Читать книгу Zwischen Steppenwind und Rotem Asphalt - Beate Werst - Страница 5
2. KAPITEL
ОглавлениеMit meiner Heirat begann für mich ein völlig neuer Lebensabschnitt. Mein Mann hatte zu dem Zeitpunkt einen Posten als Gutsverwalter bei seinem Onkel Gustav Hartmann inne, der wiederum die Güter des Grafen Keller im Pensaschen Gouvernement verwaltete. Darüber, dass ich ihm dorthin folgen würde, gab es keine zwei Meinungen. Und so holte Colli mich zu sich ins russische Reich, das mir eine liebe Heimat wurde.
Auf dem Gut Burtas wurde am 14. April 1894 mein ältester Sohn Kurt geboren. Es war eine sehr schwere Geburt, und ich war froh, meine Mutter bei mir zu haben. Meine arme, tapfere Mutter… Mit ihren 67 Jahren hatte sie die Strapazen dieser langen Reise durch ein Land, das sie nicht kannte und dessen Sprache sie nicht beherrschte, auf sich genommen, um ihrer Tochter beizustehen. Rückblickend kann ich wohl sagen, dass diese Reise ein Nagel zu ihrem Sarg gewesen ist.
Später ist sie nur noch ein einziges Mal gekommen. Sie starb am 13. August 1901.
Als wir ein Jahr hier in Burtas verbracht hatten, bot Graf Orlow - Dawydow Colli die Stelle eines Verwalters auf dem Gut Rjäsanowo-Goroditsche im Gouvernement Samara an. Der Graf besaß 24 Güter, allein fünf davon an der Wolga. Sie waren riesig: Gut Rjäsanowo-Goroditsche umfasste 24.000 Dassjatinen, also ca. 96.000 Morgen, das Gut Ussolje 50.000 D. (200.000 Morgen),Gut Jigoly 25.000 D. (100.000 Morgen), die zwei kleineren kamen jeweils auf 15.000 D. (jeweils ca. 60.000 Morgen), insgesamt also 516.000 Morgen.
Die Reise dorthin war mein erstes größeres Erlebnis. Sage und schreibe zwei Tage und zwei Nächte waren wir mit der Eisenbahn, dem Dampfschiff und dem Wagen unterwegs. Unser Gepäck hatten wir vorausgeschickt. Möbel mussten wir Gott sei Dank nicht transportieren, da man in Russland auf den Gütern vollständig eingerichtete Wohnungen zur Verfügung gestellt bekam. Auch alles Übrige, was zu einem Haushalt dazugehört, wie Bett- und Tischwäsche, Geschirr usw. würden wir dort vorfinden.
Die russischen Eisenbahnwagen waren – zumindest zu jener Zeit - viel breiter als die deutschen und daher sehr komfortabel. Die Rücklehnen der Sitzplätze ließen sich aufklappen, so dass man sich bequem ein Nachtlager aufschlagen konnte.
Wir hatten unser Abteil mit einer Decke verhangen, so dass wir ganz für uns waren. Auch um unser leibliches Wohl brauchten wir uns nicht zu sorgen, denn wir hatten genügend Proviant dabei. Was nicht unbedingt nötig gewesen wäre, denn man konnte an jeder Station außer kochendem Wasser für den mitgebrachten Teetopf auch warmes Essen bekommen. Eine für mich ganz neue, angenehme Art zu reisen!
In Samara, wo wir das Dampfschiff erreichen sollten, das uns nach Sysran, der Endstation, bringen würde, begaben wir uns zur Landungsbrücke, um rechtzeitig am Ufer zu sein. Das hätten wir besser nicht getan: Milliarden von kleinen Stechfliegen (Moschki) fielen nämlich auf der Brücke über uns her, bedeckten unsere Gesichter und jeden freien Teil des Körpers wie mit einem Schleier, den wir unausgesetzt fortwischen mussten. Es war kaum zu ertragen. Und ich begriff, warum alle Hafenarbeiter dichte Netze über den Kopf und Rücken gezogen hatten, auf denen sie ihre schweren Lasten trugen.
Endlich kam der Dampfer, der uns weiter nach Sysran bringen sollte, wo uns die Wagen mit dem Gepäck erwarteten. Nach einer stundenlangen Fahrt langten wir spätabends in Rjäsanowo-Goroditsche an.
Todmüde wollten wir uns schlafen legen, aber o Schreck, die Betten wimmelten nur so von Wanzen! Es waren die ersten, die ich in meinem Leben sah! Zum Glück hatten wir unser eigenes Bettzeug mitgenommen, das wir kurzerhand auf der Diele im Saal ausbreiteten. So verbrachten wir die erste Nacht in Rjäsanowo-Goroditsche.
Am anderen Morgen ließ ich alles, was an Möbeln vorhanden war, auf den Hof bringen und mit kochendem Wasser ausgießen. Sehr zum Gespött des Dieners, der uns zur Verfügung gestellt worden war: Wanzen hätte doch jede Wohnung, und überhaupt, so meinte er, mich belehren zu müssen, gelte eine Wanze als russisches Haustier…!
Ich entließ ihn - und wurde auch bald Herr dieser lieblichen Tierchen.
Colli ging völlig auf in den an ihn gestellten Aufgaben. Für ihn war es die erste selbständige Anstellung auf einem großen Gut, die er als 28 jähriger junger Mann antrat und glänzend durchführte. Er richtete eine neue Buchführung ein und leitete die Feld-, Wald- und Schafwirtschaft, die über 25.000 Schafe umfasste. Schon sehr bald brachte das Gut gute Erträge.
Hier auf diesem Gut wurde schließlich unser zweiter Sohn Rolf am 5. November 1896 geboren.
***
Eigentlich hätte ich glücklich und zufrieden sein müssen; hatte ich doch einen Mann, der mich liebte, und zwei Kinder, die ich mir gewünscht hatte. Doch die Abgeschiedenheit, in der wir hier lebten, machte mir zu schaffen. Weit und breit kein Baum, kein Strauch, nur Steppe ringsum. Mir fehlten die Gespräche und Kontakte, an die ich gewöhnt war. Die Kinder waren noch zu klein und Colli hatte keine Zeit für mich - schließlich hatte er genug mit der Bewirtschaftung zu tun - und die nächsten Nachbarn, mit denen ich mich hätte austauschen können, wohnten fast eine Tagesreise zu Wagen entfernt. So wanderte ich tagsüber, wenn die Kinder schliefen, einsam und allein durch das hohe Steppengras oder den tiefen Schnee.
Auch mit der Führung des Hausstandes tat ich mich schwer, da ich die russische Sprache immer noch nicht beherrschte und Probleme hatte, mit den Dienstboten fertig zu werden.
Colli blieb nicht verborgen, wie sehr ich unter der Einsamkeit litt, und so bewarb er sich nach 2-jährigem Aufenthalt in Samara dort um einen anderen Posten, den er auch auf einem anderen Gute des Grafen Orlow-Davydow im Gouvernement Orel erhielt.
Dann kam der Tag, an dem es Abschied nehmen hieß von Rjäsanowo-Goroditsche. Da wir uns mitten im Winter befanden, würde Colli uns per Schlitten nach Sysran bringen; er selbst hatte noch die Gutsübergabe an seinen Nachfolger zu vollziehen und fuhr dann wieder zurück. Von Sysran aus ging es dann mit dem Dampfer nach Samara weiter, von wo wir unsere Reise nach Riga per Eisenbahn fortsetzen wollten. Gern wollte ich die Gelegenheit nutzen und einen Abstecher nach Hamburg machen, um meine Heimat und Familie wiederzusehen. Hier würde Colli dann zu uns stoßen und uns auf das neue Gut bringen.
Wir, das waren Colli und ich, Doktorin Hartmann (meine Schwiegermutter), die gerade bei uns zu Gast war, und das Kindermädchen; da sie zum Gut gehörte, begleitete sie uns ebenfalls nur bis Sysran, um Rolf und Kurt zu betreuen, die ja noch sehr klein waren. Sie würde mit Colli dann wieder zum Gut zurückfahren.
Auf den russischen Gütern ist es Sitte, dass man kurz, bevor man abreist, noch einmal mit den Angestellten zusammenkommt. Man sitzt beieinander, erzählt und übermittelt seine guten Wünsche für die Zukunft.
Nachdem auch wir noch einmal im Kreis unserer Leute Platz genommen hatten, nahmen wir herzlich Abschied voneinander. So manche Träne wurde vergossen; Colli war sehr beliebt, und einige wären wohl am liebsten mit uns gezogen.
Bis dann schließlich der Augenblick der Abreise gekommen war und wir in die bereit gehaltenen Schlitten kletterten.
Angeführt wurde unser Tross von einem sogenannten Wasok, einem wahren Martergefährt, denn es ist eine geschlossene von Pferden gezogene Equipage auf Schlittenkufen mit nur ganz kleinen Fensterchen. Hierin nahm meine Schwiegermutter mit Kurt und Rolf Platz. Ich selbst vertrage das Fahren in einem geschlossenen Wagen nicht, so dass ich einen offenen Schlitten vorzog. Den teilte ich mit dem Kindermädchen, das dieselbe Abneigung empfand wie ich; auch ihr war im Wasok schlecht geworden. Colli fuhr im dritten Schlitten, der vierte schließlich trug das Gepäck.
Die Wege im Winter sind nur schmalspurig ausgefahren, hin und wieder mit an Stöcken befestigten Reisigbündeln begrenzt, um nicht vom Weg abzukommen in dieser endlos scheinenden Steppe, die einem keinerlei Anhaltspunkt bietet, an dem man sich hätte orientieren können; einen Baum vielleicht oder sogar ein Haus.
Mittlerweile war es dunkel geworden. Zu allem Überfluss hatte es angefangen zu schneien: Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel herab und begruben den Weg unter sich.
So fuhren wir drei, vier, mithin sechs Stunden, als der erste Kutscher plötzlich erklärte, er habe den Weg verloren. Colli stieg aus und nach langem Suchen fand man schließlich die richtige Spur.
Es ging weiter, bis wir auf das nächste Hindernis stießen: Ein schmaler Pass, an dessen linker Seite ein tiefer Abhang gähnte, während auf der rechten Seite eine steile Wand in den Himmel ragte, die jegliche Möglichkeit des Ausscherens verbot. Wieder musste mein armer Mann aussteigen und mit der Hand die Schlitten stützen, damit sie nicht in den Abhang rollten, und uns so über die gefährdete Stelle bringen.
Und weiter ging es, Stunde um Stunde, unter katastrophalen Bedingungen. Irgendwann gelangten wir endlich zu der Hütte an der Wolga, die zum Anlegeplatz unseres Dampfers gehörte, das uns von Sysran nach Samara bringen sollte. Erleichtert atmeten wir auf: Die Pferde mussten dringend versorgt werden. Sie waren völlig erschöpft, eines blutete sogar aus Mund und Nase. Als wir aber anfragten, wann das Schiff führe, hieß es, das letzte vor dem Winter sei schon fort, vielleicht käme morgen noch mal eins …
Was nun? Wieder zurück? Ausgeschlossen! Also in der Hütte warten!
Es war mittlerweile tiefe Nacht geworden. Wir gingen in die Hütte und machten es uns so bequem wie möglich. Die Kinder wurden auf die Pelze auf dem Tisch zum Schlafen gelegt, wir Erwachsenen nahmen mit den Stühlen vorlieb. Zwar hatte uns die freundliche Bauersfrau angeboten, ihr Bett zu benutzen, aber das war uns dann doch nicht recht geheuer.
Die Nacht schien mir endlos. Doch irgendwann war sie vorüber, und der neue Morgen brach an. Erleichtert atmeten wir auf – um uns weiterhin in Geduld zu üben.
Allmählich füllte sich die Hütte mit Menschen. Betrunkene, Bauern, Kinder, die ebenfalls alle mit dem Dampfer fahren wollten. Es war erstickend heiß, die Luft rasch verbraucht. Es war fürchterlich!
Endlich, gegen Mittag, kam der Dampfer.
Colli verfrachtete uns samt unserem Gepäck, darunter zwei für Riga bestimmte Riesenkästen, auf das Schiff. Dann trennten wir uns. Wohl war mir nicht dabei: Musste mein Mann diese schreckliche Strecke doch noch einmal zurück fahren. Aber es ließ sich leider nicht ändern und mir blieb nur, mich damit zu trösten, dass er uns dann später nachkommen würde.
Nach wiederum einer halben Tagesreise kamen wir endlich gegen 10 Uhr abends in Samara an. Mutter ging als erste an Land, um das Gepäck in Empfang zu nehmen. Ich wollte gerade mit den Kindern folgen - da, o Schreck!, setzte sich der Dampfer plötzlich wieder in Bewegung!
Noch heute wird mir ganz übel, wenn ich daran denke: Ich mit den Kindern an Bord, meine Schwiegermutter am Steg in Samara!
Man beruhigte mich: Der Dampfer nähme nur Kohlen auf und käme hierher zurück.
Gegen 1 Uhr nachts langten wir glücklich wieder in Samara an. Alles um uns herum war leer, öde und dunkel. Nur eine Gestalt am Steg hielt einsam die Wacht - meine Schwiegermutter.
Fahrzeuge waren nicht mehr zu bekommen, die unser Gepäck transportiert hätten. Also ließen wir es einfach auf der Landungsbrücke liegen und suchten uns ein Hotel, das sich zum Glück bald fand.
Da ich nur wenig russisch sprach, übernahm es meine Schwiegermutter am anderen Morgen, das Gepäck zur Bahn zu befördern. Um 5 Uhr in der Frühe ging sie zum Hafen, während ich mich mit den Kindern zur Bahn aufmachte und die Fahrkarten bis Riga löste. Dann wartete ich auf meine Schwiegermutter.
In Russland wird vor Abfahrt eines Zuges 3 Mal geläutet. Die erste Glocke erklang - Mutter nicht da. Auch die zweite Glocke brachte sie nicht herbei. Ich stand da wie auf glühenden Kohlen; wusste ich doch, jeden Augenblick würde die dritte Glocke läuten, bei der der Zug sich in Bewegung setzt …!
Und dann, endlich!, sah ich sie: Atemlos, mit wehenden Rockschößen, stürzte sie auf mich zu. Der Gepäckbahnhof sei ziemlich weit entfernt gewesen …
Noch stand der Zug; hatten doch noch viele Passagiere in den des ausgefallenen Dampfers wegen völlig überfüllten Waggons keinen Platz ergattern können.
Jetzt wurde ich energisch: Ich verlangte den Inspektor zu sprechen und forderte, dass man einen Wagen an den Zug hängte, was dann geschah und endlich!, endlich ging die Reise vorwärts.
In Deutschland hätte man auf meinen Wunsch hin wohl kaum einen Waggon angehängt, aber in Russland konnte man als Dame der Gesellschaft schon etwas verlangen!
Nach drei Tagen und Nächten Fahrt erreichten wir Riga, wo wir uns in einem Hotel Zimmer nahmen. Genießen konnte ich unseren Aufenthalt allerdings nicht, denn Rolf hatte sich eine Lungenentzündung geholt. Er war sehr empfindlich, was seine Lunge anging, besonders, wenn er krank gewesen war; eine Schwäche, die ihn zeit seines Lebens begleiten sollte.
Als er gesundete, fuhren wir nun endlich nach Hamburg weiter, wo uns Colli dann abholte und auf das neue Gut im Orelschen Gouvernement brachte.
Goroditsche Glodniewo war ein schöner, riesiger Besitz mit großen Waldungen, tadellosem Weizenboden und einer Spiritusfabrik. Allein die war schon ziemlich ertragreich: 10 Millionen Liter Schnaps wurden hier jedes Jahr aus Kartoffeln gebrannt.
Das Gut selbst verfügte insgesamt über rund 200 Ochsen und gut 220 Pferde; zum größten Teil Arbeitspferde. Bei dem Rest handelte es sich um Rassepferde, die zum Reiten oder zum Anspannen genutzt wurden: Colli musste oft lange Fahrten auf die umliegenden Höfe unternehmen und nicht selten brauchte er 1 – 2 Mal frischen Vorspann der Troika. Das bedeutete für jede Fahrt sechs bis neun Pferde!
Das Personal bestand zum einen aus Bauern aus den umliegenden Dörfern, die als Tagelöhner bei uns arbeiteten, zum anderen aus Leuten, die dem Kontor vorstanden. Auch hier gab es Arbeit genug; wurde doch mit doppelter Buchführung gearbeitet, so dass der Buchhalter und die vier Schreiber allemal ausgelastet waren. Darüber hinaus gab es einen Kassierer und einen Beamten, einem sogenannten “Schließer“, der Lebensmittel und Materialien unter sich hatte; des Weiteren Mechaniker und Handwerker, die in den Werkstätten Maschinen und Geräte reparierten. Die Brennerei wurde von einem Deutschen geführt, der mit seiner Mutter zusammenlebte. Das gesamte Gut bildete sozusagen ein ganzes Dorf von Wohnhäusern um den Gutshof herum, dem noch ein großer Garten sowie ein Gemüse- und Obstgarten mit Gärtner und Gehilfen beigestellt war.
Colli war ein eifriger Jäger. Oft begleitete ich ihn. Nicht, dass ich etwa selbst geschossen hätte; ich genoss es einfach, gemeinsam mit meinem Mann die Natur mit all ihren Gesetzen zu erleben. Und es entschädigte mich für die Einsamkeit in einem fremden Land, dessen Sprache mir immer noch schwer fiel.
Die Schnepfenjagd im frühen Frühjahr… Es war herrlich, in der Abenddämmerung an einem Tümpel im niedrigen Walde zu stehen, dem Vogelgesang zu lauschen, der nach und nach verstummte. Bis man es endlich hörte, dieses hrr hrr sst des großen Sumpfvogels, der leicht über den Bäumen dahinzog. Nun hieß es schnell schießen, um den herrlichen Braten zu erlangen.
Birkhühner erforderten ein gutes Quantum Geduld. Nachts wanderte man los. In die Bäume wurden künstliche Birkhühner gehängt, die als Lockvögel dienten, man selbst verbarg sich in einer niedrigen Strohhütte, wo man kauernd auf den Morgen und darauf wartete, dass einem die Vögel vor die Flinte kamen: Die dummen Hähne hielten die künstlichen Birkhühner nämlich für die Ihrigen und warben prompt um ihre Gunst, nicht ahnend, dass sie mit ihrem Balzgehabe eine perfekte Zielscheibe abgaben.
Auerhähne erwischte man am besten in der frühen Nacht. Sie versteckten sich hoch oben im Geäst der Bäume, wie große Klumpen saßen sie in den Zweigen, und man fand sie lediglich, in dem man ihrem Gesang folgte. Hatte man einen erlauscht, wurde es aufregend: Solange er nämlich sein Liebeslied ertönen ließ, durfte man sich ihm nur so lautlos wie irgend möglich nähern; schwieg er, wusste man, dass er angespannt horchte, so dass man, selbst wenn man mitten im Schritt noch den einen Fuß in der Luft hatte, sich nicht bewegen durfte, und verharrte solange, bis der Vogel seinen Gesang wieder aufnahm. Und dann konnte man schießen.
Wölfe jagte man auf zweierlei Arten: Entweder hatte man Treiber, die die eingekreisten Wölfe den Jägern zutrieben, was relativ unspektakulär ablief, oder man nahm ein Ferkel zu Hilfe, was weitaus interessanter war. Hierzu legte man sich auf einen flachen, mit Stroh belegten Bauernschlitten ohne Sitz, und zwar mit dem Kopf zum Fußende hin, an dem wiederum an einem langen Seil ein Sack mit Schweinemist befestigt war. Der Kutscher, der den Schlitten zog, bekam auf den Schoß einen Sack mit einem Ferkel. So fuhr man des Nachts durch den in tiefem Schnee liegenden Wald.
Auch heute noch, nach so vielen Jahren, kann ich sie immer noch spüren, diese ganz eigene Atmosphäre, die einen in diesem Augenblick umgab: Ringsherum alles still, bis plötzlich das so unheimliche, lang gedehnte Heulen des Wolfes in der Ferne ertönt. Das ist unser Signal: Das Ferkel wird etwas gekniffen, worauf es anfängt, etwas zu quieken. Das ist genau das, was wir wollen, denn schon kommen die Wölfe näher und näher, man sieht ihre grünen Augen leuchten, plötzlich stürzen sie sich auf den Sack mit Mist, den sie für das Ferkel halten und dann - heißt es schießen!
Auch das Osterfest, das größte Fest der Russen, gehört zu meinen Erinnerungen Die Osterfeier beginnt mit dem großen, sieben Wochen lang andauernden Fasten. Die erste Woche ist die Butterwoche, an der noch Butter gegessen werden darf. Jetzt werden die herrlichen Blini (Buchweizenpfannkuchen) gegessen, mit geschmolzener Butter und dicker saurer Sahne. Dazu isst man Kaviar, Lachs oder Hering, je nach Geschmack.
Der Butterwoche folgen fünf Wochen Fastenspeise. Das bedeutet, es wird schon noch gegessen, und das nicht zu knapp: lukullische Speisen, angemacht mit raffinierten Marinaden, gesäuerten Kohl, um nur einiges zu erwähnen. Fleisch und Butter sind jedoch energisch vom Speiseplan gestrichen.
Die siebente Woche wird schon strenger gehalten, am letzten Tag vor dem Fest trägt der gläubige Russe dem Sinn des Fastens Rechnung, indem er überhaupt nichts isst!
Der Gründonnerstag steht für die Weihe des ewigen Lichtes. Ein langer Zug von Menschen, mit Blumen und Bändern geschmückte Kerzen tragend, zieht in die Kirchen und entzündet die Kerzen an der ewigen Lampe, um das Licht für ihre Lampe zu holen, die vor ihren Heiligenbildern ständig brennt. Wehe, wenn das Licht unterwegs verlöscht: Das bedeutet Unglück.
In der Osternacht geht dann alle Welt in die Kirchen, um Eier, Osterkuchen, Kulitsch und Pasra (letztere eine Art Creme aus Quark, Eiern, Butter, Zucker, Vanille usw.) weihen zu lassen. Um Punkt 12 Uhr nach dem Gottesdienst ertönen alle Glocken der Stadt, alles umarmt und küsst sich drei Mal rechts und links auf die Wange mit den Worten: „Christ ist erstanden“, auf die man mit „In Wahrheit erstanden“ antwortet und sich gegenseitig ein bunt gefärbtes Ei in die Hand drückt. Danach geht es nach Hause und das große Essen beginnt!
Der Ostertisch ist gedeckt mit allem, was es nur an Essbarem gibt. Da sind ganze gebackene Schinken, gebratenes Wild und Geflügel, Gallerte von Fisch, Pasteten (Piroggen), Konserven, Kulitsch, eine Art Puffer in Form eines Champagnerkorkens, die Pasra in Form eines siebeneckigen Türmchens mit dem russischen Kreuz und Blumen geschmückt, dazu Eier in allen Farben... Kurz: jegliche Leckereien, die man sich vorstellen kann!
Morgens früh erscheint der Pope (russischer Geistlicher) und hält einen Gottesdienst vor dem Heiligenbild und weiht die Speisen. Dann kommen die Angestellten und Dienenden zur Gratulation. Alle werden mit dem Osterkuss begrüßt, den man selbst einem Bettler nicht verweigern darf.
Gekocht wird drei Tage lang nicht. Vielmehr bedient man sich dessen, was man auf dem Ostertisch findet, isst, wann immer man Lust darauf hat, und trinkt dazu Schnaps und Wein. Der Samowar geht den ganzen Tag nicht aus.
Infolge dieser oft maßlosen Völlerei gibt es natürlich viele Kranke. Sehr bezeichnend ist, dass man die Möbel in den Krankenhäusern in diesen Tagen mit Wachstuch bedeckt.
Weihnachten hingegen, wie wir es in seiner stillen feierlichen Weihe feiern, kennt der Russe nicht; für ihn ist es ein Kinderfest.
So verlebten wir vorerst ruhige, schöne Jahre, angefüllt mit den Dingen, die ich hier so ausführlich beschrieben habe, um die Größe der russischen Güter und die Lebensart der Menschen zu zeigen, mit denen ich hier leben durfte.
Bis Kurt an Veitstanz erkrankte.
Wer oder was nun den Veitstanz ausgelöst hatte und wie lange er diese Krankheit bereits mit sich herumschleppte, vermochte niemand zu sagen. Wir konnten allenfalls vermuten, dass vielleicht ein Unfall die Ursache war: Wie wir nämlich später herausfanden, war Kurt ein Jahr zuvor einmal auf seinem kleinen Pferdchen (die beiden Kinder hatten schon mit sieben Jahren jeder ein kleines Pony bekommen) ohne Kutscher zum Förster geritten. Als ihm niemand öffnete, kletterte er auf das morsche Scheunendach und fiel prompt auf die Tenne, wo er besinnungslos liegen blieb. Als er sich erholt hatte, ritt er nach Hause, als sei nichts gewesen.
Gut möglich, dass dieser Vorfall der Auslöser war.
Zunächst jedoch mussten wir uns dieser furchtbaren Krankheit stellen, die man seinem ärgsten Feind nicht wünscht: Der ganze Körper zuckt in einem fort und gerät völlig außer Kontrolle. Kurt musste sogar auf dem Fußboden schlafen, da er sonst aus dem Bett gefallen wäre. Essen, eine Gabel halten? Trinken, ein Glas zum Mund führen? Unmöglich! Die fliegenden Glieder seines Körpers an meinen gepresst, flößte ich ihm Speisen und Getränke mit einem Teelöffel ein.
Sogar die Sprache versagte ihren Dienst; ich hörte von ihm nur einmal das Wort: „Qual“. Und es zerriss mir das Herz.
Glücklicherweise war die Krankheit von der Art, die heilbar ist. Nach 2 Jahren hatte Kurt sie überstanden.
Um sicher zu gehen, dass auch wirklich alles in Ordnung war, fuhr ich auf Collis Drängen hin mit Kurt nach Riga, um ihn noch mal gründlich von Dr. von Sokolowski, einem Studienfreund Collis, untersuchen zu lassen. Der führte ein Sanatorium in Hagensberg, einer Vorstadt von Riga.
Zu meiner Erleichterung konnte der Doktor nichts Auffälliges feststellen, befand es jedoch für richtig und gut, dass Kurt einige Zeit im Sanatorium zur Beobachtung blieb und sich einer „Mastkur“ unterzog.
So blieben wir fast zwei Monate. Zugleich ließ ich mich von Dr. von Knorre, ebenfalls ein Studienkollege Collis, untersuchen, der einen Knick der Gebärmutter feststellte und mir mitteilte, wenn das Mittel, welches er mir verschrieb, nicht hülfe, ich mich operieren lassen müsste.
Das Mittel half nicht, und so kam es, dass ich mich ein Jahr später in erneut in Riga wiederfand, um die Operation (Entfernung von Gebärmutter und Eierstock) vornehmen zu lassen. Colli begleitete mich auf dieser Reise.
Erfreulicherweise verlief die OP reibungslos. Dass es in der Nacht darauf beinahe zu Komplikationen gekommen wäre, hatte ich mir selbst zuzuschreiben: Ich war nämlich leichtsinnig genug, um aufzustehen und zum Eimer zu schleichen, weil die Schwester nicht mehr kommen wollte.
„Alle meine Mühe ist nun umsonst!“, schimpfte der Arzt mich aus. „Sie können sich den Tod holen!“
Ich kam unter Aufsicht einer Schwester in ein Einzelzimmer. Doch es ging gut, ich genas.
Jenseits der stillen Krankenhausmauern war die Welt eine andere. Es kochte und brodelte bereits seit längerem im Land, das Volk begehrte auf, verlangte bessere Lebensbedingungen als die, die ihnen unter der Regierung des Zaren Nikolaus II. geboten wurden. Bei uns zu Hause war es bislang ruhig geblieben; hier in Riga jedoch kam es immer wieder zu Revolten auf den Straßen, die die Stadt in Aufruhr versetzten und einen normalen Tagesablauf unmöglich machten.
So auch am Tage meiner Entlassung: Daran, ein Fuhrwerk zu bekommen, war nicht zu denken. Ebenso wenig war ich in der Lage, die Strecke zu Fuß zurückzulegen. Glücklicherweise fanden sich zwei Leute, die mich zur Wohnung trugen, die Colli für die Zeit unseres Aufenthaltes angemietet hatte.
Als ich wieder zu Kräften gekommen war, wollten wir eiligst nach Hause zu den Kindern, die wir unter der Aufsicht Johannas, einer Schwester von Colli, zurückgelassen hatten. Nur waren sämtliche Bahnlinien gesperrt! Irgendwann hieß es, es ginge ein Zug; aber wie weit der fahren würde, sei ungewiss. Im Übrigen reise man unter Militärschutz, denn man müsse damit rechnen, dass der Zug beschossen würde.
Wir wagten es aber doch – nicht nur, dass wir zu unseren Kindern wollten, so konnte Colli schließlich nicht ewig seiner Arbeit auf dem Gut fernbleiben.
Nach vielen Hindernissen kehrten wir endlich wieder nach Hause zurück. Erleichtert atmete ich auf, nicht ahnend, welche Bedeutung das politische Geschehen auf unser weiteres Leben haben würde.