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1. KAPITEL

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Dass ich mit meinem Vater beginne und ihm beinahe ein ganzes Kapitel widme, während ich meine Mutter quasi „nebenbei“ erwähne, mag auf den ersten Blick nicht recht erscheinen, denn sie war eine warmherzige, lebenskluge Frau, die sicherlich ein gutes Stück dazu beigetragen hat, dass mein Vater seine beruflichen Ziele erreichen konnte; hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau, so sagt man doch, nicht wahr? Ebenso wenig richtig – und angesichts der Fülle seines Tuns und Wirkens nicht wirklich möglich - schien es mir, das Lebenswerk meines Vaters mit ein oder zwei Sätzen abzuhandeln.

Theodor Niebour, 1825er Jahrgang, war jemand, der schon sehr früh sehr genau wusste, was er wollte, jemand, der ein klares Ziel vor Augen hatte und alles daran setzte, es zu erreichen. Die Seefahrt faszinierte ihn, der Moment, wenn ein Segelschiff in See stach, der Bug des Schiffes sich stolz aus dem Wasser hob, während es sich zielstrebig seinen Weg aus dem sicheren Hafen hinaus aufs offene Meer bahnte. Und fragte sich, als das kindliche Staunen längst ehrlichem Respekt gewichen war, ein ums andere Mal, wie es gelingen konnte, ein solches Schiff auf Kurs zu halten und an sein Ziel zu bringen.

Inwieweit meine Großeltern die Begeisterung ihres Sohnes teilten, vermag ich nicht zu beurteilen; zumindest ließen sie ihn ziehen, als er, gerade mal 14-jährig, auf einem Segelschiff als Schiffsjunge anheuerte. Vermutlich spielte auch der Umstand eine Rolle, dass er sein eigenes Geld verdienen und ihnen nicht auf der Tasche liegen würde; gab es doch genügend hungrige Mäuler, die es zu stopfen galt.

Trotz der harten Arbeit auf den Segelschiffen wurde er es nicht müde, sich selbst weiterzubilden. Er lernte, wie man den Ort eines Schiffes bestimmte und dessen Geschwindigkeit und Kurs berechnete, wusste bald, wie er es anstellen musste, eine Schiffsroute anhand nicht nur geographischer, sondern auch meteorologischer Gegebenheiten festzulegen. Sein Eifer und sein Fleiß wurden belohnt: Mit nur 19 Jahren lehrte mein Vater bereits an der Marineschule in Kiel und gab sein Wissen weiter.

Bedingt durch seine Jugend kam es zu Beginn seiner Lehrtätigkeit vor, dass die Schüler älter waren als mein Vater; gab es doch Männer darunter, die nach jahrelanger Seefahrt erst jetzt ihr Examen als Steuermann oder Kapitän ablegten. Dennoch erwarb er, ein „Grünschnabel“, der er mit seinen 19 Jahren ja nun einmal war, sich deren Achtung und Zuneigung: Den Unterricht mit strenger Hand führend (nicht selten, dass den Schülern Begriffe wie „Dummköpfe“ und „Esel“ nur so um die Ohren flogen!), glich er seine Härte mit Menschlichkeit aus, in dem er manch Unbemitteltem Nachhilfestunden gab, der sein Pensum bis zum Examen allein nicht bewältigen konnte. Und er tat es, ohne etwas dafür zu berechnen.

Zudem verfügte er über eine ganz spezielle Art, mit den Späßen der jungen, übermütigen Menschen umzugehen, die nur kurze Zeit an Land waren und meinten, ihren Lehrer mit allerlei Schabernack herausfordern zu müssen. Dem mein Vater allerdings mit dem ihm eigenen Humor gewappnet war: So erzählte man sich, dass die Schüler einmal vor dem Unterricht an die Wandtafel „Thedje (Papas Spitzname) ist ein Esel“ geschrieben hatten. Alles grinste vor Erwartung, wie mein Vater reagieren würde.

Doch mein Vater kannte seine Pappenheimer: Die Klasse betretend, sah er sofort, dass wieder etwas ausgebrütet worden war! Gelassen schritt er auf die Tafel zu und ergänzte das Wort „Esel“ um den Zusatz „Treiber“. So hatte er den Spieß herumgedreht und den Spaß zu seinen Gunsten entschieden.

Ein anderes Mal hatten die Schüler einen Drehorgelmann vor die Fenster der Klasse bestellt. Mein Vater fixierte jeden Einzelnen, bis er schließlich zu dem, der am breitesten grinste, sagte: „Geben Sie dem Mann einen Schilling.“ Und damit hatte es sich für ihn!

Ein weiteres Mal, es war Winter, hatten sich die Schüler hinter der Ausgangstür versteckt und wollten meinem Vater einen Schneeball in den Nacken werfen. Er jedoch hatte das durch das Fenster gesehen. Rasch trat er aus der Tür, griff in den Schnee und rieb den Ersten, den er zu fassen bekam, tüchtig mit Schnee ein.

Irgendwann fand Theodor Niebour heraus, dass es neben der Seefahrt noch andere Dinge gab, an die es mit derselben Ambitioniertheit heranzugehen galt. Oberzollinspektor Marr nämlich führte in Holtenau nicht nur ein gastfreies Haus, in dem mein Vater oft und gern verkehrte; er hatte auch eine Tochter. Und eine hübsche noch dazu: Wilhelmine, meine Mutter.

Wenn mein Vater über sie sprach, vergaß er nie zu erwähnen, dass sie das schönste Mädchen am Ostseestrand gewesen sei.

Als es 1848 um die Herzogtümer Schleswig und Holstein zum Krieg gegen Dänemark kam, zog mein Vater unter v. d. Tann als Kriegsfreiwilliger mit. Nach Kriegsende trat er als Lehrer in die Navigationsschule in Hamburg ein, der er 50 Jahre, davon 35 Jahre als Direktor, angehören sollte. Im Oktober 1900 ernannte ihn die Universität Kiel zu seinem 25. Jubiläum zum Ehrendoktor, auch erhielt er viele Orden und Auszeichnungen.

Doch auch in seiner Freizeit ließen ihn die Gestirne nicht los. So stand er nachts, wenn wir Kinder längst schliefen, an seinem Fernrohr und beobachtete das Treiben der Sterne am Himmel. Bis er, wir schrieben das Jahr 1871, in einer klaren Sternennacht etwas entdeckte, was mit dem Saturn zu tun hatte. Ich erinnere nicht mehr, worum genau es dabei ging; aber ich weiß, dass es nicht so unbedeutend gewesen sein kann, denn seine Entdeckung war immerhin eine Erwähnung seines Namens in den Astronomischen Nachrichten wert.

Was er sich einst in jungen Jahren vorgenommen hatte, war also eingetreten: Er hatte es zu anerkannt hohem Wissen gebracht und sich einen Namen gemacht.

***

Am 6. September 1862 im Tierkreiszeichen der Jungfrau geboren, verlebte ich meine Kindheit und Jugendzeit in Bergedorf. Wir wohnten damals in der Sternwarte, deren zweites Gebäude die Hamburger Navigationsschule beherbergte, wo mein Vater ja arbeitete.

Wir Kinder waren zu viert: Meine Schwester Olga ist neun Jahre älter, mein Bruder Max neun Jahre jünger als ich; ich liege also so ziemlich genau in der Mitte. Und dann ist da noch Anna, unsere Pflegeschwester.

Eigentlich ist Anna ja unsere Cousine: Ihre Mutter, Tante Annette, ist eine Schwester unserer Mutter. Sie war, 33-jährig, bei Annas Geburt gestorben, ihr Mann, Annas Vater, acht Tage darauf. Meine Eltern nahmen die Kleine daraufhin zu sich, obwohl wir finanziell nicht gerade auf Rosen gebettet waren. Beide, weder mein Vater noch meine Mutter, ließen Anna jemals spüren, dass sie nicht deren leibliches Kind war. Vielmehr wurde sie wie eine eigene Tochter behandelt und erzogen. So sehe ich noch meine Mutter vor mir, wie sie die Kleine stundenlang mit sich herumtrug, wenn sie krank war (und Anna war oft krank!), ihr liebevoll über den weichen Kinderrücken strich oder sie sanft in ihren Armen schaukelte. Erst als sie konfirmiert wurde, erfuhr Anna, wer sie in Wahrheit war. Später heiratete sie den Kapitän Mahn, mit dem sie fünf Kinder hatte.

Mit uns Kindern war mein Vater sehr streng. Besonders Max, aus dem er etwas Besonderes machen wollte, hatte unter seiner Härte zu leiden. Dass mein Bruder in der Schule nicht recht mitkam, lag sicherlich nicht daran, dass er etwa zu dumm gewesen wäre – eher im Gegenteil, ich hielt ihn sogar für ziemlich intelligent. Aber er war ein stiller, schüchterner Junge, der immer ein bisschen länger als andere brauchte, um das Gehörte in seinem Kopf zu verarbeiten und den Lehrstoff so umzusetzen, damit er darin haften blieb. So hinkte er ständig hinter den anderen her, was sich natürlich in den Klassenarbeiten niederschlug.

Mein Vater zeigte wenig Verständnis für die langsame Denkart seines Sohnes und ließ ihn für schlechte Noten nach seiner eigenen Fasson büßen: Brachte Max nämlich ein schlechtes Zeugnis nach Hause, musste er in den Garten gehen und selbst den Stock schneiden, mit dem unser Vater ihn schlug. Und wehe!, der fiel zu dünn aus…!

Meine Mutter und ich litten unter diesem Verhalten meines Vaters. Und obwohl wir ihn verehrten, fürchteten wir ihn und seine unerbittliche Härte, die er Max gegenüber an den Tag legte. Sicherlich meinte er es auf seine Art gut, wünschte, dass aus ihm etwas Ordentliches wurde. Trotzdem hätte ich es für wünschenswert gefunden, wenn er sein Wohlmeinen auf andere Art und Weise zum Ausdruck gebracht hätte.

Gerechterweise muss bzw. kann ich sagen, dass Vater diese Härte im Alter verlor und das Verhältnis zu Max besser wurde. Max hatte derweil seinen Weg gemacht; immerhin leitete er in Spanien in Bilbao eine Vertretung von Siemens & Schuckert.

An meinen Großvater mütterlicherseits, Carl Christian Ludwig Marr, erinnere ich mich so gut wie gar nicht. Was ich von ihm weiß, beschränkt sich im Wesentlichen auf die Tatsache, dass er 20 Jahre älter war als meine Großmutter - als er sie heiratete, war sie 17! - , dass er mit ihr acht Kinder hatte und dass er vor ihr gestorben war.

An Großmutter Henriette Marr hingegen hege ich lebhafte Erinnerungen: Großmama, allgemein „Frau Justizrat“ genannt, war bei uns Kindern sehr beliebt. Sie hatte für mich immer etwas von einer Märchengroßmutter: Korpulent, wie sie war, konnte oder mochte sie sehr bald wenig gehen und saß daher nur in der Sofaecke, wo sie, eine weiße Spitzenhaube auf dem Kopf, das gütige runde Gesicht uns Kindern zugeneigt, die wir rings um sie herum auf der Lehne, auf ihrem Schoß und wo sonst noch Platz war, saßen, Märchen und Erinnerungen aus ihrer Jugend erzählte. Letztere waren das Schönste, wir konnten diese Geschichten gar nicht oft genug hören. Ich habe sie bis heute nicht vergessen.

Ebenso liebten wir die Geschwister unserer Mutter, sofern wir Kontakt mit ihnen unterhielten. Nicht allen war ein glückliches Leben beschieden. Wie Tante Annette zum Beispiel, die ich bereits erwähnte; sie war die leibliche Mutter meiner Pflegeschwester Anna. Eine andere hingegen hatte drei Kinder, von denen eines krank war. Innerhalb eines Jahres verlor sie ihren Mann und zwei ihrer Kinder. Woran sie starben, vermag ich nicht mehr zu erinnern; aber ich weiß noch, wie meine Mutter ihre Schwester oft bedauerte; es war sicherlich nicht einfach, die Verantwortung allein tragen zu müssen, die das Leben ihren Schultern in Gestalt der kranken Tochter aufgebürdet hatte.

So wenig ich mich an Großvater Marr erinnere, umso deutlicher sehe ich Großvater Niebour vor mir. Obschon nur ein kleiner Beamter, war Ludolf Niebour eine vornehme Erscheinung, ja, man könnte sagen, er sah aus wie ein englischer Lord. Allerdings besaß er einen altmodischen grauen Zylinderhut, den er mit Vorliebe anlässlich seiner täglichen Spaziergänge durch den französischen Garten Celles trug. (Meine Großeltern waren nach Großvaters Pensionierung von Hannover nach Celle übergesiedelt). Wir Enkelkinder fanden diesen Hut ganz schrecklich und beschlossen, diesem Übel ein für alle Mal ein Ende zu bereiten: Als wir einmal alle zu Besuch in Celle waren, holten meine Vettern, beide Studenten, den Hut am Abend ins Zimmer, legten ihn feierlich auf den Stuhl und mit Hallo nahmen wir alle Platz darauf!

Großvater ließ sich nicht beirren: Lächelnd sah er unserem Treiben zu, dann ging er hinaus, und – erschien mit einem noch viel schrecklicheren, niedrigen, breitrandigen schwarzen Zylinder. Da half nun nichts – wir mussten uns geschlagen geben.

So sehr mein Großvater auf sein elegantes Erscheinungsbild achtete, so wenig legte meine Großmutter Wert darauf: Julie Niebour war eine kleine, einfache Frau und eigentlich passte sie gar nicht zu unserem Großvater. Aber sie war herzensgut! Ich glaube, die beiden waren ganz glücklich miteinander.

Papa hatte sechs Geschwister, drei Brüder und drei Schwestern. Zwei der Brüder waren Kaufleute, wobei der eine, Onkel Wilhelm, nach Australien übersiedelte, der andere, Onkel Adolf, als Offizier in österreichischen Diensten stand. Zwei seiner Schwestern waren bildschön: Tante Mathilde hatte lange, bis zur Erde reichende schwarze Zöpfe und blaue Augen in einem edlen, fein geschnittenen Gesicht. Die andere, Tante Ida, war eine üppige Schönheit mit roten Haaren. Mit 18 Jahren wurde sie irrsinnig und lebte dann noch 50 Jahre im Irrenhaus. Papas dritte Schwester, Tante Alwine, war zwar nicht schön und sie war auch kein bisschen verrückt. Aber sie war sehr witzig und lustig und wir liebten sie daher sehr.

Das also waren meine nächsten Verwandten.

***

Olga war 19, als sie den Sohn des Professors Jessen in Dorpat heiratete. Er war Landwirt in Russland; dass er sich seine Frau aus Deutschland holte, war natürlich ein Ereignis, das Anlass zu allerlei Gerede gab: Wie konnte man seine Tochter nur einem „Russen“ geben…!

Die Hochzeit verlief, nun, ich würde mal sagen, etwas „speziell“: Auf Wunsch meines Schwagers, der nur schwer von seinem Gut abkömmlich war, hatte man die Trauung in die Zeit seines Aufenthaltes in Hamburg gelegt.

Also wurde der Pastor gebeten, die Gäste geladen. Zum Polterabend, der am Abend vor der Hochzeit stattfinden sollte, sei, so hieß es zu den Bekannten, jedermann willkommen, der kommen wolle.

Der Polterabend kam. Bis dato hatten wir von meinem Schwager nichts gehört; weder, dass er sein Kommen brieflich noch telegraphisch angekündigt hätte. Die Gäste erschienen, die Familien waren versammelt… Nur der Bräutigam glänzte durch Abwesenheit!

Entsetztes Gemurmel machte sich unter den Gästen breit: „Der Russe lässt sie sitzen!“

Wie Olga sich gefühlt haben muss, wage ich mir nicht vorzustellen. Auf jeden Fall bewahrte sie Haltung: Als der Abend vorangeschritten und ihr Bräutigam immer noch nicht gekommen war, bat sie Papa, den Platz ihres Verlobten einzunehmen. Die Aufführungen begannen, und alles amüsierte sich prächtig.

Erst am Tage darauf kam das Telegramm, das für Aufklärung sorgte: „Komme 8 Tage später, Papiere nicht erhalten.“

Später erzählte mein Schwager oft: “Ich bin beinahe nicht auf meiner eigenen Hochzeit gewesen.“

***

Obwohl Olga nach ihrer Hochzeit zu ihrem Mann nach Russland zog, blieben wir über die Jahre hinweg verbunden.

Eines Tages – ich war mittlerweile 21 Jahre alt - lud sie mich zu sich ein. Baron Waldow, ein Bekannter von ihr, sei gerade in Deutschland und würde mich mitnehmen.

Nur zu gern nahm ich Olgas Einladung an. Ich hatte keinerlei Verpflichtungen und freute mich darauf, die neue Heimat meiner Schwester kennenzulernen. Dass ich dort dem Menschen begegnen würde, der später mein Ehemann werden sollte, ahnte ich nicht.

Olga hatte in der Zwischenzeit drei Söhne zur Welt gebracht. Der älteste von ihnen, Max, war neun Jahre alt und sollte eine Schule in Dorpat besuchen, denn im Inneren Russlands, noch dazu auf dem Lande, war eine schulische Erziehung unmöglich. Nun hatte mein Schwager einen Neffen: Nicolai, genannt Colli. Er war der Sohn des Dr. Hartmann in Dorpat und hatte sich bereit erklärt, Max auf die Schule vorzubereiten. Colli selbst war Primaner, 17 Jahre alt, ein bildschöner Jüngling – und unglaublich schüchtern!

Doch bei aller Schüchternheit konnte er nicht verbergen, dass er in mich, die vier Jahre älter war als er, verliebt war. Ich fand das ausgesprochen schmeichelhaft und mochte ihn – mehr aber auch nicht.

Ich hatte fast ein Jahr bei meiner Schwester gewohnt, als mein Schwager seine Stellung verlor. Mit Sack und Pack zogen wir daraufhin nach Livland auf das Gut des Pastors Masing unweit Dorpat in Neuhausen. Wir wurden mit echt baltischer Gastfreundschaft aufgenommen. Und nicht nur das: Colli wohnte ja ganz in der Nähe von Neuhausen und kam oft vorbei, so dass wir uns häufig sahen. Aber auch jetzt vermochte er nicht mehr als freundschaftliche Gefühle in mir zu wecken: Der Altersunterschied war mir denn doch zu groß!

So fiel mir der Abschied von Colli auch nicht wirklich schwer, als ich irgendwann wieder nach Hause musste. Im Gegenteil, ich freute mich nach der langen Zeit auf die Eltern und die Heimat. So war mein Herz leicht, als ich die Heimreise antrat. Darüber, ob ich seines vielleicht gebrochen haben könnte, dachte ich nicht nach – die Frage stellte sich mir schlichtweg nicht.

Die nächsten Jahre verbrachte ich im Hause meiner Eltern. Noch immer war ich das „Fräulein Niebour“; es war mir bis dato niemand begegnet, dem ich mein Herz hätte schenken wollen. Musste ich mir Sorgen machen? Würde ich eines Tages diese Welt als sauertöpfische, alte Jungfer verlassen? Schaute ich in den Spiegel, sah ich das Gesicht einer deutlich jüngeren Frau vor mir, als sie es eigentlich war; dass ich 28 Jahre alt war, sah man mir nicht an. Wobei ich dazu sagen muss, dass mein Leben bislang ohne irgendwelche nennenswerte Ereignisse verlaufen war. Ich war gesund, lebte in einem gesicherten Umfeld und hatte keine persönlichen Schicksalsschläge von der Art einstecken müssen, die ein Gesicht mit Linien der Bitterkeit oder Trauer durchziehen. Woran also mochte es wohl liegen, dass ich immer noch allein war, während meine Freundinnen schon lange verheiratet und einen eigenen Hausstand zu versorgen hatten? Lag es an mir, war ich zu anspruchsvoll? Was wollte, was erwartete ich eigentlich??

Eines Tages erhielt ich einen Brief von Nicolai Hartmann aus Russland. Freudig öffnete ich den Umschlag und begann zu lesen.

Ganz offensichtlich hatte sich seit unserer letzten Begegnung so einiges in seinem Leben getan. Er habe, so schrieb er, in Dorpat studiert und als Volontär auf einem Gut gearbeitet. Abschließend wolle er nun noch in Leipzig ein Jahr Landwirtschaft studieren. Gern würde er die Gelegenheit nutzen wollen, mich auf der Hinreise zu besuchen.

Ich ertappte mich, wie ich in mich hineinlächelte. Sieh an, der Nicolai… Oder besser Colli, wie ihn alle nannten. Mein glühender Verehrer von damals. Zwar hatten wir über die Jahre zwar immer mal voneinander gehört, aber weder miteinander korrespondiert noch, dass wir einander gesehen hätten. Ich freute mich ehrlich, ihn wiederzusehen!

Und dann war er da. Um mich ziemlich aus meinem inneren Gleichgewicht zu bringen: Aus dem einst „bildschönen Jüngling“ war ein attraktiver, zielstrebiger junger Mann geworden, der - wie übrigens ja auch mein Vater - genau wusste, was er wollte. Längst hatte er die vier Jahre Altersunterschied zwischen uns aufgeholt, er war jemand, dem ich auf Augenhöhe begegnen konnte. Und das, was ich vor Jahren so rigoros von mir geschoben hatte, geschah: Ich verliebte mich in ihn.

Und er? Wunderbarerweise hegte er immer noch dieselben Gefühle für mich, nichts und niemand hatte offenbar etwas darin ändern können.

Es blieb nicht bei diesem einen Besuch. Colli kam, so oft es irgend ging, und wir verbrachten herrliche Stunden miteinander.

Bis er mich eines Tages bat, seine Frau zu werden. Endlich hatte auch ich mein Glück gefunden!

Doch ehe wir am 24. März 1893 den heiligen Bund der Ehe schlossen, galt es, eine der größten Katastrophen zu meistern, die die Hansestadt Hamburg jemals in ihrer Geschichte erlebt hatte.

***

Hätte Olga auch nur ansatzweise geahnt, dass Ereignisse sie erwarteten, die das Leben in Hamburg vorübergehend stilllegen sollten, hätte sie ihren Besuch bei uns in Hamburg im August 1892 mit Sicherheit auf einen anderen Zeitpunkt gelegt. So aber hatte sie sich, meine Neffen Juri, Otti und Hans im Gepäck, aufgemacht, uns zu besuchen. Da der zweijährige Hans schwerkrank war, begleitete eine russische Magd das Reisequartett.

Seit Tagen lag eine drückende Hitze über der Stadt. Per se weder ungewöhnlich noch besorgniserregend für den August, der sich Jahr um Jahr durch seine Trägheit nicht sonderlich beliebt macht. Wäre nicht plötzlich das Gerücht aufgetaucht, es seien Cholerafälle vorgekommen. Niemand glaubte ernsthaft daran; sicherlich gab es mehr Krankheitsfälle als üblich zu beklagen, aber das musste ja nun nicht gleich die Cholera bedeuten! Abgesehen davon wäre doch - wenn dem denn so war - sicherlich etwas bekannt gegeben worden...?

Aber jene Krankheitsfälle häuften sich in Windeseile: Gab es zunächst 300 Erkrankungen täglich, stieg die Zahl derer, die es erwischt hatte, rasch auf 600, schließlich sogar auf 700 pro Tag an!

Panik ergriff die Hansestadt. Die Krankenhäuser waren zum Bersten voll, in jedem Haus gab es mittlerweile mindestens eine Person, die krank war und an denselben Symptomen litt, für die die Cholera bekannt ist: Extremer Durchfall und starkes Erbrechen, offensichtlich hervorgerufen durch verunreinigtes Trinkwasser, wie es zu dem Zeitpunkt in Hamburg der Fall war. Hamburg besaß damals nämlich keine Filteranlage. Vielmehr wurde das Trinkwasser ungereinigt der Elbe entnommen. Wer rohes Obst aß oder Wasser aus der Leitung trank, erkrankte fast immer.

Die Seuche fragte nicht, ob sie willkommen war. Gnadenlos bahnte sie sich ihren kranken Weg und griff sich willkürlich die Menschen, die sie zu fassen bekam, fiel sie auf offener Straße an. Nicht selten sah man Leute, die, eben noch aufrechten Schrittes in der Stadt unterwegs, regelrecht in sich zusammensinken oder sich erbrechen. Familienväter, die morgens ins Geschäft gingen, trafen am Abend keinen ihrer Familie mehr an.

In einer uns bekannten Familie starben alle drei Kinder in einer Nacht!

Wir bewohnten damals mittlerweile die erste Etage des Hauses, in dessen unterem Stockwerk Bezirksbüro und Polizeiwache untergebracht waren. In der Regel wurden die Kranken von der Straße dorthin gebracht. Oft konnte ich nachts nicht schlafen; lag mein Zimmer doch just über dem zum Krankenzimmer umfunktionierten Raum, so dass ich das Stöhnen und die jammervollen Hilferufe der Kranken ebenso mit anhören musste wie das des Polizeiinspektors, dessen Wohnung im 2. Stock über uns lag und der ebenfalls an der Cholera erkrankt war.

Für die meisten kam jede Hilfe zu spät: Sie starben nur wenige Stunden nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus.

Endlich – wenn auch viel zu spät! - reagierte der Senat und setzte alle Hebel in Bewegung, um der Cholera Herr zu werden: Straßen und Häuser, alles, aber auch wirklich alles, wurde nun desinfiziert, so dass man nur noch Kreolin und Lysol einatmete. Nachts fuhren Lastwagen in langen Reihen mit den aufeinander geschichteten Leichen auf die Friedhöfe, wo sie mit Kalk begossen bis zur Beerdigung lagen.

Doch die Angst blieb, man spürte sie in jeder Ecke: Es wurde nur noch geflüstert, als fürchtete man, ein zu lautes Wort könne die Seuche erneut ausbrechen lassen. In der Elektrischen musterte man sich furchtsam, um dann schließlich doch weit voneinander abzurücken.

Auch an meiner Familie ging die Cholera nicht spurlos vorüber: Mein kleiner Neffe Hansi, ohnehin ein schwaches, kränkelndes Kind, das nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien und man am besten an ein Brett schnallte, damit es nicht umfiel, erkrankte daran, so dass Olga Hamburg vorerst nicht verlassen durfte, wie sie es ursprünglich beabsichtigt hatte. Meine Schwester selbst wurde, wie man es nannte, „choleraangstkrank“: Sie fühlte sich krank, ohne die Krankheit zu haben.

Dass Olgas russische Magd in ihrer Hysterie behauptete, wir wollten sie vergiften, machte die Situation nicht besser.

Die schmutzige Wäsche durfte nicht mehr aus dem Haus gegeben werden, so dass Mama und ich alle Arbeiten selbst verrichten mussten. Jeder Tropfen Wasser, auch für die große Wäsche, wurde vorher abgekocht, Butter und Brot wie überhaupt alle Speisen übergeröstet. In jedem Raum standen Gefäße mit Lysol, in das man nach jeder Berührung die Hände tauchte. So blieben wir Gott sei Dank gesund und auch Hansi genas.

Nach sieben angstvollen Wochen war das Schwerste überstanden. Erleichtert atmeten wir auf – das Leben hatte uns wieder.

Zwischen Steppenwind und Rotem Asphalt

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