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Titel Psalm 120: Aufbruch aus dem Land der Lügen

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Ein Aufstiegsgesang

1 Zu Jahwe rief ich in meiner Not

und er antwortete mir!

2 Jahwe, rette doch meine Seele

von der Lügenlippe, der Trugzunge

3 Was wird er dir geben

und was noch hinzufügen,

Trugzunge?

4 Spitze Kriegerpfeile

samt glühenden Ginsterkohlen!

5 Weh mir! Ich lebte in Meschech,

wohnte bei Kedars Zelten.

6 Lange wohnte sie, meine Seele,

beim Friedenshasser

7 Ich bin ein Friedensmensch, doch wenn ich

rede, sind sie für Krieg.

„Ich rief zu Jahwe in meiner Not und er antwortete mir!“ Da berichtet jemand von einem Schrei um Hilfe und dessen Erhörung. Begeistert. Dankbar. Fast ein wenig erstaunt: „Ich rief zu Jahwe, dem Schöpfer von Himmel und Erde, und wahrhaftig - er antwortete mir!“

Nach dieser Ankündigung erwarte ich eine dramatische Erzählung von Lebensgefahr und Rettung in letzter Sekunde, vom spektakulären Eingreifen Gottes oder von wunderbarer Heilung. Stattdessen höre ich von Lug und Trug, sehe spitze Pfeile fliegen und Ginsterkohlen glühen. Dramatisch, ja, aber wo bleibt Gott?

In seiner Erinnerung scheint der Sänger zurückzustürzen in eine schreckliche Vergangenheit, in ein Leben unter feindseligen Menschen. Die Sätze sind kurz, atemlos, ein Aufschrei. Weh mir! Kennen wir seine konkrete Not? Er spricht von Lügenlippen, von Trugzungen. Er sieht sich von Menschen umgeben, die schlecht von ihm reden und seinen Ruf ruinieren. Wir denken an Mobbing, am Arbeitsplatz, in der Schule; an Hatespeech, Shitstorms und Fake News in den sozialen Medien. Auch im eigenen Herzen melden sich solche Stimmen: ‚Du bist nichts wert!‘ ‚Du machst alles falsch!‘ ‚Du bist zu dumm, zu ungebildet, zu dick, zu dünn, zu laut, zu leise!‘ Stimmen, die mich erniedrigen, die mir Lebensraum und Lebensrecht absprechen wollen. Wörtlich schreit der Psalmist zu Gott: „Rette meine Seele!“ Das Wort Nefesch, das traditionell mit ‚Seele‘ übersetzt wird, bezeichnet ursprünglich die Kehle, durch die lebensnotwendige Luft und Nahrung fließen. Wer atmet, ist ein lebendiges Wesen. Wer mir die Kehle abschnürt, nimmt mir das Leben. Dabei stammen alle diese vernichtenden Stimmen von Lügenzungen! So viel ist dem Sänger klar und er begreift, dass er in dieser feindlichen Umgebung keine Chance hat. Es ist, als wache er auf und sähe zum ersten Mal mit klarem Blick, wo er hier gelandet ist: In Meschech und Kedar!

Diese Namen bezeichnen zwei Völker aus der Umgebung des Psalmdichters. Meschech siedelte am nördlichen, Kedar am südlichen Rand des bekannten Kulturraums. Beide waren für ihre kriegerischen Feindseligkeiten bekannt. Sie werden dem Dichter zum Bild für seine Lage: Er ist gestrandet in einer Gesellschaft wilder, gewalttätiger Menschen, unendlich fern von dem Ort in der Mitte der zivilisierten Welt, an dem Gott selbst wohnt und wo sein Friede, sein Schalom, das Leben prägt. Hier aber, nahe am lebensfeindlichen Chaos der Gottesferne, herrschen Lüge statt Wahrheit, Betrug und Gewalt statt Solidarität und barmherziges Miteinander. Selbst wenn nicht jeder in seiner Umgebung ihm wirklich Übles will - in der Angst tiefer Not scheint es uns oft, als hätte sich alles gegen uns verschworen. Da können selbst wohlmeinende Ratschläge zu spitzen Pfeilen werden, wenn sie die Not mit vorschnellen Rezepten beseitigen wollen.

So stehen Meschech und Kedar für sämtliche Feinde des Lebens: den Terror des Stärkeren, in der Familie, in der Schule, im Job; die Angst vor den Bomben der Feinde oder dem Verrat der Spitzel in den eigenen Reihen. Auch Krankheiten, Unfälle oder Naturkatastrophen kommen als Feinde des Lebens daher. Wie die Feinde in diesem Psalm verdrehen sie die Wahrheit und schlagen schmerzende Wunden. Allein der unaussprechlichen Bedrohung in Bildern Ausdruck zu geben, kann die lähmende Angst aufbrechen, die uns in solchen Zeiten befällt. „Not“ heißt hier ursprünglich „Enge“, „Bedrängnis“: Es geht weder vor noch zurück, man ist den feindlichen Mächten hilflos ausgeliefert.

Wohin wenden Sie sich in Ihrer Not? Hoffentlich sind da liebe Mitmenschen - Familie, Freunde, Experten -, und in der Begegnung wird spürbar: Ich bin nicht mehr allein mit dem, was mich bedrängt und mir den Atem nimmt. Schon diese Erfahrung gibt neue Kraft, setzt in Bewegung, eröffnet ungeahnte Handlungsmöglichkeiten.

Doch nicht immer sind solche Menschen an unserer Seite. Manchmal ist niemand da, manchmal versteht man uns einfach nicht. Not macht einsam, heißt es. Auch der Psalmdichter scheint ganz allein inmitten von Menschen zu stehen, die nur auf Streit und Krieg, Rechthaberei und Abgrenzung aus sind.

Doch eine Adresse hat er noch: Jahwe. Auch wenn Gott mit seiner lebenspendenden Kraft unendlich weit entfernt scheint – der Verzweifelte gibt die Hoffnung nicht auf, dass Jahwe seinen Schrei auch aus der für ihn unüberwindlichen Ferne hört. Wer ist dieser Gott, zu dem der Psalmdichter ruft? Wahrscheinlich kannte er ihn ganz gut. Als Mitglied des Volkes Israel war er mit zahllosen Erzählungen und Liedern aufgewachsen, die bezeugen, wie das ganze Volk oder einzelne Glaubende in ihrer Not zu Gott riefen und er sie hörte und ihnen heraushalf. Am Anfang von Israels Geschichte steht die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten. Viele Psalmen bezeugen, wie Gott die Schreie des Betenden hört und ihn rettet. Jetzt hat unser Sänger dies in seiner eigenen Not erfahren und er fügt sein Zeugnis den vielen anderen vor ihm zu: Gott antwortet mir in meiner Not!

Wie lange hatte er versucht, sich mit seinen Gegnern gütlich zu einigen, doch sie hatten all seine Friedensbemühungen sabotiert! Jetzt findet er endlich Worte für das, was sie ihm antun, und er kann seine Augen nicht länger vor der grausamen Wahrheit verschließen: Wenn ich noch länger bleibe, komme ich um!

Wenn Gewalt oder Tod in ein Leben einbrechen, können wir das Geschehene in seiner ganzen Tragweite meist nur schrittweise wahrnehmen. Der Gefangene gibt die Hoffnung oft lange nicht auf, den Peiniger zum Einlenken bewegen zu können. Doch irgendwann lässt es sich nicht mehr verdrängen: So kann es nicht weitergehen. Ich muss hier raus!

Gleichzeitig begreift der Dichter, dass all die verletzenden Stimmen von Lügenzungen stammen! Jedes Wort, das Leben bedroht, ist ein Lügenwort! Wahre Worte fördern das Leben. Später wird Jesus Christus, der Sohn Gottes, bezeugen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Johannes 14,6) Wahrheit und Leben gehören zusammen. Die Lügenworte, die mich in der Gefangenschaft festnageln wollen, sind nicht die letzte Realität, denn die ist von Gottes Liebe, Treue und Wahrheit zu jedem einzelnen Menschen bestimmt. Gott hat für jeden von uns heilsames Leben im Sinn. So weit hat der Psalmbeter seine Lage verstanden. Die Lügenlippen und Trugzungen bringen ihn um, doch bei Gott ist Rettung.

Aus dieser Erkenntnis heraus kann er endlich die feindlichen Mächte konfrontieren. Mit solcher Rückendeckung wagt er sich abzugrenzen und schleudert ihnen seine Wut entgegen: So wie du mich mit deinen spitzen Pfeilen der Lüge und der schwelenden Glut der Verleumdung tödlich verletzt hast, so soll es auch dir geschehen! Dabei schwelgt er nicht in glühenden Rachephantasien, er hält den Gegnern lediglich einen Spiegel vor: „Mit mir nicht! Du solltest einmal am eignen Leib erleben, was du mir antust!“ So hat Gott selbst die Vergeltung mit dem Talionsprinzip begrenzt: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Zudem hat der Bedrängte nicht vor, die Rache in die eigene Hand zu nehmen. Er befiehlt sie Gott an, der für alle eintritt, die zu ihm um Hilfe schreien, und der dem Täter gerecht vergelten wird. So löst sich endlich die Angst, die ihm die Kehle abschnürt, und mit diesem wütenden Aufschrei befreit er sich aus dem Netz von Lüge und Verrat, in das ihn seine Gegner einspinnen wollen. Sein Blick weitet sich, jetzt begreift er den ganzen Ernst seiner Lage und muss entsetzt ausrufen: „Weh mir, dass ich schon so lange in dieser Lügenwelt lebe!“ Viel zu lange hat er unter der Herrschaft der Gewalt gelebt, hat sich vielleicht angepasst oder das ganze Ausmaß der Bosheit verdrängt, wollte die Hoffnung auf eine Versöhnung nicht aufgeben, doch jetzt ist Schluss! Er kann nicht länger bleiben, ohne existentiellen Schaden zu nehmen, ohne sein Leben, seine Integrität zu verlieren. Manchmal ist es an der Zeit zu gehen, um des nackten Überlebens willen.

Worin besteht nun die Antwort Gottes auf den Hilfeschrei des Dichters? Wie sieht die Erhörung aus, die er am Beginn seines Liedes so vollmundig bezeugt? Wir sehen kein spektakuläres Eingreifen Gottes, wir hören nicht einmal ein erlösendes Wort. Stattdessen kommt der Bedrängte selbst in Bewegung. Er erinnert sich an seine tiefste Überzeugung, die so lange unter den Lügenstimmen verschüttet war: „Mein Gott ist ein Gott, der mich sieht und mir antwortet!“ Jetzt weiß er wieder, dass Gott mit ihm und für ihn ist. Allein dieses Wissen gibt ihm die Kraft, die Lähmung zu überwinden, die bedrohliche Lage in ihrem ganzen Ausmaß wahrzunehmen und die Konsequenzen daraus zu ziehen: Er muss Aufbrechen. Er muss die Länder der Lügenlippen und Trugzungen hinter sich lassen und den weiten Weg wagen, zurück in die Mitte der Welt, in eine Gesellschaft der Ordnung und des Friedens, ins Land des Lebens. Er muss den unverbesserlichen Streithähnen den Rücken kehren und an den Ort zurückkehren, von dem er weiß, dass dort der Gott wohnt, zu dem er ruft in der Gewissheit, dass dieser ihn hört.

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