Читать книгу Angst am Abgrund - Ben Faridi - Страница 8
Montagabend, 3. September
ОглавлениеPünktlich um acht Uhr abends holte ihn Festevola ab. Diesmal hatte sich Baptista passender für das Wetter gekleidet. Aber natürlich begann er bereits beim Hinabsteigen der 78 Stufen erneut zu schwitzen. Sie stiegen in Festevolas Wagen und fuhren im Dunkeln zu einem Restaurant. Bei der Fahrt wurde Baptista wieder übel von den engen Kurven und steilen Abgründen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie er das Essen überstehen sollte.
Der Parkplatz war von der Straße aus kaum einzusehen. Festevola bog zügig in eine Parklücke. An einem kleinen Brunnen vorbei traten sie in ein typisches italienisches Ristorante. Das eigentliche Spektakel war jedoch der Gastraum selbst, der zur Hälfte frei über einem Abgrund schwebte. Große Glasscheiben verstärkten den Effekt. Sie setzten sich an den Tisch, der mit einer blendend weißen Tischdecke und wunderbaren Tellern und Gläsern gedeckt war.
Baptista konnte seinen Blick jedoch kaum vom Abgrund wenden, der in der Abenddämmerung vermutlich noch dramatischer wirkte als tagsüber. Wieder ergriff ihn eine leichte Panik. Schließlich nahm er die Menükarte, aber Festevola stoppte ihn und rief den Wirt.
»Buona sera, Francesco. Come stai?«
Francesco lächelte milde mit seinen dunkelbraunen Augen, die sich über seinem stoppeligen und ergrauten Bart befanden. Festevola lächelte zurück. Seine Nase warf einen großen Schatten über die rechte Wange. Baptista überlegte kurz, ob die beiden Augen von Festevola wegen der großen Nase jemals das gleiche Bild der Welt sehen konnten. Vielleicht entsteht dadurch eine gänzlich andere Wahrnehmung der Welt, überlegte er. Dann verwarf er den unsinnigen Gedanken und lenkte seine Aufmerksamkeit auf Festevola und den Wirt.
»Es könnte mir nicht besser gehen, wenn ich dich bei mir begrüßen darf«, sagte er. »Und deinen Gast Signor Baptista.«
Baptistas Name kam mit einem Unterton über Francescos Lippen, der zu sagen schien, dass er bereits alles über den Commissario wusste.
»Da vergesse ich sogar das schlechte Wetter, das im Moment angekündigt ist«, fuhr Francesco fort. »Übermorgen soll immerhin Linda Barnes hier erscheinen, um etwas Besonderes zu essen.«
»Die Linda Barnes?«, fragte Baptista verblüfft.
Barnes war im Moment eine der angesagtesten Hollywood-Sternchen und verdiente Gagen im mehrstelligen Millionenbereich. Ihr neuester Film war eine Fantasysaga und lockte halb Europa ins Kino.
»Nun ja«, antwortete Francesco mit einem minimalen Achselzucken, dem zugleich ein offensichtlicher Stolz beiwohnte. »Das ist hier in der Saison nicht ungewöhnlich. Für Linda Barnes wird es allerdings der erste Besuch in meinem Hause sein.«
Francesco hielt kurz inne.
»Habt ihr spezielle Wünsche oder darf ich euch einfach überraschen?«
Gianluca Festevola sah gespannt zu Jao Baptista. Der zögerte keine Sekunde.
»Ich lasse mich gerne überraschen.«
Die beiden anderen atmeten erleichtert auf, weil damit eine zentrale kulturelle Frage geklärt war, die eine der wichtigsten italienischen Institutionen betraf, das Essen. Mit Zufriedenheit verschwand Francesco in der Küche und brachte zunächst einen Bitterino, um die Zeit bis zur Vorspeise zu verkürzen. Das Getränk leuchtete Rot gegen den schwarzen Nachthimmel und das mondbeschienene Meer am Horizont.
»Wo stehen wir denn mit den Ermittlungen aus Ihrer Sicht im Moment?«, fragte Baptista, während er an seinem Getränk nippte und feststellte, dass seine Übelkeit anscheinend verschwunden war.
»Fangen wir von vorne an: Zwei kanadische Spaziergänger haben die Leiche vor acht Tagen gefunden, am Sonntagabend. Sie liefen einen der Wanderpfade entlang, den Sentiero degli Dei. Dieser Weg führt von dem Bergdorf Agerola, das gleich hier hinter Furore gelegen ist, sieben Kilometer an steilen Felswänden entlang nach Positano ans Meer. Bei vielen Touristen ist das ein beliebter Wanderweg. Das kanadische Pärchen wurde von drei wilden Hunden begleitet. Manchmal suchen die Hunde die Nähe der Wanderer und hoffen auf eine kleine Belohnung. Nun ja, die Hunde begannen plötzlich zu bellen und rannten überraschend fort, nachdem sie die Wanderer mehrere Stunden begleitet hatten. Nach einiger Zeit kamen sie aufgeregt zurück und ließen sich erst beruhigen, als die Touristen ihnen folgten. Von einem steilen Pfad aus konnten sie die Leiche sehen. Mit einem Mobiltelefon verständigten die Wanderer die Polizei.«
Sie wurden durch die Ankunft der Antipasti unterbrochen. Eine Platte mit Mozzarella di Bufala, gegrillten Auberginen, eingelegten Bohnen und in Weinblättern eingerollten Sardellen stand garniert mit Basilikum und verträufeltem Honig auf dem Tisch. Baptista lief unwillkürlich das Wasser im Mund zusammen, obwohl ihm nach der Fahrt mit dem Auto eben noch übel gewesen war. Dazu wurde ein Hauswein aus Amalfi serviert. Bei den ersten Bissen vergaß er, dass er auf einer Dienstreise war. Der Bericht von Festevola holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
»Die Polizei kam, so schnell es die engen Wege zuließen. Der Fundort der Leiche befand sich zum Glück in der Nähe eines Wegs, den der Wagen gerade noch bewältigen konnte. Den Leichnam konnte man allerdings nicht ohne weiteres bergen. Ein Bauer aus der Nachbarschaft stellte einen kleinen Lastwagen mit Kran zur Verfügung. Über fünfzig Meter musste sich ein junger Bergsteiger aus Agerola abseilen lassen, um den Toten zu erreichen. Selbstverständlich wurde alles bestens dokumentiert, denn man sah sofort, dass es sich um einen Ausländer handelte. Der Tote hatte Ausweis, Geld und sonstige Papiere bei sich. Vom Weg aus gesehen dachten alle an ein Unglück. Als man die Leiche schließlich oben hatte, war offensichtlich, dass es kein Unfall war. Der Gerichtsmediziner ließ mitteilen, dass Jefferson durch einen gezielten Schuss in den Kopf getötet wurde.«
Baptista war eigenartig hin- und hergerissen zwischen dem köstlichen Wein, den Antipasti und dem Bericht von Festevola. Dann kam eine reizende Bedienung und räumte das benutzte Geschirr ab. Festevola hielt kurz inne und sah aus dem Fenster. Der Himmel war inzwischen nachtschwarz. Deutlich sahen sie die Sterne und die Beleuchtung der einzelnen Häuser an der schmalen Küste. Wärme und Zufriedenheit erfüllten Baptista. Der Primo Piatto wurde serviert, Spaghetti al pescatore mit Venusmuscheln in einer Weißweinsoße. Schon beim ersten Bissen tropfte es auf Baptistas Hemd. Er war seine eigene Ungeschicklichkeit bereits gewohnt und schüttelte lediglich tief im Innern seinen Kopf darüber. Gianluca bemerkte es nicht einmal und erzählte weiter.
»Wir konnten den Namen Jefferson trotz möglicher Namensähnlichkeiten eindeutig identifizieren. Es handelt sich um eine sehr begüterte Person, wie man sie in Amalfi, Positano oder auf Capri häufig antrifft. Jefferson wohnte in London in einem noblen Apartment. Er war nicht verheiratet und ist standesamtlich als Vater von drei unehelichen Kindern eingetragen. Weder die Frauen noch die Kinder wollten mit ihm zu tun haben, als wir sie benachrichtigen ließen.«
»Eigenartig«, sagte Baptista. »Wahrscheinlich gibt es doch einiges zu erben.«
»Das schon. Aber das wird alles über einen Anwalt geregelt. Niemand wollte herfliegen. Nein, halt. Sein Vater lebt noch. Ein alter Mann, über achtzig, lebt in Spanien. Der wollte kommen, fühlte sich aber zur Zeit gesundheitlich nicht in der Lage. Er wollte so bald wie möglich nachkommen.«
Baptista fand die äußeren Umstände schon bei den ersten Informationen zutiefst merkwürdig. Welches Geheimnis verbarg diese Person, dass ihn keiner mochte, nicht einmal bei seinem Ableben und dem vielen Geld? Vielleicht würde er es lüften, möglicherweise blieb das eigentlich Wichtige aber im Dunkeln. Die Menschen nehmen das Wesentliche mit ins Grab, obwohl sie uns ihre Spuren hinterlassen, dachte er. Der Rotwein machte ihn gefühlsduselig.
»Noch etwas anderes: Jefferson besitzt die spanische und die englische Staatsangehörigkeit. Wir haben daher den Fall schnell an übergeordnete Behörden abgegeben, da wir keine Befugnisse zur direkten Recherche in diesen Ländern besitzen.«
»Gibt es denn aus der Spurensicherung heraus erste Hinweise?«
»Wir haben wegen der fehlenden Finger natürlich keine Fingerabdrücke nehmen können.«
»Aber die Papiere hatte der Mörder bei der Leiche gelassen, nicht wahr?«, wendete Baptista ein.
»Das ist richtig.«
»Der Leichnam sollte entstellt werden«, resümierte Baptista.
»Die Leiche hat mehr als vierundzwanzig Stunden am Fundort gelegen«, fuhr Gianluca fort. »Der Mörder war wahrscheinlich ein Profi. Es ließen sich auch keine auffälligen Reifenspuren in der Nähe des Fundortes entdecken. Wir haben an der Absturzstelle Blut von Jefferson gefunden. Vermutlich wurde er also in der Nähe getötet. Wir haben aber noch keine Anhaltspunkte, wo das hätte sein können. Entweder war das ein sehr raffinierter Auftragskiller oder jemand, den Jefferson kannte.«
In diesem Moment wurde der Hauptgang serviert, ein gegrillter Schwertfisch, garniert mit Zitronen und etwas Gemüse. Der neue Gang führte auch zum Themenwechsel.
»Wie geht es Ihrer Cousine?«, fragte Baptista. »Hat sie die Geburt gut überstanden?«
»Danke der Nachfrage. Sie war natürlich noch geschwächt, aber wohlauf. Ihre Mutter, also meine Schwester, hilft ihr.«
»Was ich fragen wollte: Sind Hausgeburten hier eigentlich üblich?«
»In Italien insgesamt eher nicht. An der Amalfiküste sind sie häufiger, weil die Fahrt in ein gut ausgestattetes Krankenhaus nach Salerno oder Neapel für eine Schwangere über die Bergstraßen risikoreich sein kann. Als Verkehrspolizist habe ich schon mehrfach beobachtet, wie ein Krankenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht nicht vorankam, weil sich zwei Busse an einer Haarnadelkurve rangierunfähig verkeilt hatten.«
Baptista runzelte die Stirn. Wieder kam dieses Gefühl von Panik auf, eingeschlossen in einer steilen abweisenden Felslandschaft. Er wischte den Gedanken zur Seite und genoss den vorzüglichen Schwertfisch. Nach dem üblichen Caffè zum Abschluss des Essens bekamen sie noch einen hausgemachten Limoncello serviert.
»Macht mein Bruder aus eigenem Anbau«, sagte Francesco sichtlich stolz. »Früher haben wir in der ganzen Familie Landwirtschaft betrieben. Aber seit dieses standardisierte Eurogemüse den Markt überschwemmt, lohnt es sich nicht mehr.«
Sie fuhren in tiefer Nacht nach Amalfi zurück und Baptista legte sich sofort schlafen. Mehrfach schreckte er aus Albträumen auf, die er auf das reichliche Essen schob. Schließlich blieb er mit offenen Augen liegen und sah, wie die Morgenröte gegen sechs Uhr an der Zimmerwand hinaufwanderte und rasch zu einem gleißenden Gelb wurde.