ich vermutete Violettas uneigennützige Vermittlung und war ihr nun doch dankbar. Sie nahm mir die Arbeit des Suchens ab. Sie ließ mich finden.
Ich dankte ihr wieder leise. Ein Aberglaube aus meiner Kindheit, der besagt, dass mir Gutes weggenommen werden könne, wenn ich mich nicht als dankbar erweise, hieß mich dies tun.
Sie kennen eine... Sie nannte Violettas bürgerlichen Namen.
Ich hatte richtig vermutet. Durch sie weiß ich Ihre Adresse.
Wie gut sind Sie mit ihr bekannt?, fragte ich ein wenig hinterhältig.
Wie man sich eben so kennt.
Sie haben mit der bildenden Kunst zu tun, sagte Olivia. Das interessiert mich. Sie sind Kunstwissenschaftlerin. Und ich trage mich mit dem Gedanken, einen Kurs an der Weißenseer Kunsthochschule zu belegen. Akt zum Beispiel. Das Studium der menschlichen Anatomie ist eine unentbehrliche Voraussetzung, es ist das Handwerk des Künstlers.
Gewiss, sagte ich geduldig.
Sie sah mich dringlich an, und ich beschloss, mich nicht zu widersetzen. Ich hatte mir ein Versprechen gegeben. Und dies war die Chance, es einzulösen. Olivia entnahm ihrer schwarzen Tasche eine Flasche Rotwein, redete auf mich ein, mit großen Augen und bewegtem Gesicht, lächelte hin und wieder burschenhaft charmant im Bewusstsein der tadellosen weißen Zähne. Meine rechte Hand verschwand in der Olivias. Ich sah es, unternahm aber nichts dagegen. Der Rotwein hatte mich ein wenig müde gemacht. Ihre Augen näherten sich den meinen. Sie sah mich starr an, ohne einmal zu blinzeln. Und mir schien, es ging eine Art Kräftemessen vonstatten, wer es länger ohne zu blinzeln aushalten könne. Während ich mich kräftig bemühte, meine Augen offenzuhalten, bohrten sich ihre tief in meine Seele. Es schwindelte mir. Ja, sagte ich, ja, ja. Sagte es leise für mich hin. Olivia beugte sich zu mir herüber, ergriff schnell die Rotweinflasche, ehe sich der Rest Wein auf und davon machen konnte, trank ihn und küsste mich nieder, als handelte es sich auch da um eine sportliche Leistung. Mit schnellen Händen entledigte sie mich und sich aller Kleidung und machte sich auf, mir zu zeigen, zu welchen Taten sie in einem fort imstande sei. Ich wusste mich meiner Lust nicht zu erwehren. Wie ein im Meer lebender Säuger tauchte bisweilen ihr Kopf auf, nach Luft schnappend, tauchte wieder ab, so dass ich nur ihren schwarzen, kurzlockigen Haarschopf zwischen meinen Beinen sah. Sie gab nicht nach, bis ich um Gnade flehte. So gut hat es dir noch keine gemacht?, sagte sie. Ich dachte an Amanda und ihre herrischen, mit langen Fingernägeln bewehrten Hände. Nein, antwortete ich und meinte, nun sei es an mir, auch an ihr Gutes zu vollbringen. Ich hatte nicht die geringste Erfahrung. Wie gesagt, Amanda hatte nie geduldet, dass ich mich ihr näherte. Aber ich wollte mich kühn hineinstürzen wie in eine wilde Flut, es würde mich schon irgendwohin tragen.
Sie entzog sich mir, wie ich dies nun schon einmal erlebt hatte. Besser eine sehr tatkräftige Gefährtin als eine träge, sagte ich mir nach kurzem Erstaunen.
Der nächste Morgen sah mich im glücklichen siebenten Himmel sitzend. Olivia wanderte nackt durch die Wohnung, olivfarben ihre Haut, jungenhaft ihr Körper. Ihr kleiner Hintern entzückte mich mehr als alles andere. Sie hieß mich liegenzubleiben.
Es roch nach Kaffee, gebratener Wurst und Spiegelei. Ich hatte mächtigen Appetit, und es wurde auch Zeit, zur Arbeit zu gehen. Ich rief nach Olivia, konnte mir nicht denken, was sie abhielt zu servieren.
Sofort!, sagte sie. Und: gleich! Doch nichts geschah, so dass ich mich duschte und schließlich in der Kochnische nach ihr schaute. Ich fand Eier und Wurst in der Pfanne, die Herdplatte abgedreht, den Kaffee durchgelaufen. Träumerisch besah Olivia meinen kleinen Vorrat an Dosen, ausgewählte Gerichte für die schnelle Zubereitung am Sonntag geeignet, aus unseren Deli-Läden stammend, den Delikatessläden, in denen man zu der Zeit schon für viel Geld nicht subventionierte Waren kaufen konnte, die sonst in den Export gingen. Toll, sagte sie, nahm sich eine Champignonbüchse und fragte mich nach einer Zwiebel.
Olivia, wir können schon noch Champignons essen, meinetwegen heute Abend, sagte ich. Aber jetzt lass uns doch erst einmal sehen, ob wir nicht mit gebratenen Eiern satt werden. Außerdem wird es höchste Zeit, dass ich frühstücke. Sie folgte mir, denn ich war die bei Weitem Ältere. Aber als ich vom Tisch aufstand, um meine Jacke und Tasche zu nehmen, begann sie mich zu kosen, dass es eine Art hatte. Jedes Mal, wenn ich sie von mir entfernen konnte, sagte sie: Noch nicht, noch nicht! Endlich schaute ich auf die Uhr.
Wie soll ich mein Zuspätkommen erklären?, fragte ich.
Du fühlst dich nicht, antwortete sie und lachte lausbubenhaft. Das schien der beste Rat. Ich ging zur Telefonzelle, bekam Ute an den Apparat, krächzte leise.
Nanu?, sagte Ute, du warst gestern noch ganz in Ordnung!
Ich kann es mir auch nicht erklären, beteuerte ich. Ich nehme einen Urlaubstag. Morgen ist alles vergessen.
Leg dich ins Bett und kuriere dich. Ich komm heute Abend vorbei!
Nein, liebe Ute. Es ist nichts. Sehr schwer war Ute davon abzubringen, sich Sorgen um mich zu machen.
An diesem Tag schwelgte Olivia in kulinarischen Genüssen, die sie den vorhandenen Büchsen entnahm. Sie war hungrig wie ein junger Wolf und verrichtete Liebesdienste noch und noch an mir, so dass mir bange wurde, ob meine Kräfte auf Dauer zulangten.
Und nach jeder kalorienzehrenden Mahlzeit stärkte sie sich mit einer kalorienhaltigen, während ich von Stunde zu Stunde schwächer wurde und es mich nicht mehr nach Cremesuppen und Ragout fin gelüstete. Das ist die Glut der ersten Liebe, sagte ich mir zum Trost. Vor der nächsten gemeinsamen Nacht ängstigte es mich. Wir können uns gern noch einmal in dieser Woche verabreden!, sagte ich. Aber für heute geh.
Zornig konnte Olivia werden! Ihre großen Augen sprühten Blitze, aus ihrem Mund schlängelten sich sechs gespaltene Schlangenzungen. Und du sagst, du hast mich gern!, sagte sie.
Oh ja, und sehr und wie sehr!
Von Liebe wollen wir nicht reden. Keine großen Worte bitte!
Ich hatte von Liebe auch nicht reden wollen. Der Ratschlag Olivias gefiel mir wohl. Doch sie sagte das eine und meinte das andere. Es kostete mich eine Stunde, ihr begreiflich zu machen, dass es mir an Wertschätzung nicht mangele, wenn ich sie für heute bitten würde, nach Hause zu gehen. Ich bin es nicht gewohnt, auf diese Weise gefordert zu werden, sagte ich. Es geht mir nicht gut! Ich begann - wahrscheinlich vor Erschöpfung - zu weinen, was mein Glück war.
Ach du Arme, sagte sie. Ich habe gedacht, du kannst nicht genug bekommen.
Ich habe genug, wirklich schon lange, erklärte ich. Aber wenn du damit anfängst, so kann ich nicht widerstehen.
So ist das. Ich habe dich richtig fertiggemacht. Sie lachte befriedigt und sehr übermütig, als hätte sie genau dieses Ziel verfolgt.
Du sagst es.
Dann geh ich jetzt. Aber denk nicht, du bist mich los.
Das will ich doch überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, Olivia.
Und du hast mich gern?
Überaus!
Olivia lächelte wie Amor, der - nach tückischem Setzen seiner Pfeile - seine Opfer sich in Liebe winden sieht. Sie ging davon, frisch wie am Abend zuvor, knabenhaft ihr Körper, olivfarben ihre Haut. In der Nacht träumte ich mich von einem wirren Traum in den anderen. Dennoch war ich ausgeschlafen am nächsten Morgen. Wie hübsch die Welt aussah! Ich hatte nun eine Freundin. Ganz unvermutet war die Einzige aufgetaucht: kaum dreißig, gut anzusehen, aktiv und mit einem gewissen Ehrgeiz. Hatte sie nicht davon gesprochen, einen Kurs an der Weißenseer Kunsthochschule zu belegen?
Dir geht es sehr gut, sagte Ute, als sie meine gute Laune bemerkte.
Ja!, erwiderte ich und dachte nicht daran, mich für meine gestrige Abwesenheit im Betrieb zu entschuldigen.
Ute beachtete mich nicht weiter, wie immer, wenn das Warten auf den Anruf ihres Freundes dringlich geworden war. Die Arme! Was plagte sie sich mit einem Geliebten, der sie nicht ganz und gar, sondern nur für Stunden haben wollte. Und sie wusste vorher nie, in welcher Stunde, wodurch das Warten noch unerträglicher wurde.
Am Abend begrüßte mich Olivia mit einem Blumenstrauß.
Nicht doch!, sagte ich gerührt und ließ sie in meine Wohnung ein.
Das sind die kleinen Aufmerksamkeiten, erklärte mir Olivia. Hast du dich erholt?
Es geht mir wunderbar. Es könnte mir gar nicht besser gehen.
Oliva zeigte ihre herrlichen Zähne, ein Ergebnis der gediegenen Arbeit ihres früheren Chefs, der sich das Verhältnis mit Olivia hatte etwas kosten lassen, wie ich später erfuhr. Olivia hielt etwas vom gegenseitigen Geben und Nehmen.
Olivia stärkte sich. Ich war darauf eingestellt und hatte meine Freude an ihrem Appetit. Was isst du sonst eigentlich?, fragte ich, mütterlich besorgt. Denn schließlich hatte mich das Wohl meiner Einzigen zu interessieren.
Wie's kommt, sagte sie.
Am nächsten Morgen war ich bei Weitem nicht so ausgeschlafen wie am vergangenen, das heißt, überhaupt nicht. Mit Müh und Not entfernte ich mich aus den Armen Olivias. Die wollte vom Aufstehen nichts wissen, weder von meinem noch ihrem. Ich bereitete das Frühstück, erfreute mich des Anblicks ihres unbekleideten Körpers. Sie trug am liebsten nichts, was ja am sparsamsten und bequemsten ist. Olivia also zeigte sich als echtes Naturkind. Und ich freute mich an ihr, soweit es meine Müdigkeit noch zuließ. Musst du nicht auch zur Arbeit?, fragte ich.
Hab Urlaub, erklärte sie.