Читать книгу In einer Nacht am Straßenrand - Ben Worthmann - Страница 5

3. Kapitel

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Am Montagmorgen, kurz nach halb zehn, machte sich Leonhard auf den Weg zur Arbeit. Trotz des erholsamen Wochenendes fühlte er sich etwas lustlos und ohne rechten Antrieb. Er mochte die Montage nicht. Hanna mokierte sich manchmal, wenn er das allzu nachdrücklich betonte.

„Also tschüss, ich bin dann mal weg!“, rief er die Kellertreppe hinunter. Hanna sortierte leere Gläser, sie wollte Erdbeermarmelade einkochen. Vom Obstteller in der Küche schnappte er sich zwei Bananen und packte sie zusammen mit dem Handy in die Aktentasche. Dabei stieß er auf das Pillendöschen. Das ganze Wochenende über hatte er tatsächlich gar nicht mehr daran gedacht. Er steckte es in die Tasche seines hellen Leinensakkos, das er nur über den Arm nahm. Auch jetzt schon war es wieder viel zu warm, um mit mehr als einem Polohemd und Jeans am Leib aus dem Haus zu gehen.

Eine Viertelstunde später kam er in der Redaktion an. Sie befand sich am alten Marktplatz mit seinen historischen Häuserfronten und Kolonnaden und war in einem großen Gebäude untergebracht, das früher einmal einem wohlhabenden Kaufmann gehört hatte. An der ehrwürdigen Fassade prangte unübersehbar in Leuchtbuchstaben der Schriftzug „Morgenkurier“. Durch eine Toreinfahrt gelangte man in den Hof zur Druckerei und zu den Parkplätzen für die Beschäftigten. Es gab dort auch einen Anbau jüngeren Datums für die Verlagsverwaltung. Im Unterschied zu den meisten Kollegen arbeitete Leonhard nicht im Großraum, sondern hatte ein eigenes Büro. Es lag im dritten Stock, mit Blick auf den Marktplatz mit seinem Treiben und dem ewig plätschernden Brunnen in der Mitte.

Als er sein Sakko über den Stuhl hängte, klackte das Döschen gegen die Lehne und er überlegte, ob er jetzt sofort oder erst nach der Konferenz bei der Polizei anrufen sollte. Am besten erledigte er das jetzt gleich, sonst vergaß er es womöglich noch. Der Beamte, den er an den Apparat bekam, kannte ihn, so wie die meisten anderen im Präsidium auch. Er hatte dort einen guten Ruf und galt als absolut vertrauenswürdig. Ganz korrekt war es zwar nicht, die Daten einer Halterabfrage an Dritte weiterzugeben, aber in Leonhards Fall gab es da keine besonderen Bedenken. Der Beamte versprach, ihn später zurückzurufen.

Die Konferenz zog sich wieder einmal in die Länge. Gerd Weidemann, der Chefredakteur, hatte die Angewohnheit, sich gern reden zu hören, was ihn für seine Mitarbeiter ein bisschen anstrengend machte. Wie auf einem Thron saß er an der Stirnseite des langen Tischs, knapp sechzigjährig, wohlgenährt, mit ganzjähriger Bräune aus dem Solarium und wie immer im dreiteiligen Anzug. Wenn ihn jemand unterbrach, dann war er das meistens selbst – um Kunstpausen einzulegen und dabei auf einem Bügel seiner Lesebrille zu kauen.

Grundsätzlich kamen Leonhard und er ganz gut miteinander aus, aber ihr Verhältnis war manchmal ein wenig angespannt. Leonhard konnte sich vorstellen, woran das lag. Weidemann schien sehr wohl zu ahnen, dass sein Reporter Marthaler der bessere Journalist von ihnen beiden und außerdem viel beliebter bei den Kollegen war als er selbst. Leonhard seinerseits mochte nicht die Honoratiorenmentalität, diese etwas weihevolle Attitüde, die der Chefredakteur sich im Laufe der Jahre zugelegt hatte.

Die Konferenz näherte sich gerade ihrem von allen ersehnten Ende, als sich Leonhards Handy meldete. Er machte Weidemann ein Zeichen und verließ den Raum. „Also, die Frau heißt Nina Winkler, wohnhaft Rubensstraße 7 a. Aber, wie gesagt, von mir haben Sie das nicht, Sie wissen ja.“

Leonhard bedankte sich bei dem Beamten und setzte sich an seinen Computer, um den Namen zu googeln. Er fand ihn sofort im amtlichen Telefonverzeichnis, mit Festnetz- und Mobilnummer, und speicherte sie beide auf seinem Handy. Aber ansonsten war die Suche ziemlich unergiebig. Ein paarmal tauchte der Name in irgendwelchen Hochschulnetzwerken auf, und es gab auch ein Facebook-Profil, das aber vergleichsweise nichtssagend war und außer einem Porträtfoto und einigen belanglosen Posts so gut wie nichts über Nina Winkler verriet. Auf dem Foto hatte sie längere Haare und wirkte noch um einiges jünger. Leonhard fand es immer ganz angenehm, ja beruhigend, dass es noch Menschen gab, die im Internet Zurückhaltung übten. Er selber hielt es ebenso. Facebook kam für ihn nicht in Frage, jedenfalls nicht privat. Der „Morgenkurier“ war dort zwar präsent, das gehörte längst zum Standard und diente der Leser-Blatt-Bindung im digitalen Zeitalter, wie es hieß. Aber Leonhard postete dort selten und nicht besonders gern.

Mit der Online-Ausgabe der Zeitung war es etwa anderes. Er hatte dieses neue, schnelle, immer aktuelle Medium schnell zu schätzen gelernt, das die Printausgabe ergänzte und neue Leser anlockte, die sonst vielleicht überhaupt keine Zeitung gelesen hätten.

Er wählte Nina Winklers Festnetznummer und hatte sie gleich am Apparat. Sie meldete sich nur mit einem „Hallo, ja bitte?“.

„Hier ist Ihr nächtlicher Retter“, sagte er und nannte ihr seinen Namen. „Sie haben haben da am Freitag etwas verloren, das ich Ihnen zurückgeben möchte.“

Er hörte sie durchatmen. Sie antwortete nicht sofort.

„Ach, Sie sind das. Ja, mein Pillendöschen, ich habe es schon sehr vermisst. Ein Glück, dass Sie es gefunden haben“, sagte sie schließlich und klang dabei erleichtert.

„Wie wollen wir's machen? Sollen wir uns irgendwo treffen?“

„Ja, das wäre ganz gut.“

„Hier am Marktplatz gibt es dieses kleine Café an der Ecke. Ich könnte dort so gegen Mittag sein, sagen wir, um halb eins?“

Sie zögerte einen Moment.

„Ja, das passt auch bei mir“, sagte sie. „Und vielen Dank schon mal, ich freue mich. Bis gleich dann.“

Ihre Stimme klang freundlich, beinahe warm.

Leonhard fiel es nicht ganz leicht, sich anschließend auf seine Arbeit zu konzentrieren. Nur gut, dass das alles bisher eher nach Routinekram aussah. Er überflog die anderen Zeitungen, checkte seine Mails und sah die normale Post durch, die es auch immer noch gab.

Bevor er zur abgemachten Zeit hinunter zu dem Lokal ging, prüfte er noch einmal sein Äußeres im Toilettenspiegel, fuhr sich durchs Haar und vergewisserte sich, dass das Pillendöschen in der Tasche des Sakkos war, das er sich locker über die Schulter warf. Er war ein bisschen aufgeregt, als er im Café eintraf. Es war dort um diese Zeit immer sehr voll, aber er fand noch einen Tisch draußen unter einem der großen Sonnenschirme.

Nina Winkler kam mit ein paar Minuten Verspätung. Diesmal hatte sie kein Kleid an, sondern Jeans-Shorts und ein geripptes weißes Top. Es saß sehr eng, man konnte sehen, dass sie nichts darunter anhatte. Über der Schulter trug sie eine bunte geflochtene Tasche. Ihre Sonnenbrille hatte sie hoch in ihr kurzes Haar geschoben. Wieder fielen ihm ihr Gang und ihre Haltung auf - Anmut, gemischt mit einer gewissen schlaksigen Burschikosität, die jetzt von ihrem legeren Outfit noch unterstrichen wurde. Sie war wohl doch noch ein Stück weiter von den dreißig entfernt, als er zunächst am Freitagabend gedacht hatte.

Sie winkte ihm zu, als sie ihn entdeckt hatte. Er wollte aufstehen, um sie zu begrüßen, aber sie ließ sich sofort mit einem kleinen Seufzer auf den Stuhl gegenüber sinken und streckte ihre langen Beine aus. An den Füßen trug sie Ballerinas.

„Puh, ist das wieder eine Hitze“, stöhnte sie. Er hob die Hand, als die Bedienung vorbeikam. Nina Winkler ließ sich eine Cola bringen, er Wasser und einen Mokka. Sie mussten zum Glück nicht lange darauf warten.

„Sie sehen aus, als wollten Sie zum Strand. Aber den gibt’s ja hier leider nicht, nur den See“, sagte er und spürte eine leichte Verlegenheit.

„Mal gucken, vielleicht gehe ich gleich noch schwimmen.“

„So gut möchte ich es auch haben. Müssen Sie denn nicht arbeiten?“

„Sie sind wohl ein bisschen neugierig, was?“

Da war er wieder, dieser plötzlich etwas kokette Unterton, wie am Freitagabend.

„Berufskrankheit.“

„Hui, das klingt ja geheimnisvoll.“

„Das müssen Sie gerade sagen.“

„Wie meinen Sie denn das nun? Übrigens, wie haben Sie mich überhaupt ausfindig gemacht? Wir haben uns einander ja nicht mal vorgestellt.“

„Beziehungen, ein Anruf genügt.“

„Nein, jetzt mal im Ernst“, sagte sie und wirkte leicht verunsichert.

Leonhard wies auf das Gebäude des „Morgenkurier“ schräg gegenüber.

„Mein Arbeitsplatz ist dort.“

„Sie sind bei der Zeitung? Reporter oder so?“

„Genau“, sagte er und konnte es nicht lassen, noch hinzuzufügen: „Vielleicht haben Sie ja meinen Namen schon einmal gelesen.“

Sie blickte ihn ernst und ein bisschen forschend an, ging aber nicht darauf ein. Ihre Augen waren von einem sehr dunklen Grün.

Er wollte jetzt eine rauchen. Er nahm seine Zigarettenschachtel aus der einen Tasche des Sakkos, das er über den Stuhl gehängt hatte, aus der anderen holte er das Pillendöschen hervor und legte es ihr hin.

„Hier, damit wir das Wichtigste nicht vergessen.“

Sie griff rasch danach und ließ es sofort in ihrer bunten Tasche verschwinden.

„Vielen Dank“, sagte sie und errötete leicht.

„Wer ist denn eigentlich B.B.?“, fragte er und bot ihr eine Zigarette an, bevor er sich selbst eine anzündete. Sie hielt ihre vorsichtig zwischen ihren schmalen Fingern, nicht wie eine geübte Raucherin. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihre Nägel nicht mehr rot lackiert waren. Einen Ehering trug sie nicht.

„Brigitte Bardot, Bert Brecht oder Benjamin Brittain ja wohl eher nicht“, versuchte er es, als sie nicht auf seine Frage reagierte.

„Nun seien Sie mal nicht zu neugierig, Herr Reporter“, sagte sie und klang plötzlich ein bisschen schnippisch.

„Na ja, ich weiß ja so gut wie nichts über Sie – nur, dass Sie einen schicken offenen Zweisitzer fahren und manchmal abends anhalten müssen, weil ihnen etwas flau ist.“

„Ach, das...“ Sie verzog leicht das Gesicht.

„Und was machen Sie sonst so?“

„Im Moment, ehrlich gesagt, gar nichts. Ich habe erst kürzlich mein Medizinstudium beendet und bin jetzt auf Jobsuche. Hab mir ein bisschen viel Zeit gelassen damit.“

Sie bemerkte offenbar seinen fragenden Blick.

„Als Nächstes wollen Sie wahrscheinlich wissen, wieso eine Langzeitstudentin einen Sportwagen fährt. Nun, ich werde von zu Hause großzügig subventioniert. Verwöhntes Einzelkind und so.“

Sie sagte das mit einem etwas spöttischen Lächeln.

„Und Ihre Eltern, wohnen die ebenfalls hier?“

„Nein. Und ich habe bis vor Kurzem auch nicht hier gewohnt. Schließlich gibt’s ja hier keine Uni.“

Sie drückte ihre Zigarette aus und schwieg. Leonhard hätte sie gern gefragt, weshalb sie hierher gezogen war und auch noch einiges mehr. Aber er hatte das Gefühl, dass seine Fragen ihr nicht besonders angenehm waren. Und sie wiederum schien auch nicht daran interessiert zu sein, ihm weitere Fragen zu stellen, beispielsweise, ob er Kinder hatte oder wie lange er schon verheiratet war. Ihr konnte ja wohl kaum entgangen sein, dass er einen Ehering anhatte. Und er arbeitete bei der Zeitung. Das allein machte die meisten Menschen neugierig.

„Halte ich Sie eigentlich nicht von der Arbeit ab?“, fragte sie nur.

„Nein nein, keine Sorge, so sehr eilt das nicht.“

Gern hätte er sich länger mit ihr unterhalten, und zwar richtig. Er merkte, dass es ihm gefiel, mit ihr zusammen hier zu sitzen. Sie war, nun ja, irgendwie interessant – ganz abgesehen von ihrer unbestreitbaren Attraktivität.

„Aber ich glaube, ich muss auch mal so allmählich los.“ Sie begann in ihrer Tasche zu kramen und holte ihr Portemonnaie hervor.

„Lassen Sie mal, ich mache das schon“, sagte Leonhard und setzte dann, ohne recht zu wissen, weshalb, hinzu:. „Was meinen Sie, sehen wir uns mal wieder?“

„Weiß man's?“, sagte sie und blickte ihm ein paar Sekunden voll ins Gesicht. Ihre Augen waren schön. Nicht nur ihre Augen.

Dann stand sie auf, er ebenfalls, und sie gaben einander die Hand. Ihre fühlte sich schmal und weich an, doch der Druck war fest.

„Und vielen Dank noch einmal für alles.“

Er blieb noch sitzen, um zu bezahlen, und sah ihr nach. Auch von hinten sah sie wirklich gut aus.

Für die paar Schritte zurück in die Redaktion ließ er sich viel Zeit.

In einer Nacht am Straßenrand

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