Читать книгу Das Grab der Lüge - Ben Worthmann - Страница 5
2.
ОглавлениеIn letzter Zeit hatte Philipp viel über sich und sein Leben nachgedacht und darüber, wie es knapp dreiundvierzig Jahre lang verlaufen war, bis es dann plötzlich und ganz unverhofft eine solch abrupte, verrückte Wende genommen hatte. Aber gesprochen hatte er darüber bisher mit niemandem. Der Boden war ihm unter den Füßen weggerissen worden, er hatte in den Abgrund geschaut und nicht mehr ein noch aus gewusst. Und jetzt war er ein wohlhabender Mann, mit Grundbesitz und dickem Bankkonto, wohnte wieder in einer Kleinstadt ähnlich jener, aus der er damals nach dem Abitur förmlich geflohen war, um ihrer Enge zu entkommen, und mindestens einmal pro Tag ertappte er sich bei dem Gedanken, dass das alles doch nur ein großer Irrtum sein konnte. Über kurz oder lang würde gewiss jemand kommen und ihn bei der Schulter packen und wachrütteln und sagen: „Hey, alter Junge, sorry, du bist hier leider im falschen Film gelandet.“ Doch genau das geschah eben nicht.
Begonnen hatte es damit, dass er praktisch wie aus heiterem Himmel seinen Job verloren hatte. Aber im Nachhinein besehen war das noch wahrlich das Geringste. Er war nie ein Karrierist gewesen. Anna, seine Freundin, hatte sogar manchmal gemeint, etwas mehr beruflicher Ehrgeiz könne bei ihm nicht schaden. Doch er selbst fand das nicht, er war überzeugt, dass er es eigentlich ganz gut getroffen hatte. Schon früh hatte für ihn festgestanden, dass er sein Geld mit einer geistigen Arbeit verdienen wollte, am besten mit Schreiben oder zumindest durch irgendeine Art von Beschäftigung mit Texten – nicht gerade das Übliche in dem Städtchen, aus dem er stammte und auch nicht das, was man wohl eher von ihm erwartet hatte, wenn er denn schon die nicht unbedingt selbstverständliche Chance bekam zu studieren. Seine Eltern, ein Lehrerehepaar, hatte er schon als ganz kleiner Junge durch einen Unfall verloren, ohne sie je wirklich kennengelernt zu haben, und war dann bei den Großeltern aufgewachsen, die inzwischen auch längst tot waren.
Sein Großvater hatte einen kleinen Tischlereibetrieb gehabt, ein hart arbeitender Mann mit wenig Sinn für das, was Philipp interessierte. Von der Großmutter war er verhätschelt worden.
Ohne zunächst genau zu wissen, was er damit anfangen würde, hatte er Germanistik und Kulturwissenschaften studiert, wobei ihn das Studentenleben in der Großstadt bisweilen kaum weniger in Anspruch nahm als das Studium selbst. Auch darüber hatte sich Anna manchmal mokiert, die so viel zielstrebiger und pflichtbewusster war. Immerhin war er danach als Lektor in einem Wissenschaftsverlag untergekommen, um dann, nach einigen Jahren, noch einmal umzusatteln und Journalist zu werden.
Er hielt sich einiges darauf zugute, es beim „Morgenkurier“ zum Feuilletonchef gebracht zu haben, und das als Quereinsteiger, wie er gern betonte. Es handelte sich, wie er selbst zugeben musste, um ein ordentlich gemachtes Blatt, aber mehr im Grunde auch nicht. Manchmal gab es deswegen kleinere Reibereien zwischen ihm und Anna, die ihm immer wieder vorhielt, er könne und müsse mehr aus seinen Möglichkeiten machen, zu einer „richtigen großen Zeitung“ gehen, wie sie es ausdrückte. Er neige dazu, sich zu rasch abzufinden und zufriedenzugeben, und das wisse er selber insgeheim auch sehr wohl, sagte sie. Womöglich ahnte er es selbst, aber er hätte es nur ungern zugegeben. Und wenn schon, was war denn daran so schlimm, mit seinem Leben einigermaßen zufrieden zu sein und keine allzu großen Anforderungen zu stellen, vor allem nicht in materieller Hinsicht?
Manchmal fand er die Art, wie Anna dieses Thema behandelte, ein wenig anstrengend. Aber, nun ja, sie war nun mal Psychologin, hatte eben ihr Studium mit Bravour abgeschlossen und voller Stolz ihre erste Stelle in einer großen therapeutischen Praxis angetreten. Da musste er es ihr wohl nachsehen, dass sie ihn hin und wieder als eine Art Versuchskaninchen betrachtete, wie er scherzhaft sagte. Immerhin attestierte sie ihm auch jederzeit gern, dass er ein „ziemlich gebildeter und gutaussehender Mann“ sei. Das mache dann einiges andere wieder wett. Meistens endeten solche Diskussionen letztlich damit, dass sie beide lachen mussten.
Anna war gerade dreißig geworden, also gut ein Dutzend Jahre jünger als er. Aber schon bald, nachdem sie wenige Wochen nach dem Kennenlernen vor gut drei Jahren zu ihm in seine Altbauwohnung gezogen war, hatte er die Erfahrung gemacht, dass der Altersunterschied zwischen ihnen keine sonderlich große Rolle spielte. Gelegentlich kam es ihm sogar so vor, als sei sie mit ihrem Realitätssinn und Alltagspragmatismus die Lebensklügere von ihnen beiden, während er, „der Herr Feuilletonist“, wie sie ihn manchmal titulierte, in ihren Augen dazu neigte, „ein bisschen in den Wolken zu schweben.“
Dabei gab es Zeiten, in denen sie weniger energisch und lebhaft wirkte als sonst und sich förmlich in sich zurückzuziehen schien. Dann wurde sie sehr schweigsam, schien beinahe bemüht, ihm aus dem Wege zu gehen.
Doch dann erledigte sich eines Tages alles - ihr Reden, ihr Schweigen und auch sein berufliches Dasein.