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2. Ambivalenz
ОглавлениеSich von der Niedlichkeit eines kleinen Hundes hinreißen zu lassen, ist das Eine. Das Andere ist die Frage der Alltagstauglichkeit jener Empfindungen, die durch den Anblick des niedlichen kleinen Hundes ausgelöst werden. In Biologiebüchern kann man etwas über den von der Natur verfolgten Sinn und Zweck der Niedlichkeitswirkung nachlesen, die im Fachjargon Neotenie genannt wird oder auch Kindchenschema. Es handelt sich um eine im Zuge der Evolution herausgebildete Strategie im Säugetierbereich, die großenteils artenübergreifend funktioniert und dazu dient, dem Nachwuchs per Appell an die Gefühle der Erwachsenen das erforderliche Maß an Zuwendung und Pflege zu sichern. Die Niedlichkeit ist also gewissermaßen zweckgebunden. Dass es bei außenstehenden Betrachtern zur Ausschüttung von Glückshormonen kommen kann, ist lediglich ein Nebeneffekt.
Genau hier deutete sich in unserem Fall ein Problem an. Nachdem außer unserem jüngsten Sohn auch meine Frau und ich den kleinen Hund namens Minna spontan sehr niedlich gefunden hatten, schlossen sich bei unserer Rückkehr nach Berlin auch die beiden älteren Söhne ebenso spontan diesem Urteil an Aber bereits nach wenigen Tagen schien die Neotenie an ihre Grenzen zu stoßen. Es war, als funktioniere diese Strategie in unserem speziellen Fall nicht so, wie es von der Natur eigentlich vorgesehen war.
Man könnte auch sagen: Die Integration des Hundes Minna in die Familie zählte, zumindest in der Anfangszeit, vermutlich nicht zu den strahlenden Höhepunkten der Geschichte des harmonischen Zusammenlebens von Tier und Mensch. Und dabei ließ sich schwerlich leugnen, dass diese unbefriedigende Entwicklung ausschließlich dem Verhalten der beteiligten Menschen anzulasten war. Der Hund verhielt sich einfach nur wie ein Hund. Das Verhalten der Familie indes ließ bezüglich des Umgangs mit dem Hund stark zu wünschen übrig. Immer hatte irgendjemand gerade keine Zeit, sich um Minna zu kümmern oder mit ihr Gassi zu gehen, weil er auf seiner täglichen Agenda Prioritäten gesetzt hatte, die dem entgegenstanden. Die Interessenkonflikte häuften sich und gipfelten in der von mir offen ausgesprochenen Überlegung, den Hund wieder abzuschaffen.
Das jedoch wollte auch niemand, sofern den entsprechenden Beteuerungen Glauben zu schenken war. Aber meine Frau gestand mir später einmal, ihr sei damals, in jenen Tagen, bisweilen der Gedanke durch den Kopf gegangen, der Hund könne womöglich weglaufen und nicht wiederkommen – und diese Vorstellung habe sie keineswegs als schlimm empfunden. Tatsache war, dass sich die Hundephobie trotz Minnas minimaler Ausmaße und ihrer Niedlichkeit nicht so ohne weiteres besiegen ließ. Meine Frau behauptete, sie fürchte sich vor diesem Tier, von dem sie angesprungen und gekratzt werde. Auch sei es bereits zu Beißattacken in Richtung ihrer Beine gekommen, zum Nachteil der Strümpfe.
Ich hielt diese Schilderungen für übertrieben, zumal sich die beschriebenen Vorgänge interessanterweise immer nur dann abspielten, wenn ich nicht dabei war. Ich erlaubte mir außerdem den Hinweis an meine Frau, dass gerade Hochsommer sei und sie diese Jahreszeit grundsätzlich unbestrumpft zuzubringen pflege. Sie erwiderte, dann sei alles ja noch schlimmer, da ihre Beine schutzlos den Zähnen des Hundes ausgeliefert seien.
Dass sie dabei war, sich in gewisse Widersprüche zu verstricken, schien ihr nichts auszumachen. Dennoch bemühte ich mich, sachlich zu bleiben und den hundekundlichen Fakten zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Beißfähigkeit eines solch jungen Hundes sei noch derart unterentwickelt, dass von dem Risiko einer ernsten Gefahr für Menschen nicht gesprochen werden könne, sagte ich. Und wenn auch einzuräumen sei, dass Welpenzähne ziemlich spitz seien, so stehe doch fest, dass der Hunde nur spielen wolle. Möglicherweise fühle er sich auch falsch behandelt und neige daher zu zeitweiligen frühkindlichen Aggressionsschüben.
Das Haus, das wir damals bewohnten, verfügte über einen Wintergarten, der gleichzeitig den Eingangsbereich bildet. Dort war Minna einquartiert worden, so als gebe es seitens der Familie ein unterschwelliges Bestreben, den Hund vom allgemeinen Leben ein Stück fernzuhalten. Da der Wintergarten allerdings unbestritten Teil der Wohnung war, hatte diese Maßnahme auch etwas Unentschlossenes. Ich stellte die Forderung auf, das bisher labile, ja ambivalente Verhältnis von Hund und Mensch in diesem Haus endlich auf eine stabile Grundlage zu stellen. Es gehe darum, eine konstruktive Haltung einzunehmen und sich kooperativ zu zeigen.
Umgehend sah ich mich mit der in einem merkwürdigen Ton vorgetragenen Frage konfrontiert, wieso ich mich denn plötzlich befähigt und berechtigt fühle, als großer Hunde-Experte aufzutreten. Der jüngste Sohn hielt mir sogar vor, ich sei doch schließlich derjenige gewesen, der sich am heftigsten gegen die Anschaffung des Hundes gewehrt habe. Um nicht unnötig zusätzliche Schärfe in das Gespräch zu bringen, empfahl ich, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Der Hund sei nun einmal da, jetzt gelte es nur noch, das Beste aus der Situation zu machen. Nebenbei behauptete ich, aufgrund meiner Kindheit und Jugend auf dem Lande durchaus über eine gewisse Hundekenntnis zu verfügen. Außerdem gebe es Kollegen mit jahrelanger Hundehalter-Erfahrung, die mir ihren Rat zuteil werden ließen.
Dann erläuterte ich, was ich unter Kooperation verstand: nämlich ein regelmäßiges tägliches Ausführen des Hundes Minna unter strikter Vermeidung stundenlanger vorheriger Diskussionen, das Ganze organisiert nach einem fairen Dienstplan, der selbstverständlich mit einem gewissen Maß an Flexibilität zu handhaben sei. Ich selbst sei trotz knapp bemessener Zeit bereit, meinen Beitrag zu leisten, etwa an freien Wochenenden, betonte ich gegenüber den Söhnen, um noch anzufügen, dass für ihre Mutter aus verschiedenen Gründen Sonderregelungen zu gelten hätten, zumindest mittelfristig.
Die Söhne, einschließlich des jüngsten, hatten dieses Thema bis dahin mit einer Gleichgültigkeit behandelt, die schon an Obstruktion grenzte. Die beiden älteren pflegten mit bedeutungsvoller Miene auf schulische oder sonstige nicht näher definierte Verpflichtungen zu verweisen, um sich aus der Affäre zu ziehen. Auch spielten sie gern darauf an, dass sie mit der Anschaffung des Hundes nicht das Geringste zu tun gehabt hätten. Was unseren Jüngsten betraf, so mehrten sich bei ihm die Anzeichen jener präpubertären Trägheit, die sich oft mit einer bestimmten Art von fadenscheinigem Pragmatismus tarnt. Kam die Rede aufs Gassigehen, brachte er das Argument vor, der Garten sei doch wohl groß genug, um dem Hund alle Möglichkeiten eines artgerechten Auslaufs zu bieten. Dabei hätte selbst ihm klar sein müssen, dass das Gassigehen eine elementare Bedeutung hat, nicht nur aus erzieherischen Gründen, sondern weil sich erst dadurch die wünschenswerten und für die Sozialisation notwendigen Kontakte zu anderen Hunden ergeben.
Es wäre übertrieben gewesen, die Wirkung der väterlichen Appelle als durchschlagend zu bezeichnen. Aber sie verpufften auch nicht völlig ungehört. Allerdings dauerte es eine ganze Weile, bis sich erste Tendenzen der Besserung zeigten. Die Verweigerungsfront begann zu bröckeln. Unter Murren zwar, doch immerhin, verständigten sich die Söhne nach und nach auf die erforderlichen Übereinkünfte – unter bedingter Einbeziehung ihrer Mutter. Sie erklärte sich eines Tages doch noch bereit, den Hundekorb aus dem Wintergarten ins Wohnzimmer zu schaffen und die beiden Näpfe für Futter und Wasser in der Diele aufzustellen.
Der Hund Minna brauchte nicht viel Zeit, um sich an die derart positiv veränderte Lebenssituation zu gewöhnen. Zunächst lief er unter Dauereinsatz seiner Nase unentwegt in der Wohnung hin und her in dem artentypischen Bestreben, sich sein neues Terrain geruchstechnisch quadratzentimetergenau einzuprägen. Aber dann war es auch gut damit. Die neue Ausgabestelle für Speisen und Getränke war ihm bereits nach einem Tag so vertraut, als wäre er nie andernorts verköstigt worden.
Überhaupt zeigte Minna alsbald ein sehr stark entwickeltes Interesse an Speisen aller Art, auch solchen, die nicht für sie bestimmt waren. Seit sie herausbekommen hatte, was in der Küche vor sich ging, wurde diese zu einem ihrer bevorzugten Aufenthaltsorte. Zwar behauptete meine Frau mittlerweile nicht mehr, der Hund mache Anstalten, sie zu beißen, aber dafür berichtete sie nun regelmäßig von mit erheblicher Hartnäckigkeit vorgenommenen Versuchen, irgendwelche heruntergefallenen Speisereste zu ergattern. Die Söhne erzählten, beim Gassigehen komme es vor allem darauf an zu verhindern, dass der Hund irgendetwas Unverdauliches fräße, was die Sache zuweilen ziemlich anstrengend mache.
Wir neigten dazu, dieses Verhalten der Jugend und Unerfahrenheit Minnas zuzuschreiben. Aus den Informationsgesprächen mit erfahrenen Kollegen wusste ich aber inzwischen, dass Hunde enorm schnell bestimmte, auch unerwünschte Gewohnheiten annehmen, wenn dem nicht beizeiten mit pädagogischen Maßnahmen vorgebeugt wird. Gelegentlich kam dieses Thema bei unseren familieninternen Diskussionen zur Sprache, aber wir maßen ihm keine übermäßige Bedeutung bei. Insgesamt entwickelte Minna sich recht erfreulich, das war die allgemeine Auffassung.
Eine ihrer Gewohnheiten bestand darin, anstelle ihres Körbchens das Sofa als Ruhestatt zu verwenden, nachdem es ihr einmal gelungen war, mit einer Mischung aus Sprung und Klimmzug auf dieses zu gelangen. Sofort machte sie es sich auf der einen Seite des Sofas bequem, während auf der anderen meine Frau saß. Der Abstand zwischen beiden war nicht sonderlich groß, und gelegentlich schien es, als werde er nach und nach immer kleiner.