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1. Zäsur

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Der Mensch hat verschiedene Möglichkeiten, Veränderungen an seinem Leben vorzunehmen und ihm eine neue Richtung zu geben. Die wirkungsvollste dürfte nach wie vor darin bestehen, sich einen Hund zuzulegen. Das einzige Problem dabei ist, dass der Mensch nicht immer ganz sicher sein kann, tatsächlich Herr des Geschehens zu bleiben. Über kurz oder lang steht er vor der Frage, wer sich da eigentlich wen zugelegt hat.

In unserem Fall deuteten sich entsprechende Tendenzen bereits in einem sehr frühen Stadium an. Normalerweise wären wir nie auf die Idee gekommen, Hundehalter zu werden. Weder in der Familie meiner Frau noch in meiner noch in unserer Familie, die aus uns beiden sowie drei Söhnen besteht, waren jemals auch nur andeutungsweise Wünsche oder Absichten dieser Art laut geworden. Die Ambitionen unserer Söhne – zur fraglichen Zeit elf, vierzehn und sechzehn Jahre alt – hatten sch auf die Haltung jener diversen Kleintiere beschränkt, die millionenfach Kinderzimmer bevölkern, oft hart an der Grenze des Existenzminimums und nur dank elterlicher Intervention vor dem Äußersten bewahrt. Meist stellt sich nämlich sehr rasch heraus, dass die Fähigkeiten von Hamstern, Zwergkaninchen, Schildkröten und Zierfischen zur unterhaltsamen Interaktion weit hinter dem zurückbleiben, was sich der menschliche Nachwuchs ursprünglich erhofft hatte, sodass sein Interesse an diesen Kreaturen merklich nachlässt.

Ich sollte vielleicht erwähnen, dass meine eigene Kindheit durch das Leben auf dem Lande geprägt war, am Rande einer Kleinstadt in fußläufiger Nähe zu einem Dorf, genauer gesagt. Daraus ergab sich mancherlei Anschauungsmaterial hinsichtlich der Tierhaltung. Doch dominierte hier eindeutig der Gedanke des Nutzwerts, auch in Bezug auf Hunde. Niemand hielt Hunde, um seine emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen. Hundehaltung war eine reine Sicherheitsmaßnahme. Sie diente allein dem Zweck, Haus und Hof vor Eindringlingen zu beschützen. Um unerwünschte Zwischenfälle in nicht kriminellen Situationen zu vermeiden, pflegten die Dorfbewohner ihre Hunde an Ketten zu legen, was deren Aktionsradius zwar einschränkte, aber dennoch nicht ganz verhindern konnte, dass bisweilen auch völlig harmlose Menschen Bekanntschaft mit den Beißorganen dieser speziellen Nutztiere machen mussten. Seither fiel es mir schwer, Hunden ohne jeglichen Vorbehalt gegenüberzutreten.

In der Familie, der meine Frau entstammt, hatte jeder Gedanke an Haltung selbst noch so kleiner und ungefährlicher Haustiere stets außerhalb jedes Vorstellungsvermögens gelegen. Das hatte in erster Linie damit zu tun, dass man recht situiert in einer Etagenwohnung in einer Ruhrgebietsstadt lebte. Tierhaltung, genauer, Tauben- oder Kaninchenzucht, war in dieser Gegend traditionell eher den sogenannten einfacheren Leuten vorbehalten. Die Abneigung ihrer Eltern gegen Hausstiere habe etwas sehr Grundsätzliches gehabt, sagte meine Frau. Sie selbst litt übrigens seit früher Kindheit an einer Hundephobie.

Das also war die Lage. Für Hunde war in unserer Lebensplanung einfach kein Platz vorgesehen. Niemand dachte daran, einen Hund anzuschaffen – bis sich die Ereignisse dann plötzlich überschlugen: zunächst in Form jener Veränderungen für große Teile der Menschheit infolge des Mauerfalls, dann für uns, die wir, wie viele, andere im Sog der neuen Möglichkeiten unseren Wohnsitz nach Berlin verlegt hatten und schließlich im Zuge der mehr oder minder regelmäßigen Pflichtbesuche bei den Verwandten in der alten Heimat. Bei einem dieser Besuchte passierte das Undenkbare.

Wir saßen am Mittagstisch bei meiner Schwiegermutter, schon halb in Aufbruchstimmung mit Blick auf die für den Nachmittag vorgesehene Rückfahrt, und hatten mit der Mahlzeit begonnen, obschon unser jüngster Sohn noch fehlte. Es war schon schwer genug gewesen, ihn überhaupt zum Mitfahren zu bewegen; lieber wäre er bei seinen älteren Brüdern zu Hause geblieben, das war uns klar. Doch wir fanden auch, dass dem Selbstbestimmungsrecht eines Elfjährigen durchaus noch die eine oder andere Grenze gesetzt werden durfte. Und dass er es jetzt nicht für nötig hielt, pünktlich zum Essen zu erscheinen, hatte in meinen Augen etwas leicht Provozierendes.

Ich wollte gerade meinen diesbezüglichen Unmut äußern, als in der Diele das Telefon klingelte. Es war der Sohn, der mitteilte, dass er soeben einen jungen Hund gekauft hatte, und zwar auf Betreiben und unter Mithilfe seiner Kusine, die das Geschäftliche geregelt habe und finanziell in Vorauslage getreten sei. Die Kusine war fast doppelt so alt wie er und ein wenig exaltiert, was er natürlich interessant fand. Wir hatten ihn ihr anvertraut, weil er sich gelangweilt und sie immer Mittel gegen Langeweile parat hatte. Hätten wir allerdings geahnt, dass es zu solch einem eklatanten Vertrauensmissbrauch kommen würde, so hätten wir alles getan, um unseren Sohn an diesem Tag von besagter Kusine fernzuhalten.

Es kam zu einer unschönen Szene. Ich riss meiner Schwiegermutter, die den Anruf entgegengenommen hatte, den Hörer aus der Hand und begann, ohne längere Einleitung, mit heftigen Worten auf den Sohn einzureden. Es sei eine vollkommen unakzeptable, dreiste Eigenmächtigkeit, einfach so aus heiterem Himmel einen Hund zu kaufen, sagte ich. Ob er sich überhaupt der Tragweite seines Vorgehens bewusst sei, wollte ich wissen. Ob er sich klar darüber sei, was es bedeute, einen Hund zu halten, welche Verantwortung, welche Pflichten, welche Belastungen daraus uns allen, der Halterfamilie, erwüchsen – einer Familie, die, wie er sehr wohl wisse, bereits mit Pflichten verschiedener Art hinreichend ausgelastet sei. Seine Mutter habe schließlich einen Haushalt mit drei heranwachsenden Söhnen zu versorgen, ganz abgesehen von ihrer Hundephobie. Von mir, dem Ernährer, und seinem stressreichen Beruf bei der Zeitung gar nicht zu reden.

Auch erinnerte ich ihn daran, dass in seinem Zimmer seit Jahren ein gewisser Mitbewohner hause, ein Zwerghase, der von ihm, dem Sohn, konsequent ignoriert werde und sein bisheriges Überleben einzig und allein der Fürsorge seiner Mutter verdanke. Der Sohn druckste herum und versuchte, die ganze Sache der Kusine in die Schuhe zu schieben, die sich übrigens selbst ebenfalls einen Hund gekauft habe und außerdem für ihre Überredungskunst weithin bekannt sei. Ich merkte, wie ich immer ungehaltener wurde und forderte ihn auf, wenigstens zu seiner Tat zu stehen. Das Angebot eines Gesprächs mit der Kusine lehnte ich ab. Er dürfe ihr aber gern ausrichten, sie möge sich gefälligst nicht durch Anstiftung zu unerwünschten, ja überfallartigen Hundekäufen in das Dasein anderer Leute einzumischen.

Ich forderte den Sohn auf, den Kauf rückgängig zu machen. Er behauptete, das sei unmöglich, schon aus zeitlichen Gründen. Der Hund sei irgendwo am anderen Ende des Ruhrgebiets gekauft worden, man sei den halben Vormittag unterwegs gewesen. Außerdem sie schon die obligatorische Impfung vorgenommen worden, die sich als kostspieliger erwiesen habe als der ganze Hund. Eine Zweiwochenration Futter habe er auch bereits gekauft. Und er beeilte sich noch hinzuzufügen, selbstverständlich werde er persönlich der Kusine die vorgestreckten Geldbeträge ratenweise zurückzahlen, auf Taschengeldbasis.

Ohne mir Gelegenheit zu geben, hierauf einzugehen, wechselte er plötzlich die Argumentationsebene und betonte, dass der Hund sehr niedlich sei und auch noch sehr klein. Ich sagte, das interessiere mich herzlich wenig. Er solle schleunigst herkommen und zu Mittag essen. Dann legte ich auf.

Meine Schwiegermutter murmelte etwas von Nachtisch und Erdbeerquark und entfernte sich in Richtung Küche, aber nicht auf direktem Weg. Erst machte sie noch kurz an der Kommode halt, in deren oberer Schublade sie ihre Beruhigungstabletten aufbewahrte. Meine Frau setzte zu Beschwichtigungsversuchen an, die allerdings eher halbherzig klangen. Ich wiederholte in geraffter Form die Einwände, die ich bereits im Dialog mit dem Sohn vorgebracht hatte und erwähnte dabei auch ganz bewusst das Thema Hundephobie.

Meine Frau meinte lediglich, da der Hund doch wohl noch jung sei, sei er gewiss auch noch klein und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht übermäßig gefährlich. Sie jedenfalls sei bemüht, sich mit der neu entstandenen Situation möglichst vorurteilsfrei auseinanderzusetzen, schon mit Rücksicht auf den Jungen, dem man doch schließlich seine Freude nicht verderben dürfe. Womöglich eröffne sich ihr selbst ja jetzt sogar die Chance, ihrer Angst vor Hunden im Wege einer eigenhändig vorgenommenen Konfrontationstherapie Herr zu werden.

Während wir uns anschließend schweigend dem Erdbeerquark widmeten, traf der Sohn ein. Er äußerte ein paar kaum verständliche Bemerkungen angeblichen Bedauerns, stellte eine große Plastiktüte mit der Aufschrift „Happy Dog“ ab und zog fast zeitgleich ein schwarzes Etwas hervor, das er unter seiner Jacke verborgen hatte und nun vorsichtig auf dem Kokosläufer in der Diele absetze. Dies sei also der Hund, merkte er bedeutungsvoll an.

Der Hund war tatsächlich sehr klein und sehr niedlich. Auf der Brust hatte er einen weißen Fleck. Wie den beigefügten Papieren zu entnehmen war, handelte es sich um eine Cocker-Mischung, schwarz, weiblichen Geschlechts, zehn Wochen alt. Die erste Maßnahme des Hundes bestand darin, auf den Kokosläufer zu pinkeln.

Bevor wir die Rückfahrt nach Berlin antraten, ließen wir uns von der Schwiegermutter ein altes Handtuch geben, legten es im Auto auf den Rücksitz und platzierten den Hund darauf. Der machte sich sofort zu einer kleinen schwarzen Kugel und schlief ein. Etwa auf halber Strecke hielten wir auf einem Rastplatz. Als wir den Hund nach ein paar Schritten auf den Asphalt setzten und ihn zum Urinieren aufforderten, schaute er uns fragend an und begann zu zittern. Erst nachdem wir unsere Aufforderung einige Male wiederholt hatten, leistete er Folge, wirkte dabei aber ziemlich unsicher.

Das brachte mich zu der Überlegung, dass hier eine gezieltere Ansprache eventuell Abhilfe schaffen könnte. Der Hund brauchte einen Namen, und den würden wir, seine Halter, ihm geben, gleichgültig, wie er bisher von dem Züchter genannt worden war. Wir begannen zu beratschlagen. Frieda, Berta, Trude und Helma wurden erwogen, aber wieder verworfen, wobei das Verwerfen im Fall Friedas etwas länger dauerte. Frieda erschien uns zumindest diskussionswürdig. Wir einigten uns auf Minna.

Minna sei einerseits hinreichend klangvoll aufgrund der zwei Vokale, andererseits aber auch kurz und eingängig, lautete unsere Begründung für diese Wahl. Letzteres sei insbesondere für den Hund von Vorteil, der sich seinen Namen schließlich merken können müsse. Wir beugten uns alle drei zu Minna hinab, streichelten sie und setzten sie, mal abwechselnd, dann wieder im Chor, davon in Kenntnis, dass sie ab sofort die Minna war.

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