Читать книгу In einer Nacht am Straßenrand - Ben Worthmann - Страница 4

2. Kapitel

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Als er aufstand, hatte Hanna bereits den Frühstückstisch auf der Terrasse gedeckt. Leonhard freute sich auf Kaffee und frische Brötchen. Die Dusche ließ er abermals ausfallen, putzte sich nur die Zähne und schlüpfte in Jeans und T-Shirt. In der Hosentasche stieß er auf das Pillendöschen. Er nahm es heraus und verstaute es in seiner Aktentasche. Er würde sich am Montag gleich darum kümmern.

Es war schon fast elf und wieder genau so warm wie am Tag zuvor. Marie und Paul saßen am Tisch und rangelten, wie beinahe jeden Morgen, um das Nutella-Glas. Von diesen kleinen Rangeleien gab es täglich einige, wirklich ernst waren sie so gut wie nie. Mit ihren zehn und zwölf Jahren waren sie beide noch ziemlich kindlich oder, wie Hanna zu sagen pflegte, „handsam“. Paul ging seit zwei Jahren zum Gymnasium, Marie würde nach den Sommerferien ebenfalls dorthin wechseln. Beide hatten sie ihre Freunde und Freundinnen. Paul spielte begeistert Fußball, Marie bekam Ballettunterricht. Ihre größte Sorge schienen momentan Fragen wie die zu sein, ob sie morgens lieber in Jeans oder Rock zur Schule ging und ob sie sich vielleicht einen Vollpony schneiden lassen sollte oder besser doch nicht. Mit dem Frühstück waren die beiden rasch fertig und verabschiedeten sich bis zum frühen Abend. Sie waren mit Kindern aus der Nachbarschaft verabredet.

„Komm, lass uns noch einen Kaffee trinken und eine rauchen“, schlug Leonhard vor, als sie weg waren. Hanna rauchte gern, aber immer mit schlechtem Gewissen. Seit einigen Jahren gönnte sie sich nur noch morgens eine ganze Zigarette. Die anderen sieben, acht rauchte sie nur halb und ohne zwischendurch die Asche abzustreifen, sodass sie pro Tag schlimmstenfalls auf fünf kam. Und die ließen sich vertreten, fand sie.

Sie hatte die nackten Füße auf die Sitzkante des Stuhls hochgezogen und den Kaffeebecher auf den Knien platziert. In ihren weißen Shorts und dem Trägertop wirkte sie besonders jung. Man sah ihr wirklich nicht an, dass sie siebenunddreißig und Mutter von zwei halbwüchsigen Kindern war. Leonhard dachte oft, dass sie sich in all den Jahren kaum verändert hatte. Immer noch war sie fast mädchenhaft schlank. Ihr kinnlanges, hellblondes, leicht gewelltes Haar glänzte in der Sonne. Sie schminkte sich kaum – etwas Puder auf die hohen Wangenknochen, das war's. Und natürlich Lippenstift, den benutzte sie mehrmals täglich. Leonhard hatte einmal mit angehört, wie Marie ihrer derzeit besten Freundin Pia erzählte: „Ohne Lippenstift kann meine Mutter nicht leben.“ Die Kleine hatte bestürzt gemeint: „Echt? Das ist ja schlimm.“

„Es ist ja gestern ganz schön spät geworden, ich habe gar nicht mehr gemerkt, wie du gekommen bist“, sagte Hanna, während Leonhard zwei Camel anzündete und ihr eine davon reichte.

„Ja, es nahm wieder mal kein Ende. Gerade, wenn ich dachte, wir hätten's gepackt, kam wieder irgendwas Neues rein oder jemand wollte etwas von mir. Dann hatten wir auch noch ein Computerproblem.“

„Na ja, jetzt hast du ja erst mal Pause, mein Lieber. Die hast du dir auch wirklich verdient.“

Nachdem Hanna den Tisch abgeräumt hatte, blieb er noch eine Weile sitzen. Er blickte auf den kleinen Garten und dachte wieder einmal, wie gut es doch gewesen war, dieses Haus damals zu kaufen, als die Immobilienpreise am Stadtrand noch erschwinglich waren. Es war ein Eckhaus und gehörte zu einer ehemaligen Werkssiedlung für die Arbeiter einer Fabrik, die es längst nicht mehr gab, und alle Häuser waren im Zuge der sogenannten Gentrifizierung hübsch restauriert worden, jeweils nach den Wünschen der neuen Besitzer. Ihres hatte abgezogene Dielen in dem großen Wohnraum mit Glaswand zum Garten, die Böden in Küche und Bad waren schwarz-weiß gefliest, die Wände mit dem etwas rauen Putz schlicht geweißt – ganz nach seinem und vor allem Hannas Geschmack, die ein Händchen für dergleichen besaß. Schließlich war sie Innenarchitektin. Alles passte zusammen und hatte seinen Platz. Hanna verstand es einfach, dafür zu sorgen, dass es behaglich war und sie sich wohl fühlen konnten, vor allem Leonhard, der sich nicht so sehr um diese Dinge kümmerte.

Als sie sich kennengelernt hatten, vor fast fünfzehn Jahren, steckte sie noch mitten in ihrem Studium, während er bereits bei der Zeitung angefangen hatte. Seit die Kinder da waren, übte sie ihren Beruf aber nicht mehr regelmäßig aus, sondern übernahm nur noch gelegentlich Aufträge. Die Summen, die dadurch zusätzlich in die Haushaltskasse kamen, waren dennoch beachtlich, und mehr als einmal hatte sich Leonhard bei heimlichen Kalkulationen ertappt, die besagten, dass Hannas Arbeit deutlich besser bezahlt wurde als seine eigene, auch wenn er mit seinem Gehalt zufrieden war.

Hanna kannte sich nicht nur mit Wohnungseinrichtungen aus, sie hatte auch den berühmten grünen Daumen. Entsprechend gepflegt sah der Garten mit seinen blühenden Blumenbeeten und üppigen Büschen aus. An der Seite zum Nachbargrundstück, das durch eine Hecke abgegrenzt war, gab es neuerdings ein schmales Nutzbeet, auf dem sie Erdbeeren angepflanzt hatte.

Der Rasen allerdings sah zurzeit nicht so gut aus, fand Leonhard. An einigen Stellen wucherte Löwenzahn, außerdem konnte er ruhig mal wieder gemäht werden. Und etwas Bewegung würde ihm selber auch ganz gut tun. Hanna ermahnte ihn bisweilen, ein bisschen mehr darauf zu achten. Hin und wieder joggte er ein paar Kilometer oder verbrachte eine halbe Stunde im Keller, wo ein Boxsack unter der Decke baumelte, den ihm die Kinder zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatten. Doch er musste sich ehrlicherweise eingestehen, dass er dabei keinen übermäßigen Ehrgeiz entwickelte. Sein Leben bestand nun einmal im Wesentlichen aus seiner Familie und dem „Morgenkurier“, viel Zeit und Energie für anderes blieb da kaum.

Vor einigen Jahren hatte er noch gelegentlich mit dem Gedanken gespielt, zu einer größeren Zeitung zu wechseln, um „richtig Karriere“ zu machen, wie Hanna es nannte. Aber diese Pläne hatten sich spätestens seit dem Hauskauf erledigt. Außerdem war er gern Reporter bei diesem zwar nicht sonderlich bedeutenden, aber solide und ordentlich gemachten Blatt, und seine neue zusätzliche Aufgabe im Online-Bereich empfand er nicht als belastend, im Gegenteil. Mit den größtenteils jüngeren Kollegen, die ihn wegen seiner Erfahrung schätzten, kam er gut aus. Aber wenn er es alles in allem betrachtete, musste er Hanna Recht geben, die, wie sie gern zugab, seine Umgänglichkeit zwar zu schätzen wusste, ihm bisweilen allerdings auch vorhielt, dass er zu leicht bereit sei, sich mit gewissen Dingen abzufinden, oftmals zu nachgiebig sei und sich dabei manchmal sogar etwas blauäugig verhalte.

Nach dem Mähen war er völlig durchgeschwitzt. Es war höchste Zeit, nun endlich ins Bad zu gehen. Er duschte lange und rasierte sich sorgfältig, wie immer nass. Hanna mochte es nicht, wenn sein Kinn stoppelig war. In letzter Zeit kam es ihm so vor, als würde sein Bart schneller nachwachsen. Vielleicht lag das ja am Alter, wenn man auf die Mitte der vierzig zuging.

Vor dem großen Badezimmerspiegel musterte er sich kritisch. Die ersten grauen Strähnen in seinem dunkelbraunen, noch relativ vollen Haar ließen sich nicht mehr übersehen. Er trug es ziemlich lang, sowohl im Nacken als auch über den Ohren, aus alter Gewohnheit und weil er ungern zum Friseur ging, egal, ob längeres Haar gerade wieder einmal der Mode entsprach oder nicht. Über sein Gesicht hatte Hanna einmal gesagt, es sehe ein bisschen so aus wie das von Kevin Costner, aber das war schon eine Weile her; inzwischen fand sie Costner nicht mehr so attraktiv, und er selber hatte nie verstanden, worauf diese Ähnlichkeit angeblich beruhte. Sein Gesicht war schmal und wies ein paar leichte Falten auf, und er hatte graublaue Augen, ähnlich wie Hanna. Den Anblick seines Körpers - gut mittelgroß, relativ kräftig, ohne Bauchansatz - fand er einigermaßen passabel, auch wenn er nicht allzu viel für seine Form tat. Zum Glück hatte er keinerlei Veranlagung zum Dickwerden.

Am Abend, nachdem die Kinder zurück waren, gingen sie alle zusammen zum Italiener, um Pizza zu essen. Später saßen Hanna und er noch lange draußen, bevor sie zusammen zu Bett gingen. Den Sonntag verbrachten sie ebenfalls zu Hause. Paul hatte sich mit ein paar Freunden zu einer Radtour aufgemacht, Marie war bei einer Freundin, die ihren Geburtstag feierte.

Nach dem Mittagessen zog sich Leonhard zum Lesen auf die Terrasse zurück und ließ die Markise so weit herunter, dass sie ihm in seinem Liegestuhl genug Schatten spendete. Und dann war das Wochenende auch schon fast vorbei – viel zu schnell.

In einer Nacht am Straßenrand

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